Blythe hat ein alles andere als einfaches Verhältnis zu ihrer Tochter Violet. Schon während die Kleine noch ein Säugling ist, findet sie keine rechte Freude an der Mutterschaft, im Gegenteil: Sie fühlt sich unwohl in der Gegenwart ihrer Tochter und kann ihr nicht die typische Liebe einer Mutter bieten. Und je älter das Kind wird, desto schwieriger wird das Leben auch für Blythe, denn immer öfter lässt nun auch Violet sie von sich aus ihre Ablehnung spüren. Während Violet in Gegenwart Anderer ein herzensgutes Kind zu sein scheint, bekommt Blythe das Gefühl, ihre Tochter habe auch eine ganz andere, eine böse Seite. Doch niemand schenkt ihr Glauben.
Aus der Innensicht Blythes bekommen wir Einblick in die Zeit ihrer Mutterschaft. Sie schildert ihre Erlebnisse und Gefühle einem "Du", ihrem Mann Fox, der auch der Vater Violets ist. Schon im Prolog wird klar, dass Blythe und Fox nicht mehr in einer gemeinsamen Ehe leben, wodurch der Text den Charakter eines nachträglichen Berichts erhält, in dem Blythe sich Gehör zu verschaffen und ihre Sicht der Dinge zu schildern versucht. Dazwischen werden auch immer wieder Episoden aus Blythes Kindheit und der Kindheit ihrer Mutter eingeworfen, die deutlich machen, dass die schwierige Beziehung zwischen Mutter und Tochter sich in dieser Familie durch die Generationen zu ziehen scheint. Denn auch Blythe wurde in jungen Jahren von der Ablehnung und Abwesenheit ihrer Mutter geprägt, ebenso wie diese ihrerseits viele schlechte Erfahrungen sammeln musste.
Der Grundton des Buches ist bedrückend, oft geradezu beklemmend. Ich konnte sehr gut mitempfinden mit dieser Frau, die keinerlei Unterstützung von ihrem Mann oder irgendwem sonst erhält und alleine bleibt mit dem Gefühl, dass ihre Tochter sie und später auch andere Kinder absichtlich schikaniert, sich dann in Anwesenheit ihres Vaters aber vollkommen normal und liebevoll verhält. Die Ohnmacht Blythes wird unfassbar greifbar beschrieben, und auch wenn man als Leser mehr als einmal daran zweifelt, ob mit Violet wirklich etwas nicht stimmt oder ob sich vielmehr Blythe alles nur einbildet, sind ihre Verzweiflung und das Gefühl, alleine gelassen zu werden, absolut nachempfindbar.
Das ist dann auch einer der spannendsten Aspekte des Buches: Von den ersten bis zu den letzten Seiten kann man sich nie vollkommen sicher sein, ob man Blythe Glauben schenken darf oder nicht. Mal gibt es Hinweise dafür, dass sie übertreibt, ihre Wahrnehmung, vielleicht auch durch die eigene Vergangenheit, rein subjektiv gefärbt ist und ihre Sicht auf die Dinge verfälscht; dann wieder scheint es unleugbar, dass sie Recht hat, dass Violet absichtlich Grenzen nicht nur austestet, sondern bei Weitem überschreitet, und zwar mit eiskalter präziser Berechnung. Und auch Blythe selbst beginnt irgendwann, an sich zu zweifeln. Kann ein Mensch schon in jungen Jahren so heimtückisch handeln, so berechnend sein? Oder ist es allein ihre Schuld, ihr mangelnder Mutterinstikt, ihre Einbildung?
Und auch das Thema als solches ist ebenso ungewöhnlich wie faszinierend: Denn wir haben hier nicht die nach Außen hin als typisch geltende, harmonische Familie, in der das Kind liebevoll umpflegt aufwächst, auch wenn es immer mal wieder Auseinandersetzungen und kleinere und größere Probleme zu bewältigen gibt. Oder die, in der sich mit der Zeit so große Schwierigkeiten herausbilden, dass die ursprünglich liebevolle Beziehung zerissen wird. Hier ist schon der Ausgangspunkt ein völlig anderer, denn Mutter und Tochter leben sich nicht auseinander - eine wirkliche Beziehung haben sie gar nicht erst ausgebildet, sie sind durch den Akt der Geburt und die ersten gemeisamen Wochen keinerlei Bindung miteinander eingegangen. Und dabei stellen sich immer wieder die Fragen, die Blythe auch an sich selbst richtet: Darf eine Mutter so wenig Liebe für ihr eigenes Kind empfinden? Darf sie es sogar hassen, nicht nur manchmal, sondern grundsätzlich? Und darf dasselbe umgekehrt für das Kind gelten? Kann soetwas möglich sein?
Die Atmosphäre des Buches ist so konzentriert und verdichtet, dass man sie beim Lesen oft wie eine greifbar auf einem lastende, alles lähmende Decke empfindet. Die Gefühle Blythes, ihre Zweifel, ihre innere Zerissenheit und ihre Machtlosigkeit werden unfassbar intensiv beschrieben und haben mehr als einmal dazu geführt, dass ich das Buch beiseitelegen musste - wenn auch nur für kurze Zeit, denn Spannung und Neugierde haben mich stets wieder dazu verleitet, unbedingt weiterlesen zu wollen.
Für mich hat "Der Verdacht" definitiv alles, was ein sehr gutes Buch braucht, und so ist er schon jetzt ohne Zweifel eines meiner absoluten Jahreshighlights. Ganz klare Leseempfehlung!