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Veröffentlicht am 18.04.2021

Versöhnlicher Rückblick

Vom Aufstehen
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Eine Sammlung von Erzählungen, Erlebnisse, die ein Leben geprägt haben, Eindrücke, die eine Person ausmachen.

Helga Schubert berichtet aus ihrem Leben, von der Flucht aus Hinterpommern, von ihrem Dasein ...

Eine Sammlung von Erzählungen, Erlebnisse, die ein Leben geprägt haben, Eindrücke, die eine Person ausmachen.

Helga Schubert berichtet aus ihrem Leben, von der Flucht aus Hinterpommern, von ihrem Dasein in der DDR und von dem, was danach geschah. Dabei sind ihre Erzählungen manchmal kleine Geschichten, denen man leicht folgen kann. Ein andermal sind es philosophische Betrachtungen. Obwohl die Autorin sich einer einfachen, klaren Sprache bedient, die ohne Schnörkel auskommt, sind ihre Episoden doch teilweise poetisch stark. Immer wieder hatte ich versteckte Botschaften zwischen den Zeilen entdeckt, die mir wie beim Ostrock üblich dort bewusst von ihr platziert schienen.

Den größten Raum nimmt die Auseinandersetzung mit der eigenen Mutter ein. Ohne Gram lässt Helga Schubert uns teilhaben an der Distanz zwischen ihr als Tochter und der Mutter. Offensichtlich war die Mutter durch Erlebnisse im Krieg und auch durch ihre eigene Konstitution nicht in der Lage, ihrer Tochter ein normales Maß an Liebe zu geben. Vielmehr lässt sie die Tochter wissen, dass sie ohne sie besser dran gewesen wäre. Die Haltung der Mutter ist ist nicht etwa ein einmaliger Wutausbruch, sondern Teil ihrer Lebenseinstellung. Um so bewundernswerter ist der überaus faire Blick der Autorin auf ebendiese befremdliche Frau.

Besonders gern mochte ich allerdings die eher philosophischen Kapitel, weil ihnen etwas Verborgenes innewohnt, das nicht auf den ersten Blick sichtbar wird. „Mein Wald“ und „Mein Winter“ sind nur zwei Beispiele in einem ganzen Reigen, wobei mache Kapitel nur in Teilen diesen Charakter haben.

So war diese Sammlung an Erzählungen recht attraktiv für mich, obwohl ich im Allgemeinen nicht unbedingt ein Liebhaber von Erzählbänden bin. Insgesamt ein ruhiges Buch, das berichtet, aber nicht anklagt und urteilt. Das überlässt die Autorin der Leseschaft, womit sie bei mir den richtigen Nerv trifft. Ich bin dankbar für dieses Buch und empfehle es sehr gern weiter.

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Veröffentlicht am 06.04.2021

Eine Affäre in der Nachbetrachtung

Roman d’amour
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Charlotte ist Autorin und ehemalige Geliebte von Ludo. Ihr aktuelles Buch heißt genauso wie das hier bewertete, nämlich „Roman d’amour“ und beschreibt eine in der Vergangenheit liegende Affäre. Die Protagonisten ...

Charlotte ist Autorin und ehemalige Geliebte von Ludo. Ihr aktuelles Buch heißt genauso wie das hier bewertete, nämlich „Roman d’amour“ und beschreibt eine in der Vergangenheit liegende Affäre. Die Protagonisten in Charlotte’s Roman sind Klara und Lew, machen Ähnliches durch wie sie selbst damals mit Ludo. Nun ist Charlotte auf dem Weg zu einer Lesung mit anschließender Preisverleihung. Vorher lässt sie sich nur noch kurz von der Journalistin, Frau Sittich, interviewen. Aus den Interviewszenen sowie den rückblickenden Sequenzen auf die verflossene Liebe konstruiert Sylvie Schenk einen ungewöhnlichen Liebesroman ohne schnulzigen Kitsch.

Der Clou des vorliegenden Werkes ist der Roman im Roman. Diese zusätzliche Dimension lässt die Wahrheit massiv verschwimmen. Die Namensgleichheit im Romantitel wie auch die starke Ähnlichkeit der Namen der Figuren, Charlotte und Klara sowie Ludo und Lew, lies mich immer wieder den Überblick verlieren, wer jeweils genau gemeint war. Die Figuren sind im Verlauf immer mehr miteinander verschmolzen. Obwohl mich fehlender Überblick sonst nervt, weil ich mich als Leser*in dann nicht richtig geführt fühle, mochte ich das Vage hier sehr gern. Es war auch gar nicht notwendig, alles ganz genau zu wissen. Im Vordergrund des Leseerlebnisses stand für mich die Atmosphäre und das Gefühlschaos der zurück gebliebenen Geliebten.

Neben der interessanten Konstruktion der Geschichte gefiel mir auch das Sprachniveau der französisch-deutschen Autorin. Das Überbordende der französischen Sprache, wenn es um Emotionen geht, kommt hier optimal zur Geltung, wunderschön, niemals hohl. Sätze wie, „Manchmal sind Worte wie Laternen, sie beleuchten das Gesicht des Sprechenden. (S. 26)“ sind Belege für die Verwandtschaft mit dem typischen Liebesroman, allerdings auf einer anderen Ebene.

Mir hat dieser Roman im Roman sehr gut gefallen. Die Interviewszenen hatten zeitweise ein paar Längen. Dennoch empfehle ich den „Roman d‘amour“ gern weiter.

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Veröffentlicht am 02.04.2021

Roadtrip zur Wahrheit

Die lustlosen Touristen
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Ulia ist Musikwissenschaftlerin, schreibt ihre Doktorarbeit über Benjamin Britten und dessen Pazifismus. Gustavo ist spanischer Jurist und Professor an einer Hochschule. Das Paar ist auf Sightseeingtour ...

Ulia ist Musikwissenschaftlerin, schreibt ihre Doktorarbeit über Benjamin Britten und dessen Pazifismus. Gustavo ist spanischer Jurist und Professor an einer Hochschule. Das Paar ist auf Sightseeingtour mit Gustavo‘s neuem Auto durch Ulias Heimat, das Baskenland. Solch ein Urlaub sollte eigentlich eine Freude sein. Doch man merkt schnell, dass viel Unausgesprochenes zwischen den beiden schwelt. Ulia hat immer wieder wenig respektvolle Gedanken zu ihrem Mann. Zudem scheinen sie vollständig unterschiedliche Herangehensweisen an eine Reise zu haben. Während Gustavo minutiös plant, wäre Ulia eigentlich lieber spontan. Sie behält ihr Ansinnen für sich, fügt sich seinen Vorstellungen. Bald nach Antritt der Reise gesellt sich weiteres Konfliktpotenzial in Person der Journalistin Sarah zu den Beiden.

In dieser Grundstimmung bewegte ich mich durch diesen vielschichtigen Bericht. In meiner Wahrnehmung gab es drei Erzählebenen, die Reise an sich, die Rückblicke auf Erlebnisse von Ulias Mutter Mariluz und die Auseinandersetzung mit Benjamin Britten.
Die Ausrichtung der Sprache ist in jeder Ebene etwas anders, wodurch das Lesen ein durchaus anspruchsvolles Vergnügen wird. Die Geschichte der Mutter in der Hochphase des „ETA-Terrors“ wird aus beobachtender Perspektive erzählt, Britten’s Pazifismus dokumentarisch aufbereitet. Die Reise selbst ist als Reflexion an Gustavo gerichtet, so als ob Ulia darin alles aufschreibt, was sie nicht imstande ist, Gustavo direkt zu sagen. Diese Ansprache mit Du empfand ich etwas ungewöhnlich, weil nicht die Leser innen an sich gemeint sind, sondern eben nur Gustavo.

Lange hatte ich den Eindruck, dass Ulia mit den Konflikten ihrer Vergangenheit einseitig die Beziehung toxisch beeinträchtigt. Doch auch Gustavo hat seine Geheimnisse. Nach und nach gewährt uns die Autorin wie auch dem Paar weitere Einblicke und lässt schließlich ein Gesamteindruck entstehen. Das Ende lässt sie offen. Die Leser innen werden mit der Wahrheit konfrontiert, sozusagen eingeweiht in all die Probleme. Welche Konsequenzen Ulia und Gustavo daraus ziehen, übergibt sie den weiterdenkenden Leser innen.

Für mich war der Roman eine kluge Auseinandersetzung mit der baskischen Lebenswirklichkeit. Katixa Agirre ließ mich einen neuen Blickwinkel einnehmen im Zusammenhang mit dem Konflikt zwischen Spanien und dem Baskenland. Es war wie das Anhören der anderen Seite, ein wichtiger Schritt, wenn man sich zu einer Kontroverse ein Urteil erlauben möchte.

Da der Roman durch seine Komplexität mit drei Ebenen in Zeit und Raum nicht mal eben weg zu lesen ist, beschränke ich meine Leseempfehlung auf Liebhaber des gehobenen Lesegenusses.

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Veröffentlicht am 25.03.2021

Vielleicht ein Impulsgeber

Kim Jiyoung, geboren 1982
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Der Roman beginnt mit der Vorstellung einer Frau, Mutter und Schwiegertochter, die merkwürdige Verhaltensweisen an den Tag legt. Von einem Moment auf den anderen schlüpft sie, Kim Jiyoung, wohnhaft am ...

Der Roman beginnt mit der Vorstellung einer Frau, Mutter und Schwiegertochter, die merkwürdige Verhaltensweisen an den Tag legt. Von einem Moment auf den anderen schlüpft sie, Kim Jiyoung, wohnhaft am Rande der Metropole Seoul, im hoch technisierten Südkorea, ohne erkennbaren Grund in die Rolle von Frauenfiguren aus ihrem familiären Umfeld und ahmt diese nach. Der Jiyoung betreuende Psychologe erzählt ihre Geschichte.

Chronologisch, vom Kleinkindalter bis ins heute, berichtet er protokollartig, extrem präzise, ohne jegliche Schnörkel von Schlüsselsituationen aus Kim Jiyoungs Leben. Der reduzierte Schreibstil bewirkt eine gewisse Distanz zur Protagonistin, lenkt gleichzeitig höchste Konzentration auf die Situation.

Zugegeben, ich wurde im ersten Drittel des Romans komplett von der Unterdrückung der Frauen in Südkorea überrollt. Naiver Weise hätte ich ein derart antiquiertes Frauenbild eher einem totalitären Regime zugeschrieben. Südkorea hatte ich mir, beeinflusst durch die Technisierung des Landes, auch in dieser Hinsicht modern und die Frauen emanzipiert vorgestellt. Deshalb war gerade der Einstieg in den Roman überraschend, spannend und sehr aufregend für mich. Ein bisschen schade ist, dass nach der ersten Hälfte des Romans nicht mehr wirklich etwas Neues kommt. So entstehen Längen, die durch weitere Aneinanderreihung von alltäglicher Diskriminierung gekennzeichnet sind. Natürlich erzeugt Cho Nam-Joo durch die schiere Anzahl von Negativbeispielen eine gewisse Steigerung in der Erkenntnis der Thematik, was ich auch als wichtig empfinde, weil erst dadurch die Situation der Frauen tatsächlich transparent wird. Trotzdem schmälert diese Art der Aufbereitung das Lesevergnügen.

Schön herausgearbeitet finde ich die Doppelmoral. Menschen, die bereits die Einsicht zu den Folgen der herrschenden Selbstverständlichkeit einer unbegrenzten Selbstaufgabe von Frauen nach Heirat haben, handeln trotzdem unter wirtschaftlichem Druck entgegen der eigenen menschlichen Überzeugung. So kann der Teufelskreis nicht durchbrochen werden.

Ich spreche dem Buch eine wichtige Rolle im Sinne der Aufklärung und Bewusstmachung von Zuständen in der modernen Welt zu. Ich sehe durchaus Parallelen bei uns in Europa. Daher empfehle ich den Roman insbesondere Müttern und Vätern, vielleicht hilft die Lektüre aus vererbten Verhaltensmustern auszubrechen.

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Veröffentlicht am 17.03.2021

Messerscharf erzählt

Kindheit
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Kindheit ist der erste Band von Tove Ditlevsens Kopenhagen-Trilogie, die im Original 1967/71 erschienen ist. Die Autorin lässt uns teilhaben an ihren ersten Lebensjahren als Kleinkind bis zur Konfirmation.

Die ...

Kindheit ist der erste Band von Tove Ditlevsens Kopenhagen-Trilogie, die im Original 1967/71 erschienen ist. Die Autorin lässt uns teilhaben an ihren ersten Lebensjahren als Kleinkind bis zur Konfirmation.

Die Autorin erzählt nüchtern, gleichzeitig messerscharf von ihrer Kindheit in den 1920ern im Arbeiterviertel von Kopenhagen, der Vater arbeitsloser Heizer, die Mutter Hausfrau. Tove’s Mutter scheint unzufrieden mit ihrem gewählten Schicksal, einzige Lichtblicke für sie sind Kaffeekränzchen mit Ihren Freundinnen oder Verwandten. In meiner Wahrnehmung hat sie wohl unterm Stand geheiratet. Für Tove, die wie der Rest des mütterlichen Lebens eine Enttäuschung zu sein scheint, kann sie wenig Zuneigung aufbringen. Lieber nutzt sie das Kind für unliebsame Botengänge aus. Der Vater ist überfordert, sich mit Tove zu beschäftigen, weil sie ein Mädchen ist und Mädchen die Sache der Mütter sind.

Dabei ist Tove ihrer Zeit, die von Armut und Hunger geprägt ist, mit ihrem Interesse für Bücher und Lyrik weit voraus und hätte Förderung verdient. Obwohl ihr diese verwehrt bleibt, lässt sich Tove von ihrem Traum, Schriftstellerin zu werden, nicht abbringen. Immer wieder schreibt sie Gedichte über Sehnsucht und Liebe in ihr Poesiealbum. Für uns Leser*innen sind diese kleinen Highlights an passender Stelle im Roman eingeflochten.

Mit der Übersetzung dieser Trilogie erreicht die Leserschaft ein Zeitzeugenbericht, der klar und ohne Gefühlsduselei dokumentiert, wie entbehrungsreich und schwer erträglich das Leben zwischen den Weltkriegen für die einfachen Leute war. Ich war schockiert, dass schon das Kind Tove an den Tod als etwas Liebliches bzw. Erlösenden gedacht hat.

Auch wenn ich durch den dokumentierenden Stil nicht ganz nah an die Figuren herankam, hat mir der Roman gut gefallen. Ich bin fasziniert, dass die Autorin mit relativ wenigen Worten ihre Erinnerungen an die Kindheit auf den Punkt bringt.

Gern spreche ich eine Leseempfehlung aus. Ich selbst werde auch die beiden weiteren Bände lesen.

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