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Veröffentlicht am 09.10.2021

Robin Hood 2030

Reality Show
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Robin Hood 2030

Inhalt:
Weihnachten, Anfang der 2030er Jahre:
Im Fernsehen läuft nicht etwa „Dinner for One“ oder „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“. Eine Gruppe anonymer Aktivisten hat öffentlich-rechtliche ...

Robin Hood 2030

Inhalt:
Weihnachten, Anfang der 2030er Jahre:
Im Fernsehen läuft nicht etwa „Dinner for One“ oder „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“. Eine Gruppe anonymer Aktivisten hat öffentlich-rechtliche wie auch private Sendeanstalten gekapert. Die „Reality Show“ läuft auf allen Kanälen.
Die Protagonisten sind nicht etwa die üblichen Trash-TV-Größen, sondern 42 Geiseln, welche die Gruppierung an diesem Abend in ihre Gewalt gebracht hat. Die zehn reichsten und einflussreichsten Menschen Deutschlands und ihre Familien werden in ihren Häusern gefangen gehalten. Sie sollen live vor ein Gericht gestellt werden. Millionen von Menschen werden darüber urteilen, ob und wie ihre Verbrechen zu verteilen sind.

Meine Meinung:
Die Frage, die sich mir beim Lesen von „Reality Show“ am allermeisten gestellt hat, war: „Wie viel von alldem ist Fiktion?“ Ich habe keine Vorstellung davon, in welche Form von Verbrechen die Eliten unseres Landes wirklich verstrickt sind, oder ob das Legendenbildung ist.
Darüber hinaus wirft das neue Buch von Anne Freytag aber auch viele andere Fragen auf. Zum Beispiel: Was darf man im Namen der Gerechtigkeit?
Die Gruppe, die hinter der Reality Show steckt, bezeichne ich im Folgenden als Terroristen. Das Buch nutzt diesen Begriff nicht. Aber genau das ist es, was sie sind. Terroristen, die Verbrechen begehen im Namen einer Ideologie, einer Weltanschauung, an die sie glauben. Und dabei sind sie mir unglaublich sympathisch. Denn man kann nicht anders, als das, was sie tun, gut und richtig zu finden. Märchenhaft ritterlich das eigene Leben und die eigene Freiheit für das Wohl der Gesellschaft auf’s Spiel zu setzen. Einmal habe ich mir beim Lesen sogar gewünscht, eine solche Show würde es wirklich geben.
Das Buch erzählt die Geschichte eines Heiligabends. Mit jedem neuen Kapitel wird die Perspektive und manchmal auch die Zeitebene gewechselt. Sehr sehr viele Personen agieren: Terroristen, Geiseln, Zuschauer, Polizei. Manchmal sind mir das zu viele gewesen, bzw. zu wenig Buch für zu viele Menschen, die sich zwischen den Seiten drängen. Ich musste immer wieder nachsehen, wer jetzt nochmal wer war, welche Geschichte zu welchem Namen gehört. Mir hätte es besser gefallen, wenn die einzelnen Schicksale etwas tiefer ausgearbeitet worden wären, so ist für mich einiges unaufgeklärt geblieben. Auch im Bezug auf die Logik bin ich nicht immer hinterher gekommen. Ich denke, das liegt an den zahlreichen harten Cuts, die die Geschichte macht. Manchmal bin ich mir nicht sicher gewesen, ob ich eine Auflösung richtig verstanden habe, dann bin ich ein paar Kapitel zurückgegangen, habe nochmal gelesen und es immer noch nicht verstanden. Dadurch bleibt bei mir eine Art Druck bestehen, ein Drang zur Erklärung, der unbefriedigt ist.
Nichtsdestotrotz ist „Reality Show“ ein sehr besonderes Buch mit einem überaus dichten Spannungsbogen. Es zeichnet eine düstere Version vom zukünftigen Deutschland, die ich aus heutiger Perspektive ziemlich realistisch finde.
Anne Freytag gehört zu meinen Lieblingsautorinnen, insbesondere weil ich ihre Sprache so wunderschön finde. Am besten ist sie für mich, wenn sie Emotionen und zwischenmenschliche Beziehungen beschreibt, das ganz besonders auch in den Kernmomenten eines Romans. Die Szenen, in denen die Geschichte knackt vor Spannung, in denen es richtig wichtig wird. Das kann sie einfach und das wird auch in „Reality Show“ deutlich. Doch obwohl mich das Buch inhaltlich so sehr abgeholt hat und ich es kaum aus der Hand legen konnte, ist es nicht mein Lieblingsbuch von ihr. Dazu hat es zu viel angedeutet, mich an zu vielen Stellen gelockt und diese Teilgeschichten dann nicht richtig zu Ende erzählt.

Fazit:
„Reality Show“ ist ein absolut lesenswertes Buch voller (berechtigter) Systemkritik. Ein Buch für Idealisten, das den Wunsch nach Veränderung aufleben lässt, wenngleich man ich mich selbst von der Wucht der Ungerechtigkeit unserer Gesellschaft ein wenig erschlagen gefühlt habe. Ich finde, dass diese Wucht des Themas ein dickeres Buch und eine detaillierter Abhandlung gebraucht hätte, um sich wirklich vollends entfalten zu können.

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Veröffentlicht am 25.08.2021

Ein Buch zum Liebhaben

Bevor ich dich sah
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Inhalt:
Früher einmal gab es nur die Arbeit im Leben von Alice. Doch nun liegt sie in einem Londoner Krankenhaus und von dem Menschen, der die geglaubt hatte zu sein, scheint kaum noch etwas übrig. Bei ...

Inhalt:
Früher einmal gab es nur die Arbeit im Leben von Alice. Doch nun liegt sie in einem Londoner Krankenhaus und von dem Menschen, der die geglaubt hatte zu sein, scheint kaum noch etwas übrig. Bei einem Feuer in Alices Büro ist ihre linke Körperhälfte schwer verbrannt worden. Sie hat bereits zahlreiche Hauttransplantationen hinter sich, aber im Spiegel betrachten kann sie sich immer noch nicht. Außerdem möchte sie mit allen Mitteln verhindern, dass andere Menschen sie sehen können. Als sie in ein Mehrbettzimmer auf der Rehastation verlegt wird, fordert sie deshalb, dass ihr Bett mit einem dichten Vorhang von den anderen Patienten abgeschirmt werden soll.

Alices Bettnachbar ist Alfie, ein ehemaliger Sportlehrer, der bei einem Autounfall ein Bein verloren hat. Alfie sieht immer die guten Seiten im Leben, auch wenn dieses noch so ungerecht sein mag. Er lacht gerne, kommt ständig auf verrückte Ideen und vor allem ist er fest dazu entschlossen, seine geheimnisvolle neue Nachbarin aus der Reserve zu locken.

Obwohl keiner der beiden den anderen sehen kann, entsteht in den folgenden Tagen und Wochen eine intensive Beziehung zwischen Alice und Alfie, die sich in langen Nächten, vereint in ihrem Schicksal und getrennt durch eine Lage Stoff, ihre intimsten Geheimnisse anvertrauen.

Meine Meinung:
Wenn ein Buch im medizinischen Umfeld spielt, nehme ich es jedes Mal sehr genau unter die Lupe. „Bevor ich dich sah“ stand schon vor seinem Erscheinen auf meinem Wunschzettel. Die Idee zu diesem Liebesroman hat mich sofort begeistert. Doch obwohl ich angetreten bin, um „Bevor ich dich sah“ zu lieben, konnte es meinen Erwartungen letztendlich leider nicht ganz gerecht werden.

Ich würde sagen: „Bevor ich dich sah“ ist ein Buch zum Liebhaben. Die Geschichte will einfach so viel Gutes, dass man sie nur mögen kann. Sie will etwas so Besonderes erzählen. Eine Liebesgeschichte, die in einer schlimmen Lebenskrise ihren Anfang nimmt, in der Äußerlichkeiten überhaupt keine Rolle spielen. Wenn das nicht mal grandios ist! Das Problem liegt in der Umsetzung.

Obwohl mir die Geschichte von Alice und Alfie mehrfach Tränen in die Augen getrieben hat, haben die Haupt- sowie Nebencharaktere etwas Stereotypes, im Ansatz Überzeichnetes, an sich. Es fehlt eine gewisse Tiefe. Ich habe lange überlegt, woran das liegen könnte. Ein Teil des Problems ist sicherlich, dass die Autorin ab und zu im Ausmaß der Katastrophen übertreibt. Ich finde, wenn man so viel Drama in ein einziges Buch steckt, muss man aufpassen, dass der Plot darunter nicht zu plump und unglaubhaft wird.

Grundsätzlich sollte „Bevor ich dich sah“ wie ein Märchen gelesen werden. Denn aus medizinischer Sicht werden hier viele Aspekte sehr unrealistisch, bzw. falsch dargestellt. Meist bemühe ich mich ganz bewusst darum, beim Lesen nicht zu genau hinzusehen, wenn es um die Darstellung von medizinischen Sachverhalten oder des Gesundheitswesens geht. Ein Roman ist eben Fiktion und kein Sachbuch. Dementsprechend versuche ich meine Erwartungen anzupassen. Leider ist mir das in diesem speziellen Fall oft schwer gefallen. Die Backstory der Protagonistin ist beispielsweise grundlegend medizinisch falsch. Darüber kann man hinwegsehen oder nicht, das muss jeder Leserin für sich selbst entscheiden. Sehr befremdlich fand ich außerdem, dass die betreuende Krankenschwester von Alice und Alfie ihre Patient*innen ständig mit „Baby“ anspricht. Vielleicht bin ich zu sehr geprägt von deutschen Krankenhäusern (von britischen habe ich keine Ahnung), aber das kommt mir so absurd vor. Vielleicht ist das auch eine Frage der Übersetzung,

Der Schreibstil der Autorin ist klar und angenehm, aber mir hat die Atmosphäre etwas gefehlt. Das Buch wird hauptsächlich durch Dialoge geprägt. Diese fand ich allerdings sehr witzig und einfallsreich! Generell steckt „Bevor ich dich sah" voller ungewöhnlicher Einfälle. Alice und Alfie habe ich trotz der Schwächen in ihrer Ausarbeitung sehr lieb gewonnen. Auf emotionaler Ebene hat mich das Buch definitiv erreicht.

Fazit:
Ich hoffe, ich habe den richtigen Ton in meiner Rezension getroffen. Ich mochte das Buch. Es hat mich im Herzen erreicht und berührt. Aber unabhängig davon hatte es Schwächen, die dafür gesorgt haben, dass es unter seinen Möglichkeiten zurückgeblieben ist. Ich würde es trotzdem weiterempfehlen, besonders für diejenigen, die Liebesromane vor allem auf der Gefühlsebene lesen.

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Veröffentlicht am 14.05.2021

Lüge, Lüge

Lila, Lila
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„Lila, Lila“ ist mein erster Roman von Martin Suter gewesen. Bookstagram hat mich influenced, nachdem ich den Film vor Jahren beim Rumzappen entdeckt und irgendwie in Erinnerung behalten hatte, dass mir ...

„Lila, Lila“ ist mein erster Roman von Martin Suter gewesen. Bookstagram hat mich influenced, nachdem ich den Film vor Jahren beim Rumzappen entdeckt und irgendwie in Erinnerung behalten hatte, dass mir der Flair gefallen hat. Ja, und Daniel Brühl. Der auch natürlich.
Nachdem ich den Roman beendet hatte, habe ich mir deshalb auch den Film noch einmal angesehen. Wundert euch also nicht, wenn es den ein oder anderen Querverweis in der Rezension gibt. Ich habe nämlich an Buch und Film gemerkt, wie sehr sich meine Wahrnehmung in der Vergangenheit verändert hat.

Inhalt:
David Kern arbeitet als Kellner im „Esquina“, einer urigen Kneipe mit vielen Stammgästen. Was er sonst noch mit seinem Leben anfangen möchte, weiß David nicht. Er ist ein unsicherer Typ, stolpert ein wenig unbeholfen durch’s Leben und fühlt sich oft von einem ganz bestimmten Stammgast herabgesetzt. Eines Abends taucht Marie im Esquina auf. Marie ist schön und sie liebt Literatur. David ist sofort verzaubert und gleichermaßen entsetzt, als eben dieser Stammgast es schafft, Marie mit seinem literarischen Sachverstand für sich zu gewinnen. Als er durch Zufall in der Schublade eines alten Nachtschranks, den er einem Trödelhändler abgekauft hat, das Schreibmaschinen geschriebene Manuskript eines Romans findet, der ihn beim Lesen zu Tränen rührt, erkennt David seine Chance. Er gibt das Manuskript Marie und tut so als wäre er selbst der Autor. Die Lüge gerät schnell außer Kontrolle, denn Marie ist so begeistert, dass sie die Geschichte, die anfangs noch „Sophie, Sophie“ und später dann „Lila, Lila“ heißt, an einen Verlag sendet. Schnell verliebt sich nicht nur Marie in David, sondern die ganze Literaturszene. Aus ihm wird jemand, der er gar nicht ist - ein Bestsellerautor. Aber Lügen haben kurze Beine, nicht?

Meine Meinung:
In „Lila, Lila“ geht es um den Verlust von Identität. Wer ist David Kern eigentlich? Nicht mehr der Kellner, aber auch nicht der Bestsellerautor. Und erst recht nicht der Mann, in den sich Marie verliebt, weil es diesen Mann nämlich gar nicht gibt.
Was ich so spannend fand: Als ich mir den Film damals angesehen habe, war das, was David tut, für mich eine kleine Lüge, die unverhofft außer Kontrolle gerät. Als ich nun den Roman gelesen habe, war meine Wahrnehmung ganz anders. Auf einmal kam mir Davids Handeln unentschuldbar vor. Ein riesiger Betrug. An Marie, am Verlag, der Presse, den Leser*innen. Es hätte früh in der Geschichte unzählige Gelegenheiten gegeben, die Lüge aufzuklären. David hätte sie aufklären müssen. Aber er war zu schwach dazu. Und diese Schwäche hat ihn für mich zum Anti-Helden gemacht, für den ich selten Sympathie, meistens höchstens Mitleid empfunden habe. Auch seine Liebe zu Marie fand ich jetzt nicht mehr süß, sondern obsessiv und befremdlich. Er ist so besessen davon sie für sich zu gewinnen und bei sich zu behalten, dass er mit allen Mitteln sein Lügengerüst aufrecht erhalten will, um die Beziehung zu retten, die er auf dieses Fundament gebaut hat. Nicht nur einmal wollte ich Marie zu rufen, dass sie sich besser schnell aus dem Staub machen soll. Aber auch sie war mir beim Lesen fremd und eher unsympathisch, weil sie sich so sehr von „dem Autor David Kern“ angezogen fühlt. Inwieweit auch der Mensch für sie interessant ist, erfährt man gar nicht so richtig.
Ich mochte Martins Suters Schreibstil. Diesen Early-Zweitausender-Flair zwischen Nachtleben und Literaturbetrieb. Die Einblicke in das Verlagsgeschäft waren zudem sehr interessant. Dafür kratzt die Geschichte auf der Gefühlsebene nur an der Oberfläche. David und Marie als Paar konnte ich nicht wirklich spüren. Der Text ist mehr damit beschäftigt, Davids Betrug weichzuspülen, indem manche Szenen und Figuren überzeichnet dargestellt werden. Die Geschichte hat mich nicht nur zum Kopfschütteln, sondern auch zum Grinsen gebracht.
Den Verlauf der Handlung fand ich trotzdem spannend. Ich habe das Buch in sehr kurzer Zeit gelesen und wollte unbedingt wissen, welches Schicksal David am Ende ereilt. Zuerst findet er sich immer mehr in seiner neuen Rolle als Autor ein, verschmilzt schon fast mit ihr, bis dann etwas geschieht, dass ihn auf den Boden der Tatsachen zurückholt. Hier hätte ich mir aber mehr Konsequenz vom Buch gewünscht. Was das Ende betrifft bin ich nach wie vor unschlüssig. Einerseits war ich froh, andererseits hat mir etwas Wesentliches gefehlt, wieder andererseits fand ich alles sehr rund und wenig vorhersehbar.

Fazit:
„Lila, Lila“ ist ein sehr besonderer Roman mit einer ganz eigenen Stimmung. Er wird mir definitiv noch lange im Gedächtnis bleiben und ich bin froh mich nochmal mit der Geschichte auseinandergesetzt zu haben. Auch weil ich dadurch gemerkt, habe, wie sich mein eigenes Verständnis von Moral im Laufe der Zeit verändert hat: Was man im Namen der Liebe tun darf, was man entschuldigen kann und was nicht.

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Veröffentlicht am 28.03.2021

Frau ohne Flügel

Die Harpyie
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„Die Harpyie“ ist mir schon vor Wochen bei den Neuerscheinungen aufgefallen. Das Cover ist wunderschön und obwohl ich eigentlich selten düstere Bücher lese, fand ich die Idee hinter der Geschichte absolut ...

„Die Harpyie“ ist mir schon vor Wochen bei den Neuerscheinungen aufgefallen. Das Cover ist wunderschön und obwohl ich eigentlich selten düstere Bücher lese, fand ich die Idee hinter der Geschichte absolut bestechend.

Inhalt:

Lucy lebt mit ihrem Ehemann Jake und den gemeinsamen Söhnen in einem gemieteten Haus in der Vorstadt. Sie arbeitet als freie Texterin von Zuhause aus und hat mehr oder weniger viele Aufträge. Ihre Doktorarbeit über die mythische Sagengestalt der Harpyie hat sie vor vielen Jahren aufgegeben. Eines Abends erhält sie einen Telefonanruf vom Ehemann einer Arbeitskollegien von Jake. Er soll Lucy mit dessen Frau Vanessa betrogen haben. Für Lucy bricht eine Welt zusammen und gleichzeitig breitet sich eine innere Dunkelheit in ihr aus. Nachdem sie Jake kurz darauf beim Fernsehen absichtlich mit ihrem Fingernagel kratzt, schließen die beiden einen Pakt: Lucy darf Jake dreimal verletzen. Danach sind sie quitt.

Meine Meinung:

„Die Harpyie“ lässt mich sprachlos zurück. Es fällt mir schwer meine Gedanken zu der Geschichte zu ordnen.

Das wohl herausragendste Merkmal des Buchs ist die Sprache. Sie ist extrem bildlich und dunkel poetisch. Es finden sich viele kurze Sätze, die mit wenigen Satzzeichen aneinander gereiht werden. Der Rhythmus erinnert mich an einen Rapsong. Der Text wirkt irgendwie atemlos. Gleichzeitig werden einzelne Szenen bis ins kleinste Detail ausgeleuchtet und man hat das Gefühl, die Handlung ist mit Kaugummi verklebt. Trotzdem ist es zu jeder Zeit spannend. Mir hat der Stil, den die Autorin gewählt hat, extrem gut gefallen. Ebenso mochte ich die Einschübe, die immer wieder zwischen die Kapitel gestreut werden. In kurzen Textabschnitten erfährt man Bruchstückhaftes über Lucys Beziehung zur Harpyie.

Die Betonung liegt hier vor allem auf „bruchstückhaft“. Denn der sehr spezielle Schreibstil hat zur Folge, dass der Leser Informationen in Form von einzelnen Puzzleteilen erhält und dabei Vieles, das für das Grundverständnis von Lucys Situation wichtig wäre, verloren geht.

Beim Lesen hatte ich das Gefühl, dass die Bilder zur Geschichte vor meinem inneren Auge verschwommen bleiben. Ich sehe alles entweder hyperdeutlich oder nur schemenhaft.

Daher ist es mir schwergefallen, die Grundaussage der Geschichte zu begreifen. Es geht auf jeden Fall um weibliche Unterdrückung und um die Rolle der Frau in der Familie. Lucy fühlt sich in dieser Rolle so eingeengt, dass sie daran zu zerbrechen droht. Sie wird regelrecht verrückt.

Und das ist ein entscheidende Punkt! Lucy zeigt Anzeichen für eine psychische Erkrankung. Deswegen benötigt diese Geschichte in meinen Augen dringend eine deutliche Triggerwarnung.

Lucy als Protagonistin kann einem nur Leid tun. Jake bleibt mir ein Rätsel. Warum er sich auf eine so gefährliche Sache einlässt, konnte ich nicht nachvollziehen. Er wirkt kindlich, unreif und entspricht definitiv nicht dem Klischee eines „starken Mannes“.

Wenn man sich für das Buch interessiert, sollte man vorher wissen: „Die Harpyie“ ist keine Erzählung über eine Frau, die sich von Geschlechterklischees befreit. Lucy ist und bleibt Opfer.

Das Ende ist allerdings sehr bildlich und metaphorisch geschrieben, sodass sehr viel Interpretationsspielraum vorhanden ist.

Fazit:

„Die Harpyie“ ist ein düsterer, spannender und kurzweiliger Roman, der viel Interpretationsspielraum zulässt. Ich hätte mir aber eine klarere Aussage gewünscht. Viele Themen werden angerissen, aber die Kernaussage nicht richtig definiert. Ich mag die Vermischung von Wirklichkeit und Mythologie. Aber wie genau das passiert, wird zu wenig erklärt, sodass ich den Hintergrund nicht wirklich erfassen konnte.

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Veröffentlicht am 07.03.2021

Die andere Seite der Verzweiflung

Die Mitternachtsbibliothek
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Achtung: Diese Rezension kann Spuren(!) von Spoilern enthalten!

Die Leseprobe zu „Die Mitternachtsbibliothek“ habe ich gelesen noch bevor der große Hype losgebrochen ist. Danach war ich fest überzeugt, ...


Achtung: Diese Rezension kann Spuren(!) von Spoilern enthalten!

Die Leseprobe zu „Die Mitternachtsbibliothek“ habe ich gelesen noch bevor der große Hype losgebrochen ist. Danach war ich fest überzeugt, dass ich das Buch kaufen muss. Bei Geschichten dieser Art erwartet man sich ja immer irgendetwas Besonderes für das eigene Leben. Eine große Erkenntnis, einen Gedanken, den man neu begreift.
Neue Denkanstöße habe ich definitiv gewonnen, aber ich weiß nicht, ob sie mich am Ende weitergebracht haben. Ehrlich gesagt, bin ich mir abschließend nicht sicher, ob ich das Buch verstanden habe.

Inhalt:
Nora Seed ist 35 Jahre alt und depressiv. Eine Kaskade von negativen Ereignissen führt dazu, dass sie sich in ihrer Wohnung mit einem Cocktail aus Alkohol und Tabletten das Leben nimmt. Nach ihrem Suizidversuch landet sie in einer Zwischenwelt, irgendwo an den Rändern von Leben und Tod. An diesem fremden Ort, der gleichzeitig ein Teil ihrer selbst ist, existiert eine endlos große Bibliothek, in der es immer Mitternacht ist. In der Mitternachtsbibliothek findet sich ein unerschöpfliches Kontingent an Büchern. Jedes dieser Bücher enthält ein Leben, welches Nora hätte leben können, wenn sie sich in ihrem Ursprungsleben an einer bestimmten Stelle anders entschieden hätte. Die Mitternachtsbibliothek gibt ihr nun die verführerische Möglichkeit sich auf die Suche nach genau dem Leben zu machen, das sie am glücklichsten macht. Solange ihr Körper nicht stirbt, hüpft Noras Seele also von Leben zu Leben, in der Hoffnung eines zu finden, in dem sie bleiben will.

Meine Meinung:
Ich weiß nicht, ob ich die Kernaussage der Geschichte erfasst habe. Das ist der Punkt, über den ich am meisten nachgedacht habe, seitdem ich das Buch beendet habe.
Da sind all diese Leben, die Nora durchläuft und ich glaube, Matt Haig ging es darum, deutlich zu machen, dass es in jedem Leben Trauer und Zweifel und Sorgen gibt. Dass wir die gleichen Emotionen in unterschiedlichen Welten fühlen und dass es deswegen egal ist in welcher Welt wir uns befinden. Wir müssen Unglück kennen, um Glück begreifen zu können. In jedem Leben und an jedem Tag haben wir das Potenzial, das Beste aus unseren Umständen zu machen, wenn wir nur all das Gute darin erkennen.
Aber Nora verlässt ihre Parallelleben meist nach sehr kurzer Zeit wieder, weil sie dort keine Perspektive für sich sieht. Müsste es denn nicht auch in jedem dieser Leben Potenzial geben?
Womit ich sehr gekämpft habe, ist die Endgültigkeit, mit der die Parallelleben dargestellt werden. Das Australienleben war schrecklich, aber es hätte doch sicher auch Versionen davon geben können, die besser oder sogar gut gewesen wären. Allein für das eine Leben, in dem Nora nach Australien auswandert, müssten doch unendlich viele Möglichkeiten vorhanden sein. Aber wir haben nur eine einzige gesehen.
Außerdem war mein ganz persönliches Empfinden, dass die aufgezeigten Leben tatsächlich unterschiedlich gut oder schlecht waren. In manchen hätte ich lieber sein wollen als in anderen. Manche fand ich sogar wirklich besser als Noras Ursprungsleben.
Besonders gut gefallen haben mir die zahlreichen philosophischen Gedanken und Theorieren, die sich in der Geschichte finden. Dabei habe ich viel gelernt und einige neue Denkanstöße mitgenommen. Außerdem mochte ich das Ende des Buchs sehr. Obwohl ich das Wieso-Weshalb-Warum nicht abschließend durchblicken konnte, fand ich den Gedanken, dass es immer eine andere Seite der Verzweiflung gibt, sehr tröstlich.
Der Schreibstil des Autors ist klar und bildlich. Die Kapitel sind kurz und prägnant. Manchmal wurde mir das Ende eines Lebens allerdings zu schnell abgehandelt. Ich hätte gern noch nähere Erklärungen gehabt, warum Nora diese Möglichkeit zu existieren nun genau aufgibt oder auch aufgeben muss.

Fazit:
„Die Mitternachtsbibliothek“ ist ein Buch, das zum Nachdenken anregt. In meinen Augen wird die Geschichte ihrem Hype gerecht. Es ist nur menschlich - vor allem in Zeiten von Social Media - über verpasste Chancen oder falsche Entscheidungen nachzudenken. Man sagt ja immer, dass das Gras anderswo auch nich grüner ist. Oft stimmt das sicher auch. Matt Haig hat ein Buch geschrieben, das Trost spendet, wenn man zweifelt, aber ich kann nicht behaupten, dass ich nach dem Lesen nicht mehr zweifeln werde.

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