Manche Leute haben Wurzeln und andere eher nicht
„Ich habe eine verrückte Sehnsucht nach allem, was ich einmal hatte, ich kann mich nicht bewegen vor Sehnsucht.“ (68%)
Ende Vierzig, in freundschaftlichem Einvernehmen von ihrem Mann geschieden, beginnt ...
„Ich habe eine verrückte Sehnsucht nach allem, was ich einmal hatte, ich kann mich nicht bewegen vor Sehnsucht.“ (68%)
Ende Vierzig, in freundschaftlichem Einvernehmen von ihrem Mann geschieden, beginnt die Erzählerin aus Judith Hermanns neuestem Werk einen Neuanfang an der norddeutschen Küste. Hier lebt ihr Bruder und betreibt eine Kneipe, die mal mehr mal weniger gut läuft und in der sie nun arbeitet.
Sie zieht nicht zu ihrem Bruder, sondern in ein eigenes kleines Haus im Nichts, und beginnt eine Freundschaft mit ihrer Nachbarin Mimi und deren Bruder Arild.
So ein richtiger Neuanfang ist es dennoch nicht. Dreh- und Angelpunkt ihres Lebens ist ihre Tochter Ann, die sich gerade selbst auf den Weg gemacht hat in ihr Leben als ziellos Reisende. Und auch ihr Exmann Otis ändert kaum seine Rolle in ihrem Leben, obwohl sie nun einige Kilometer von ihm entfernt wohnt. Er ist derjenige, dem sie alles erzählt und er ist derjenige, der ihre Erinnerungen teilt oder fast eher verwaltet. Er bleibt für sie „mein Mann“.
So geht es dann auch - bildgewaltig wie man es von Judith Hermann kennt - um Erinnerungen, Wurzeln und Heimat und um Neuanfänge, die eigentlich immer nur eine Weiterführung sind.
Wo ist man daheim, wo verwurzelt? Welche Spuren hinterlässt man und wie werden sie erinnert? Welche Rolle spielen die (wahrheitsgemäßen) Erinnerungen überhaupt? Oder sind eher die Orte wichtig, an denen wir uns vielleicht verwurzelt fühlen?
Die nach ihrem Auszug aus dem Elternhaus reisende Tochter Ann schickt regelmäßig ihren aktuellen Aufenthaltsort als Koordinantenlink. So können ihre Eltern - und wir Leser - auf einer Landkarte nachschauen, wo sie gerade ist. Ein Ort, punktgenau und aktuell nachvollziehbar, und doch sehr flüchtig.
„Sie sagte, wo sind deine Wurzeln. Ich sagte, oh, ich fürchte, ich hab keine. Ich sagte, Gott. Sieh mich nicht so an. Das ist ganz normal. Manche Leute haben Wurzeln und andere eher nicht.“ (14%)
Und so kommt gegen Ende auch schon wieder eine leichte Aufbruchstimmung bei der Erzählerin auf.
Ich konnte diesen Roman kaum aus der Hand legen, selbst wenn auf der bloßen Handlungsebene wenig passiert. So viele kluge Worte reihen sich aneinander. Sie sprechen direkt auf der Gefühlsebene an, hallen unheimlich stark nach.
Der Leser kann sich von der Erzählung einfach tragen lassen und sollte sich an den Bildern nicht aufhalten. Sie lassen sich oftmals nicht direkt interpretieren, aber sie entfalten eine ungeheure Wirkung.
Eine aufregende Lektüre. Zu Recht ist Judith Hermann mit „Daheim“ für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.