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Veröffentlicht am 23.08.2021

Biographie und Märchen in einem

Herzfaden
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Die Augsburger Puppenkiste – wer kennt sie nicht mit ihren Helden Jim Knopf, Lukas dem Lokomotivführer, Urmel aus dem Eis? Doch wer steht dahinter? Wer kam auf die grandiose Idee dieses Marionettentheaters? ...

Die Augsburger Puppenkiste – wer kennt sie nicht mit ihren Helden Jim Knopf, Lukas dem Lokomotivführer, Urmel aus dem Eis? Doch wer steht dahinter? Wer kam auf die grandiose Idee dieses Marionettentheaters? Einfühlsam erzählt Thomas Hettche über die Entstehung der Puppenkiste, die praktisch ein Ergebnis des II. Weltkrieges ist. Denn ohne diesen Krieg würde es dieses wunderbare Theater nicht geben, so grotesk sich dies vielleicht auch lesen mag.

Walter Oehmichen, ein Schauspieler in Augsburg, fertigt für seine beiden kleinen Töchter ein Marionettentheater, das 1944 in einer Bombennacht völlig zerstört wird. Nach dem Ende des Krieges erbaut er mit Unterstützung der ganzen Familie ein neues Theater, das in einem leeren Saal des Heilig-Geist-Spitals seine Stücke zeigt. Es sind schwere Zeiten, die Menschen haben nur wenig Geld, dass sie meist für andere Dinge brauchen. Doch Familie Oehmichen glaubt an den Erfolg, vor allem Walter und Hannelore, seine jüngere Tochter, von Allen nur Hatü genannt, für die das Schnitzen und Spielen der Marionetten eine Berufung ist. Sie übernimmt später die Verantwortung für das Theater und sorgt dafür, dass auch neue Stücke gespielt werden wie beispielsweise ‚Der kleine Prinz‘ oder ‚Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer‘.

Die Biographie des Theaters ist eingebettet in ein Märchen, in dem ein 12jähriges Mädchen nach einer Vorstellung der heutigen Augsburger Puppenkiste durch eine geheime Tür auf einen Dachboden gelangt, wo sich die Marionetten befinden, die nach und nach zum Leben erwachen. Auch die erwachsene Hatü erscheint, die dem Mädchen die Geschichte der Augsburger Puppenkiste erzählt …
Doch Herzfaden ist nicht nur die Biographie einer deutschen ‚Institution‘, sondern auch ein Stück Zeitgeschichte, glaubwürdig und überzeugend beschrieben. Denn ohne die damaligen Verhältnisse würde es das Theater vermutlich nicht geben – Walter Oehmichen wäre wohl Schauspieler geblieben.

Die eigentliche Geschichte mit einem Märchen mit den allseits bekannten Marionetten zu umrahmen ist eine pfiffige Idee, aber mir kam es meist doch recht konstruiert vor. Wunderbar gelungen ist hingegen die optische Aufmachung des Buches. Die beiden Erzählstränge sind jeweils in roter und blauer Farbe gehalten und werden mit Zeichnungen der Augsburger Puppenkiste ergänzt. Ein schönes Buch zu einem Thema, das einem beim Lesen manchmal etwas nostalgisch werden lässt 😊

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Veröffentlicht am 06.06.2021

Nichts ist so wie es scheint

Die zweite Schwester
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Die 15jährige Siu-Man begeht Selbstmord, nachdem sie nach einem sexuellen Übergriff in der U-Bahn und der Anzeige des Täters einem Shitstorm im Internet ausgesetzt war. Ihre ältere Schwester Nga-Yee, die ...

Die 15jährige Siu-Man begeht Selbstmord, nachdem sie nach einem sexuellen Übergriff in der U-Bahn und der Anzeige des Täters einem Shitstorm im Internet ausgesetzt war. Ihre ältere Schwester Nga-Yee, die einzige Verwandte, macht sich auf die Suche nach den Verantwortlichen und beauftragt den berüchtigten Hacker N, sie zu unterstützen.

Im Großen und Ganzen handelt es sich um einen klassischen Whodunnit-Krimi, der sich insbesondere einem Thema widmet: Wie leicht es heutzutage ist, Menschen mit Hilfe des Internets zu zerstören.

N, der hochintelligente, Menschen jedoch eher meidende Nerd, erklärt während seiner Recherchen seiner in IT-Dingen völlig unbedarften Klientin Nga-Yee (die vermutlich für entsprechende Leserinnen und Leser steht) in verständlicher Form die Grundlagen des Internets und der Vernetzung sowie die damit verbundenen Gefahren und Möglichkeiten für Kriminelle. Auch auf die Leichtigkeit, mit der sich eigene Spuren verwischen lassen und falsche Fährten gelegt werden können, weist er hin und setzt das Ganze gleich in die Tat um.

Wie Nga-Yee folgen wir Lesenden jedem neu entdeckten Ansatz, ziehen daraus unsere Schlüsse um am Ende festzustellen, dass doch Alles ganz anders war – obwohl N immer wieder predigt, dass ein Indiz noch lange kein Beweis ist. Es hilft nichts: Der Autor serviert die Erkenntnisse so überzeugend und schlüssig, dass man ihm immer wieder auf den Leim geht 😉

Alles in allem ein spannender, eher unblutiger Krimi, der auch für einigen Erkenntnisgewinn sorgen kann und nur einen kleinen Haken hat: der Sprachstil. Das Buch ist vom Chinesischen zuerst ins Englische und von dort ins Deutsche übersetzt worden – ob es daran liegt, dass die Sprache so schlicht klingt? So kann es durchaus als Jugendbuch durchgehen, was die Thematik betreffend grundsätzlich keine schlechte Idee wäre. Aber ich glaube, dem Autor wird man damit nicht gerecht.

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Veröffentlicht am 06.06.2021

Ein säkularer Jude im Westjordanland

Besetzte Gebiete
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Kadoke ist Psychiater in Amsterdam, der nach einer sehr unkonventionellen Behandlung einer Patientin seine Approbation verliert. Doch nicht nur das: Es gibt einen Medienskandal, der durch einen nicht sehr ...

Kadoke ist Psychiater in Amsterdam, der nach einer sehr unkonventionellen Behandlung einer Patientin seine Approbation verliert. Doch nicht nur das: Es gibt einen Medienskandal, der durch einen nicht sehr geglückten Auftritt Kadokes in einer TV-Show noch verstärkt wird und ihn antisemitischen Beschimpfungen aussetzt. Er steht vor den Trümmern seiner Existenz und beschließt, gemeinsam mit seinem schwer pflegebedürftigen Vater nach Israel auszuwandern. Anlass dafür war der wenige Monate zurückliegende Besuch der orthodoxen Ururgroßcousine Anat, die überzeugte Siedlerin im Westjordanland ist und ihn mehrfach zu einem Besuch zu überreden versuchte. So landet der atheistische Anti-Zionist in einer orthodoxen Siedlung im Westjordanland und versucht, ein neues Leben zu beginnen.

Was nun beginnt, ist eine Aneinanderreihung von skurrilen Begebenheiten und grotesken Dialogen, die sich Monty Python nicht schöner hätten ausdenken können 😉 Wie der ungläubige Kadoke von den orthodoxen Bewohnerinnen der Siedlung als ein von Gott Gesandter gefeiert wird oder seine künftige Schwiegermutter strickend dem vorehelichen Sex beiwohnt, um sicher zu gehen, dass er in der Lage ist, genügend Judenkinder zu zeugen – man könnte glauben, der Gipfel des Absurden wäre erreicht, um jedoch einige Seiten später eines Besseren belehrt zu werden. Oder das Gespräch zwischen Vater und Sohn:

„,Lieber Vater, habe ich deinen Segen, und hat sie den auch?’“
Vater wirft Kadokes Künftiger einen kurzen Blick zu, dann sagt er zu seinem Sohn: ,Hättest du dir nicht besser einen Hund nehmen können?’
,Einen Hund?’
,Ein Haustier. Wenn Leute in deinem Alter sich einsam fühlen, können sie sich doch auch ein Haustier anschaffen?’
,Was sagt er?‘, fragt Anat.
,Er will wissen, warum ich mir keinen Hund zugelegt habe, aber ich mag keine Hunde.’
,Was sollen wir mit einem Hund? Ich will ein Kind. Darum heiraten wir, um Kinder zu bekommen. Keinen Hund.’“
Seite 248


Trotz des komödiantischen Tonfalls berührt der Roman eine Vielzahl von ernsthaften Themen, die man in dieser Menge nicht erwartet hätte: Rassismus, Antisemitismus, MeToo-Skandal, Fake News, Fundamentalismus, Medienshitstorm – vermutlich habe ich noch was vergessen. Und dennoch ist die Geschichte damit nicht überfrachtet, denn alles greift ineinander, weil alles ein Teil des Lebens von Kadoke ist.

Ein skurriler, schräger, amüsanter Roman mit einem eher farblosen Antihelden, der einem doch ans Herz wächst. Und von dem man (ich ) wissen will, wie es mit ihm weitergeht.

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Veröffentlicht am 25.04.2021

Düstere Zeiten für Iren in England

Der Abstinent
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Obwohl die große Hungersnot in Irland schon 20 Jahre zurück liegt, ist der Hass auf die Briten weiterhin groß, die der irischen Insel in jener Zeit keinerlei Hilfe zukommen ließen. So versuchen auch in ...

Obwohl die große Hungersnot in Irland schon 20 Jahre zurück liegt, ist der Hass auf die Briten weiterhin groß, die der irischen Insel in jener Zeit keinerlei Hilfe zukommen ließen. So versuchen auch in Manchester, wohin der alkoholkranke irische Polizist James O'Connor 1867 versetzt wird, die Fenians, eine geheime irische Unabhängigkeitsbewegung, die britische Regierung durch Attentate zu schwächen. O'Connor soll seine Landsleute mit Hilfe von Spitzeln ausspionieren, doch schon bald ist er das Ziel eines amerikanischen Iren, der die Spitzel und O'Connor ausschalten soll.
James O'Connor, die Hauptfigur dieses Buches, ist vom Schicksal schwer geschlagen. Nach dem Tod seiner Frau begann er zu trinken und nur durch seine Versetzung nach Manchester kam er einem Rauswurf zuvor. Doch das Leben dort ist schwer, denn als irischer Polizist in England ist er weder bei seinen Kollegen noch bei seinen Landsleuten gut angesehen.
Es ist ein düsterer Hintergrund vor dem diese Geschichte spielt und der Autor erspart seinen Leserinnen und Lesern nichts. Ausdrucksvoll und deutlich beschreibt er die erbärmlichen Verhältnisse, in denen die meisten Menschen leben und wie die Verachtung der Briten die Wut und den Zorn der Iren noch mehr heraufbeschwört und sich in Gewalt entlädt. O'Connor versucht zu vermitteln und das Schlimmste zu verhindern, doch es fehlt ihm an Kraft und Unterstützung.
Obwohl in diesem Buch eigentlich James O'Connor im Vordergrund steht, weiß man nach dem Lesen Einiges mehr über den englisch-irischen Konflikt, der so viele Jahre andauerte und ohne Vergebung nie endgültig beendet sein wird. Vielleicht ist Letzteres auch der Grund für das doch etwas ungewöhnliche Ende.
Düster, aber eine lesenswerte Lektüre!

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Veröffentlicht am 25.04.2021

Wenn man in Belarus 10 Jahre verschläft

Der ehemalige Sohn
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Im Belarus des Jahres 1999 gerät der 16jährige Franzisk in eine Massenpanik und fällt danach ins Koma. Zehn Jahre vergehen, in denen lediglich seine Großmutter fest daran glaubt, dass er wieder aufwachen ...

Im Belarus des Jahres 1999 gerät der 16jährige Franzisk in eine Massenpanik und fällt danach ins Koma. Zehn Jahre vergehen, in denen lediglich seine Großmutter fest daran glaubt, dass er wieder aufwachen wird und ihn gegen alle Widerstände am Leben hält. Und tatsächlich, kurz nach ihrem Tod erwacht Franzisk, nunmehr 26 Jahre alt, in einem Land, in dem Alles so ist wie zuvor, nur ein bisschen schlimmer.

Obwohl der Klappentext suggeriert, dass sich der Großteil der Geschichte mit dem Wiederzurechtfinden des Protagonisten in seinem Land beschäftigt, handelt gerade einmal knapp die Hälfte davon. Das erste Fünftel der rund 300 Seiten beschreibt das Leben des 16jährigen, um den sich seine geliebte Großmutter kümmert, die ihm auch auf den folgenden 100 Seiten während seines Komas zur Seite steht.

Während zu Beginn des Buches in Belarus noch ein wenig Aufbruchstimmung zu verspüren war, vermutlich durch die erst wenige Jahre zurückliegende Eigenständigkeit, wirkt das Land nach dem Aufwachen Franzisks wie gelähmt. Die ständig zunehmende Unterdrückung hat die Menschen zermürbt und resignieren lassen; Franzisk hingegen beginnt sein neues Leben mit dem jugendlichen Elan von damals und nimmt die gesellschaftlichen Verhältnisse fast wie ein Außenstehender war.

Sasha Filipenko zeigt in dieser Geschichte auf spöttisch-ironische Weise, wie es sich in einem autoritären Staat lebt. Die Einen suchen Trost im Konsum, den sie sich mit allen erdenklichen Mitteln ohne Rücksicht auf Moral und Gesetz ermöglichen; die Anderen sind vom ständigen Widerstand und Kampf ermüdet und ausgezehrt und flüchten in die innere oder äußere Emigration oder schlimmstenfalls in den Tod. Gehorchen ohne eigenständiges Denken ist erste Pflicht und führt zu grotesken Situationen, in denen beispielsweise Fasttoten die Fingerabdrücke abgenommen werden um festzustellen, ob sie Terroristen sind.

Es ist ein wichtiges Buch, das Manchen übertrieben scheinen mag, aber von der Realität mit Sicherheit nicht allzu weit entfernt, teilweise sogar eher untertrieben ist. Dass es sprachlich nicht ganz an das im Deutschen zuerst erschienene Buch des Autors „Rote Kreuze“ heranreicht, mag daran liegen, dass es sich um sein Debüt handelt. Dennoch: Es lohnt sich, es zu lesen.

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