Neuschweinstein habe ich auf der FBM 2016 am Piper-Stand entdeckt. Es fiel mir auf, weil das Cover so schlicht war und der Titel irgendwie witzig klang. Dennoch habe ich entschieden, das Buch (noch) nicht zu kaufen, da ich schon viel zu viele andere von der Messe mitgenommen habe (siehe hier). Dann kam einige Tage später vom Piper Verlag eine Presserundmail zu exakt diesem Buch bzw. einer Vorstellung und Lesung mit Christoph Rehage. Ich musste leider absagen, obwohl diese Veranstaltung quasi um die Ecke war, habe aber mein Interesse am Buch bekundet – und darauf hingewiesen, dass ich zu dem Zeitpunkt zu viele Bücher auf der Leseliste hatte, als dass ich um ein Rezensionsexemplar zu bitten wagte: Ich mag es nicht, Verlage zu lange hinzuhalten, ganz besonders nicht dann, wenn die Initiative von mir ausging. Daraufhin kam eine Mail nach dem Motto „Ich schicke dir trotzdem ein Buch“ mit der Aussage, ich zitiere: „Ja selbstverständlich haben Sie keine Rezensionspflicht!“ Das ist mir bewusst – obwohl Rezensionsexemplare doch eigentlich genau diesem Zweck dienen. Dennoch: Dieses Entgegenkommen des Piper Verlags allein ist mir schon Grund genug, trotzdem diese Rezension zu schreiben. Dass mir das Buch dann auch noch ganz gut gefallen hat, ist nur das i-Tüpfelchen. Soviel also dazu, wie Neuschweinstein bei mir gelandet ist. Vielleicht sollte ich jetzt langsam mal anfangen, tatsächlich über das Buch zu sprechen, bevor ihr vor Langeweile nicht mehr weiterlest…
Ich lese selten Sachbücher oder nicht-belletristische Lektüren. Ab und zu greife ich mal nach einem bestimmten Thema, aber um mich für einen Nicht-Roman zu interessieren, braucht es schon so einiges. Zum Beispiel muss mir ein Sachbuch das Gefühl geben, dass ich wirklich etwas gelernt habe nach dem Lesen (im Gegensatz zum Fachbuch reicht hier das Gefühl) und es muss auch unterhaltsam sein. Trockene Lektüre habe ich im Studium genug. Ausnahmen bestätigen auch in diesem Fall die Regel. Und tatsächlich schreibt Rehage in einem Stil, der nicht nur informativ ist, sondern auch amüsant und nachvollziehbar. Ich konnte in jeder Formulierung erkennen, warum er sich auf diese Reise gemacht hat und auch nachvollziehen, welche Erkenntnisse er erlangt hat – oder zumindest beschreibt. Natürlich behaupte ich nicht, jetzt genauere Auskunft über das Wesen chinesischer Touristen in Europa geben zu können, aber eine Botschaft wird in jeder beschriebenen Situation deutlich: Es gibt kulturelle Unterschiede zwischen Chinesen und Europäern, aber in vielen Dingen sind die Erfahrungen, die man im Urlaub macht, die Entscheidungen, die man treffen muss oder auch die Art und Weise, wie das Umfeld wahrgenommen wird, sehr ähnlich. Chinesen sind eben auch nur Menschen.
Die Reisegruppe, mit der Christoph Rehage unterwegs war, bestand nicht nur aus Mittzwanzigern mit Abenteuertrieb oder Endvierzigern mit dem Bedürfnis nach Erholung, sondern aus einer wilden Mischung, vom jungen Mädchen voller Energie über Studentinnen bis zu älteren Herrschaften mit jeder Menge Lebenserfahrung. Durch diese Mischung konnte ich gerade im letzten Abschnitt, als die eigentlich Reise beendet war und Rehage sich erneut nach China aufmachte, um die ehemaligen Gruppenmitglieder zu besuchen, Einblick in verschiedene Bereiche des Lebens in China bekommen, anstatt an einem Archetyp festzuhängen: Schule und Studium, Wohnsituationen in der Großstadt und auf dem Land, Wahrnehmungen der Politik Chinas. Das alles bekomme ich als Leserin natürlich durch die Brille des Autors vermittelt, mit eigenen Erfahrungen vor Ort ist das selbstverständlich nicht vergleichbar. Dennoch ist es einfach interessant. Punktum.
Abgesehen von diesen spezifischen Eindrücken bezüglich China vermittelt Neuschweinstein etwas über das Phänomen Gruppenreise. Ich selbst habe mit Ausnahme von Klassen- oder Kursfahrten während der Schulzeit noch keine Gruppenreise unternommen (das liegt aber eher daran, dass ich bisher überhaupt kaum verreist bin, als dass ich auf Individualreisen stehe – um dieses Statement abzugeben habe ich schlicht zu wenig Reiseerfahrung), kann also nicht viel Kritik daran üben, wie die Gruppenreisen dargestellt werden. Ist das Gruppenessen wirklich so schlecht, ist es wirklich so essentiell, die großen Kaufhäuser in den verschiedenen Ländern zu besuchen (das scheint eine chinesische Eigenheit zu sein), haben Gruppen, die sich durch Flaggen wiederfinden, wirklich einen schlechten Ruf?
Die Personen, über die Rehage schreibt, erscheinen mir menschlich und individuell, obwohl sie vermutlich etwas stereotypisiert wurden. Und die Art und Weise, wie er über sie schreibt, wie er ihre Eigenheiten wiedergibt, zeigt mir, dass er sie wirklich liebgewonnen hat. Der Versuch, als Europäer mit der Absicht, ein Buch über diese Erfahrung zu schreiben, in einer ansonsten komplett mit Chinesen besetzten Gruppe durch Europa zu reisen und dabei als vollkommen normaler Reisender – der er ja auch eigentlich ist – wahrgenommen zu werden, scheitert mal mehr, mal weniger. Aber die Tatsache, dass häufig in der Perspektive des Gruppenkollektivs geschrieben wird, ist sehr amüsant. Zum Beispiel wird eine bestimmte Situation nicht gutgeheißen oder das Verhalten einer für Touristen verantwortlichen Person stößt auf Ablehnung: Wir waren enttäuscht. Das Essen war nicht nur erbärmlich, sondern sogar ziemlich abstoßend: Wir schürzten die Lippen und blieben dennoch höflich dem Personal gegenüber.
Von der Reise mit einer Gruppe von neuen chinesischen Freunden wird auf humorvolle Weise erzählt, die Eigenheiten der Menschen liebevoll beschrieben und in keinem Moment verliert Rehage den Respekt den Menschen oder der chinesischen Kultur gegenüber – wenn auch manchmal Kritik geübt wird. An einigen Stellen begann ich zu grübeln über die chinesische Politik, an anderen musste ich mir das Lachen verkneifen, um meine Mitreisenden (den Großteil von Neuschweinstein habe ich auf zwei, drei Zugfahrten gelesen) nicht zu stören. Letzteres gelang mir nicht immer, soviel sei gesagt.
Fazit
Eine großartige Lektüre für (in meinem Fall Zug-) Reisen, die mal zum Nachdenken anregt, mal zum Lachen verführt und immer den richtigen Ton trifft. Und nebenbei lernt man noch etwas – zumindest hatte ich das Gefühl. Für mich ist dies also ein guter Nicht-Roman – merkt ihr, was für einen schönen Bogen ich zum Anfang dieser Rezension gespannt habe? ^_^