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Veröffentlicht am 30.04.2021

Die moderne Umsetzung eines Schauermärchens...

Das wirkliche Leben
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Schon bevor "Das wirkliche Leben" letztes Jahr auf deutsch bei dtv erschienen ist, hat Adeline Dieudonné in Frankreich damit eine große Fangemeinde versammelt. Mittlerweile hat ihr Romandebüt zahllose ...

Schon bevor "Das wirkliche Leben" letztes Jahr auf deutsch bei dtv erschienen ist, hat Adeline Dieudonné in Frankreich damit eine große Fangemeinde versammelt. Mittlerweile hat ihr Romandebüt zahllose Preise gewonnen und in verschiedenen Ländern die Bestsellerlisten gestürmt. Auf dem Cover ist neben einem springenden pinken Hasen und gekritzeltem Titel vor allem eines abgebildet: Lobpreisungen. Neben dem vielversprechenden Titel "Die Sensation aus Frankreich" wecken vor allem die begeisterten Blurbs in den Leselaschen hohe Erwartungen. Normalerweise mache ich um Empfehlungen des Feuilletons eher einen großen Bogen, da mich selten Geschichten überzeugen, die Literaturprofessoren für hochwertig halten. Hier hat mich die Geschichte mit jeder Begegnung im Netz und in Buchhandlungen einfach nicht mehr losgelassen, sodass ich zum Erscheinungstermin des Taschenbuchs letzte Woche beschlossen habe, doch mal einen Blick hineinzuwerfen. Eine gute Entscheidung, wie es sich herausstellte...


"Geschichten sind dazu da, alles hineinzupacken, was uns Angst macht. Denn so könne wir uns sicher sein, dass es nicht im wirklichen Leben passiert."


"Das wirkliche Leben" ist mit seinen 240 Seiten schnell gelesen, sich eine Meinung dazu zu bilden und mit der Geschichte abzuschließen, dauert jedoch viel länger. Noch im Sog der spannenden Atmosphäre gefangen wollte ich einfach nur wissen, wie es für die Erzählerin am Ende ausgeht und habe mir unabsichtlich im Leserausch eine Nacht um die Ohren geschlagen. Die Gedanken zu Handlung, Figuren, Motiven und Moral der Geschichte kamen dann erst später - als ich eigentlich einschlafen wollte, mich das Gelesene aber nachhaltig beschäftigt hat. Allein dafür würde ich dem Roman schon gerne 5 Sterne geben, denn auch wenn wenig Schönes in der Geschichte zu finden ist, ist mir das Schicksal der Erzählerin so nahgegangen, dass ich es bestimmt lange nicht vergessen werde.


"Es gibt Leute, die verdüstern euch den Himmel, stehlen euer Lachen oder setzen sich mit ihrem ganzen Gewicht auf eure Schultern, um euch am Fliegen zu hindern. Von solchen Menschen haltet euch bloß fern."


Das lag nicht nur an den eindrücklichen Beschreibungen des Schreckens, den unsere Erzählerin hier erdulden muss. Missbrauch, Tierquälerei, häusliche Gewalt, eine familiäre Atmosphäre geprägt von Angst und Kälte - so wächst unsere junge Heldin (und diese Bezeichnung benutze ich hier ganz bewusst) heran. Nein, die Magie der Geschichte liegt vor allem in den leisen Tönen. Adeline Dieudonné nutzt hier die außergewöhnlich lebendige Ich-Perspektive eines Mädchens, das wir im Alter von 10 Jahren kennenlernen und begleiten, bis sie 15 Jahren alt ist. In vielen sehr kurzen Kapiteln und mit großen Zeitsprüngen sehen wir ihr zu, wie sie reift, lernt und erwachsen wird. Egal ob ihre erwachende Sexualität, die körperlichen Veränderungen in der Pubertät, die sich wandelnde Beziehung zu ihrem Bruder und ihren Eltern oder ihr sich veränderndes Verständnis von Zusammenhängen - tritt man einen kleinen Schritt zurück und betrachtet die Entwicklung der Protagonistin mit etwas Abstand, kann man beobachten, wie sich ihre Weltsicht, von der eines Kindes zu der einer Frau wandelt. Zuzusehen, wie sie schleichend ihre eigene Identität und auch die Kraft, die in ihr wohnt, entdeckt, gibt der Geschichte trotz der grausamen Handlung etwas Einfühlsames, Zartes, das wie eine Blume mitten im Schlachtfeld erblüht.


"Wenn Gilles lachte, und das tat er ständig, sag man seine Milchzähne blitzen. Sein Lachen wärmte mich jedes Mal wie ein kleines Stromkraftwerk. Ich bastelte Handpuppen aus alten Socken, erfand dazu lustige Geschichten und führte sie für ihn auf. oder ich kitzelte ihn. Einfach nur, um ihn lachen zu hören. denn Gilles´ Lachen konnte alle Wunden heilen."


Die kurzen Szenen, der fragmentierten Erzählweisen wirken dabei jedoch weniger wie ein beschleunigter Zeitraffer und mehr wie eine reflektorische Rückschau - diffus, mit fließenden Übergänge und überlappenden Szenen hat der Roman etwas Albtraumhaftes. Dabei tut es der Spannung überhaupt keinen Abbruch, dass "Das wirkliche Leben" nicht wirklich ausgearbeitete Wendungen oder ähnliches zu bieten hat. Die Geschichte hat es gar nicht nötig, durch Handlung einen Spannungsbogen aufzubauen. Das geschieht von ganz allein durch die schmerzlich-echte und doch bedrückende Atmosphäre der Geschichte. Zu Beginn maskiert das Kindsein, die Unbeschwertheit der Erzählerin noch, was wirklich vor geht, je älter sie jedoch wird, desto genauer werden ihre Beobachtungen und desto mehr wird sie selbst mit der Opferrolle konfrontiert. Das hat zur Folge, dass sich die Lage im Laufe der Handlung immer weiter zuspitzt und die Spannung auf eine klar ersichtliche Eskalation zutreibt.


"Ich liebte die Natur und ihren unerschütterlichen Gleichmut. Ich liebte es, wie präzise und unbeeindruckt sie ihren Plan von Überleben und Fortpflanzung durchzog, ganz egal, was bei uns zu Hause gerade los war. Mein Vater schlug meine Mutter zusammen – und den Vögeln war das egal. Ich fand das tröstlich. Ich fand es tröstlich, dass sie einfach weiter zwitscherten, dass die Bäume knarrten und der Wind in den Blättern der Kastanie rauschte. Ich war nur eine unbedeutende Zuschauerin bei dem Stück, das ununterbrochen aufgeführt wurde."


Die bedrückende Stimmung der Geschichte spiegelt sich auch im Setting wider. So gibt es im Haus einen "Raum der Kadaver", hinter dem Haus beginnt das "Galgenwäldchen" und das Siedlungsviertel, die "Demo" ist ein grauer, einheitlicher Klotz mit ausgehangenen Gardinen und vertrockneten Vorgärten. Dazu gesellen sich einige magisch-anmutende Elemente wie der Prototyp einer Fee, oder der Einfluss einer dämonenartigen Kreatur, die der Erzählerin helfen, Geschehende zu verarbeiten und deren Darstellungsform sich zusammen mit dem Entwicklungsstand der Hauptfigur ausdifferenziert. Die teilweise absurden, horrorartigen Vorkommnisse und einige Splatter-Elemente kann man also eher als Motive für das Aufwachsen und den Freiheitskampf der Hauptfigur auffassen und weniger als exemplarische Handlung im wörtlichen Sinn.


"Die Lehrer hatten aufgrund ihres Alters keinen Tatendrang mehr und bei meinen Mitschülern war schon vorauszusehen, dass mit den Jahren dasselbe passieren würde. Ein bisschen Akne, ein paar Bettgeschichten, Studium, Ehe, Kindern, Arbeit und schwupps! werden sie alt und zu nichts nutze gewesen sein. Ich dagegen wollte eine Marie Curie sein. Und darum hatte ich keine Zeit zu verlieren."


Unterstützt wird die daraus entstehende ambivalente Stimmung zwischen Unschuld und Schrecken durch die sehr körperliche, auf die Erzählerin zugeschnittene Sprache, die sich vieler Vergleiche aus der direkten Lebenswelt des Mädchens bedient. Interessant ist, dass Gefühle, Gerüche, Erlebnisse mit vielen körperlichen Umschreibungen erzählt werden und auch Vergleiche aus der Tierwelt omnipräsent sind (die Amöbe, die Hyäne, das Pferd, ...). Auch dass nur der Bruder der Hauptfigur Gilles und unwichtige Randfiguren wie ihr Physikprofessor, oder einer ihrer Nachbarn Derek einen Namen erhalten und sogar die Hauptfigur namenlos bleibt, ist einer der interessanten Erzählkniffe, der Autorin, mit dem sie gleichzeitig intime Einblicke in die Gefühls- und Gedankenwelt der Hauptfigur ermöglicht, sie jedoch auch etwas auf Distanz hält. Neben dem Mädchen erhalten auch Vater, Mutter und andere Figuren wie "die Feder", "der Champion" oder "der Eismann" keine Namen und sind dementsprechend als eindimensionale Figur-Prototypen angelegt, die man mit einfachen Labels versehen kann. Der Vater ist das "böse Monster", die Mutter die "gehirnlose Amöbe", die Feder steht für die "perfekte Mutterfigur", die das Mädchen sich wünscht und der Champion ist eine Verschmelzung aus Vater- und sexuelle Projektionsfigur. Das mag auf den ersten Blick vielleicht oberflächlich und plakativ wirken, passt aber erstaunlich gut zur allgemeinen Machart des Romans.


"Ich mochte meinen Körper. Und das hatte nichts mit Selbstverliebtheit zu tun. Wenn er hässlich gewesen wäre, hätte ich ihn genauso gemocht. Ich mochte meinen Körper einfach, weil er ein Weggefährte war, der mich nie verraten würde. Und den ich beschützen musste."


Denn wirft man all die genannten Elemente - die rollenhaften Figuren, die klare Abgrenzung von Gut und Böse, das Auftauchen magischer Teilelemente, die vielen Tiervergleiche, die Ansätze einer Heldenreise, die blutrünstige Umsetzung und die klare Moral, die sich hinter den Worten versteckt - zusammen, wird klar, dass "Das wirkliche Leben" im Aufbau und inhaltlich stark an ein Schauermärchen erinnert. Diese Erkenntnis rückt diese verwirrende Geschichte voller Amöben und Hyänen, Opfer und Täter, Jäger und Beute, Angst und Ohnmacht, Erwachsenwerden und Stärke in ein ganz neues Licht und macht klar, dass hinter dem Entwurf der Autorin mehr steckt, als der Wunsch zu schockieren.


„Ich hatte keine Ahnung, ob es so etwas wie ein gelungenes Leben gab und was das genau beinhaltete. Aber ich wusste, dass ein Leben ohne Lachen, ohne Wahlmöglichkeiten und ohne Liebe ein vergeudetes war. Und deshalb erhoffte ich mir eine Geschichte, die mir erklärte, warum meine Mutter ihr Leben weggeworfen hatte.“


Viele Rezensenten kritisieren an dieser Stelle, dass etliche Aspekte des Romans nur angedeutet bleiben. So ist auf den 240 Seiten beispielsweise kein Platz für die zusätzliche Ausführung und Vertiefung von Figuren wie Mutter oder Vaters und auch die Beziehung der Erzählerin zum "Champion" wird hier nicht problematisiert. Das kommt meines Erachtens jedoch nicht dadurch zustande, dass die Autorin ausdrücken wollte, dass es keine Gründe hinter dem Verhalten der Eltern gibt, oder das, was der Champion und die Erzählerin machen, moralisch einwandfrei ist, sondern ist einfach der Limitationen der Perspektive geschuldet. "Das wirkliche Leben" ist durch die Erzählart stark von der Hauptfigur und deren Sicht auf die Welt abhängig, was den Umgang mit etlichen Themen auf ihre subjektive Perspektive beschränkt. Klar, dass zum Beispiel gerade Mutter und Vater sehr einseitig dargestellt sind, da die Erzählerin den Gesamtkontext und die Einflüsse auf die Entwicklung ihrer Eltern nicht sieht oder sehen kann. Auch dass wir hier keine richtige Traumaverarbeitung erleben und vieles im Umfeld sich sprunghaft verändert muss man zugunsten des eingängigen Figurenporträts zurückstellen. Ich kann verstehen, dass manchen Lesern etwas fehlt und man es als unangenehm empfinden kann, dass viele Dinge gegen Ende einfach so stehen gelassen werden. Ich denke jedoch, dass genau dies beabsichtigt war, um zu zeigen, dass unsere Hauptfigur noch lange nicht am Ende ihrer Entwicklung ist und eine Lösung vieler Fragen und Konflikte in diesem Kontext utopisch wäre. Fand ich die Geschichte schön zu lesen? Nein. Dennoch: "Das wirkliche Leben" ist hochspannend, tiefgründig und vor allem hinterlässt es einen bleibenden Eindruck, den ich nicht missen wollte.



Fazit
:

Adeline Dieudionnés Geschichte über Amöben und Hyänen, Opfer und Täter, Jäger und Beute, Angst und Ohnmacht, Erwachsenwerden und Stärke ist nicht nur hochspannend erzählt, sondern auch überraschend zart und einfühlsam. "Das wirkliche Leben" ist die moderne Umsetzung eines Schauermärchens, die die weibliche Opferrolle anprangert und nicht mehr loslässt!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 30.04.2021

Die moderne Umsetzung eines Schauermärchens...

Das wirkliche Leben
0

Schon bevor "Das wirkliche Leben" letztes Jahr auf deutsch bei dtv erschienen ist, hat Adeline Dieudonné in Frankreich damit eine große Fangemeinde versammelt. Mittlerweile hat ihr Romandebüt zahllose ...

Schon bevor "Das wirkliche Leben" letztes Jahr auf deutsch bei dtv erschienen ist, hat Adeline Dieudonné in Frankreich damit eine große Fangemeinde versammelt. Mittlerweile hat ihr Romandebüt zahllose Preise gewonnen und in verschiedenen Ländern die Bestsellerlisten gestürmt. Auf dem Cover ist neben einem springenden pinken Hasen und gekritzeltem Titel vor allem eines abgebildet: Lobpreisungen. Neben dem vielversprechenden Titel "Die Sensation aus Frankreich" wecken vor allem die begeisterten Blurbs in den Leselaschen hohe Erwartungen. Normalerweise mache ich um Empfehlungen des Feuilletons eher einen großen Bogen, da mich selten Geschichten überzeugen, die Literaturprofessoren für hochwertig halten. Hier hat mich die Geschichte mit jeder Begegnung im Netz und in Buchhandlungen einfach nicht mehr losgelassen, sodass ich zum Erscheinungstermin des Taschenbuchs letzte Woche beschlossen habe, doch mal einen Blick hineinzuwerfen. Eine gute Entscheidung, wie es sich herausstellte...


"Geschichten sind dazu da, alles hineinzupacken, was uns Angst macht. Denn so könne wir uns sicher sein, dass es nicht im wirklichen Leben passiert."


"Das wirkliche Leben" ist mit seinen 240 Seiten schnell gelesen, sich eine Meinung dazu zu bilden und mit der Geschichte abzuschließen, dauert jedoch viel länger. Noch im Sog der spannenden Atmosphäre gefangen wollte ich einfach nur wissen, wie es für die Erzählerin am Ende ausgeht und habe mir unabsichtlich im Leserausch eine Nacht um die Ohren geschlagen. Die Gedanken zu Handlung, Figuren, Motiven und Moral der Geschichte kamen dann erst später - als ich eigentlich einschlafen wollte, mich das Gelesene aber nachhaltig beschäftigt hat. Allein dafür würde ich dem Roman schon gerne 5 Sterne geben, denn auch wenn wenig Schönes in der Geschichte zu finden ist, ist mir das Schicksal der Erzählerin so nahgegangen, dass ich es bestimmt lange nicht vergessen werde.


"Es gibt Leute, die verdüstern euch den Himmel, stehlen euer Lachen oder setzen sich mit ihrem ganzen Gewicht auf eure Schultern, um euch am Fliegen zu hindern. Von solchen Menschen haltet euch bloß fern."


Das lag nicht nur an den eindrücklichen Beschreibungen des Schreckens, den unsere Erzählerin hier erdulden muss. Missbrauch, Tierquälerei, häusliche Gewalt, eine familiäre Atmosphäre geprägt von Angst und Kälte - so wächst unsere junge Heldin (und diese Bezeichnung benutze ich hier ganz bewusst) heran. Nein, die Magie der Geschichte liegt vor allem in den leisen Tönen. Adeline Dieudonné nutzt hier die außergewöhnlich lebendige Ich-Perspektive eines Mädchens, das wir im Alter von 10 Jahren kennenlernen und begleiten, bis sie 15 Jahren alt ist. In vielen sehr kurzen Kapiteln und mit großen Zeitsprüngen sehen wir ihr zu, wie sie reift, lernt und erwachsen wird. Egal ob ihre erwachende Sexualität, die körperlichen Veränderungen in der Pubertät, die sich wandelnde Beziehung zu ihrem Bruder und ihren Eltern oder ihr sich veränderndes Verständnis von Zusammenhängen - tritt man einen kleinen Schritt zurück und betrachtet die Entwicklung der Protagonistin mit etwas Abstand, kann man beobachten, wie sich ihre Weltsicht, von der eines Kindes zu der einer Frau wandelt. Zuzusehen, wie sie schleichend ihre eigene Identität und auch die Kraft, die in ihr wohnt, entdeckt, gibt der Geschichte trotz der grausamen Handlung etwas Einfühlsames, Zartes, das wie eine Blume mitten im Schlachtfeld erblüht.


"Wenn Gilles lachte, und das tat er ständig, sag man seine Milchzähne blitzen. Sein Lachen wärmte mich jedes Mal wie ein kleines Stromkraftwerk. Ich bastelte Handpuppen aus alten Socken, erfand dazu lustige Geschichten und führte sie für ihn auf. oder ich kitzelte ihn. Einfach nur, um ihn lachen zu hören. denn Gilles´ Lachen konnte alle Wunden heilen."


Die kurzen Szenen, der fragmentierten Erzählweisen wirken dabei jedoch weniger wie ein beschleunigter Zeitraffer und mehr wie eine reflektorische Rückschau - diffus, mit fließenden Übergänge und überlappenden Szenen hat der Roman etwas Albtraumhaftes. Dabei tut es der Spannung überhaupt keinen Abbruch, dass "Das wirkliche Leben" nicht wirklich ausgearbeitete Wendungen oder ähnliches zu bieten hat. Die Geschichte hat es gar nicht nötig, durch Handlung einen Spannungsbogen aufzubauen. Das geschieht von ganz allein durch die schmerzlich-echte und doch bedrückende Atmosphäre der Geschichte. Zu Beginn maskiert das Kindsein, die Unbeschwertheit der Erzählerin noch, was wirklich vor geht, je älter sie jedoch wird, desto genauer werden ihre Beobachtungen und desto mehr wird sie selbst mit der Opferrolle konfrontiert. Das hat zur Folge, dass sich die Lage im Laufe der Handlung immer weiter zuspitzt und die Spannung auf eine klar ersichtliche Eskalation zutreibt.


"Ich liebte die Natur und ihren unerschütterlichen Gleichmut. Ich liebte es, wie präzise und unbeeindruckt sie ihren Plan von Überleben und Fortpflanzung durchzog, ganz egal, was bei uns zu Hause gerade los war. Mein Vater schlug meine Mutter zusammen – und den Vögeln war das egal. Ich fand das tröstlich. Ich fand es tröstlich, dass sie einfach weiter zwitscherten, dass die Bäume knarrten und der Wind in den Blättern der Kastanie rauschte. Ich war nur eine unbedeutende Zuschauerin bei dem Stück, das ununterbrochen aufgeführt wurde."


Die bedrückende Stimmung der Geschichte spiegelt sich auch im Setting wider. So gibt es im Haus einen "Raum der Kadaver", hinter dem Haus beginnt das "Galgenwäldchen" und das Siedlungsviertel, die "Demo" ist ein grauer, einheitlicher Klotz mit ausgehangenen Gardinen und vertrockneten Vorgärten. Dazu gesellen sich einige magisch-anmutende Elemente wie der Prototyp einer Fee, oder der Einfluss einer dämonenartigen Kreatur, die der Erzählerin helfen, Geschehende zu verarbeiten und deren Darstellungsform sich zusammen mit dem Entwicklungsstand der Hauptfigur ausdifferenziert. Die teilweise absurden, horrorartigen Vorkommnisse und einige Splatter-Elemente kann man also eher als Motive für das Aufwachsen und den Freiheitskampf der Hauptfigur auffassen und weniger als exemplarische Handlung im wörtlichen Sinn.


"Die Lehrer hatten aufgrund ihres Alters keinen Tatendrang mehr und bei meinen Mitschülern war schon vorauszusehen, dass mit den Jahren dasselbe passieren würde. Ein bisschen Akne, ein paar Bettgeschichten, Studium, Ehe, Kindern, Arbeit und schwupps! werden sie alt und zu nichts nutze gewesen sein. Ich dagegen wollte eine Marie Curie sein. Und darum hatte ich keine Zeit zu verlieren."


Unterstützt wird die daraus entstehende ambivalente Stimmung zwischen Unschuld und Schrecken durch die sehr körperliche, auf die Erzählerin zugeschnittene Sprache, die sich vieler Vergleiche aus der direkten Lebenswelt des Mädchens bedient. Interessant ist, dass Gefühle, Gerüche, Erlebnisse mit vielen körperlichen Umschreibungen erzählt werden und auch Vergleiche aus der Tierwelt omnipräsent sind (die Amöbe, die Hyäne, das Pferd, ...). Auch dass nur der Bruder der Hauptfigur Gilles und unwichtige Randfiguren wie ihr Physikprofessor, oder einer ihrer Nachbarn Derek einen Namen erhalten und sogar die Hauptfigur namenlos bleibt, ist einer der interessanten Erzählkniffe, der Autorin, mit dem sie gleichzeitig intime Einblicke in die Gefühls- und Gedankenwelt der Hauptfigur ermöglicht, sie jedoch auch etwas auf Distanz hält. Neben dem Mädchen erhalten auch Vater, Mutter und andere Figuren wie "die Feder", "der Champion" oder "der Eismann" keine Namen und sind dementsprechend als eindimensionale Figur-Prototypen angelegt, die man mit einfachen Labels versehen kann. Der Vater ist das "böse Monster", die Mutter die "gehirnlose Amöbe", die Feder steht für die "perfekte Mutterfigur", die das Mädchen sich wünscht und der Champion ist eine Verschmelzung aus Vater- und sexuelle Projektionsfigur. Das mag auf den ersten Blick vielleicht oberflächlich und plakativ wirken, passt aber erstaunlich gut zur allgemeinen Machart des Romans.


"Ich mochte meinen Körper. Und das hatte nichts mit Selbstverliebtheit zu tun. Wenn er hässlich gewesen wäre, hätte ich ihn genauso gemocht. Ich mochte meinen Körper einfach, weil er ein Weggefährte war, der mich nie verraten würde. Und den ich beschützen musste."


Denn wirft man all die genannten Elemente - die rollenhaften Figuren, die klare Abgrenzung von Gut und Böse, das Auftauchen magischer Teilelemente, die vielen Tiervergleiche, die Ansätze einer Heldenreise, die blutrünstige Umsetzung und die klare Moral, die sich hinter den Worten versteckt - zusammen, wird klar, dass "Das wirkliche Leben" im Aufbau und inhaltlich stark an ein Schauermärchen erinnert. Diese Erkenntnis rückt diese verwirrende Geschichte voller Amöben und Hyänen, Opfer und Täter, Jäger und Beute, Angst und Ohnmacht, Erwachsenwerden und Stärke in ein ganz neues Licht und macht klar, dass hinter dem Entwurf der Autorin mehr steckt, als der Wunsch zu schockieren.


„Ich hatte keine Ahnung, ob es so etwas wie ein gelungenes Leben gab und was das genau beinhaltete. Aber ich wusste, dass ein Leben ohne Lachen, ohne Wahlmöglichkeiten und ohne Liebe ein vergeudetes war. Und deshalb erhoffte ich mir eine Geschichte, die mir erklärte, warum meine Mutter ihr Leben weggeworfen hatte.“


Viele Rezensenten kritisieren an dieser Stelle, dass etliche Aspekte des Romans nur angedeutet bleiben. So ist auf den 240 Seiten beispielsweise kein Platz für die zusätzliche Ausführung und Vertiefung von Figuren wie Mutter oder Vaters und auch die Beziehung der Erzählerin zum "Champion" wird hier nicht problematisiert. Das kommt meines Erachtens jedoch nicht dadurch zustande, dass die Autorin ausdrücken wollte, dass es keine Gründe hinter dem Verhalten der Eltern gibt, oder das, was der Champion und die Erzählerin machen, moralisch einwandfrei ist, sondern ist einfach der Limitationen der Perspektive geschuldet. "Das wirkliche Leben" ist durch die Erzählart stark von der Hauptfigur und deren Sicht auf die Welt abhängig, was den Umgang mit etlichen Themen auf ihre subjektive Perspektive beschränkt. Klar, dass zum Beispiel gerade Mutter und Vater sehr einseitig dargestellt sind, da die Erzählerin den Gesamtkontext und die Einflüsse auf die Entwicklung ihrer Eltern nicht sieht oder sehen kann. Auch dass wir hier keine richtige Traumaverarbeitung erleben und vieles im Umfeld sich sprunghaft verändert muss man zugunsten des eingängigen Figurenporträts zurückstellen. Ich kann verstehen, dass manchen Lesern etwas fehlt und man es als unangenehm empfinden kann, dass viele Dinge gegen Ende einfach so stehen gelassen werden. Ich denke jedoch, dass genau dies beabsichtigt war, um zu zeigen, dass unsere Hauptfigur noch lange nicht am Ende ihrer Entwicklung ist und eine Lösung vieler Fragen und Konflikte in diesem Kontext utopisch wäre. Fand ich die Geschichte schön zu lesen? Nein. Dennoch: "Das wirkliche Leben" ist hochspannend, tiefgründig und vor allem hinterlässt es einen bleibenden Eindruck, den ich nicht missen wollte.



Fazit
:

Adeline Dieudionnés Geschichte über Amöben und Hyänen, Opfer und Täter, Jäger und Beute, Angst und Ohnmacht, Erwachsenwerden und Stärke ist nicht nur hochspannend erzählt, sondern auch überraschend zart und einfühlsam. "Das wirkliche Leben" ist die moderne Umsetzung eines Schauermärchens, die die weibliche Opferrolle anprangert und nicht mehr loslässt!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 30.04.2021

Die moderne Umsetzung eines Schauermärchens...

Das wirkliche Leben
0

Schon bevor "Das wirkliche Leben" letztes Jahr auf deutsch bei dtv erschienen ist, hat Adeline Dieudonné in Frankreich damit eine große Fangemeinde versammelt. Mittlerweile hat ihr Romandebüt zahllose ...

Schon bevor "Das wirkliche Leben" letztes Jahr auf deutsch bei dtv erschienen ist, hat Adeline Dieudonné in Frankreich damit eine große Fangemeinde versammelt. Mittlerweile hat ihr Romandebüt zahllose Preise gewonnen und in verschiedenen Ländern die Bestsellerlisten gestürmt. Auf dem Cover ist neben einem springenden pinken Hasen und gekritzeltem Titel vor allem eines abgebildet: Lobpreisungen. Neben dem vielversprechenden Titel "Die Sensation aus Frankreich" wecken vor allem die begeisterten Blurbs in den Leselaschen hohe Erwartungen. Normalerweise mache ich um Empfehlungen des Feuilletons eher einen großen Bogen, da mich selten Geschichten überzeugen, die Literaturprofessoren für hochwertig halten. Hier hat mich die Geschichte mit jeder Begegnung im Netz und in Buchhandlungen einfach nicht mehr losgelassen, sodass ich zum Erscheinungstermin des Taschenbuchs letzte Woche beschlossen habe, doch mal einen Blick hineinzuwerfen. Eine gute Entscheidung, wie es sich herausstellte...


"Geschichten sind dazu da, alles hineinzupacken, was uns Angst macht. Denn so könne wir uns sicher sein, dass es nicht im wirklichen Leben passiert."


"Das wirkliche Leben" ist mit seinen 240 Seiten schnell gelesen, sich eine Meinung dazu zu bilden und mit der Geschichte abzuschließen, dauert jedoch viel länger. Noch im Sog der spannenden Atmosphäre gefangen wollte ich einfach nur wissen, wie es für die Erzählerin am Ende ausgeht und habe mir unabsichtlich im Leserausch eine Nacht um die Ohren geschlagen. Die Gedanken zu Handlung, Figuren, Motiven und Moral der Geschichte kamen dann erst später - als ich eigentlich einschlafen wollte, mich das Gelesene aber nachhaltig beschäftigt hat. Allein dafür würde ich dem Roman schon gerne 5 Sterne geben, denn auch wenn wenig Schönes in der Geschichte zu finden ist, ist mir das Schicksal der Erzählerin so nahgegangen, dass ich es bestimmt lange nicht vergessen werde.


"Es gibt Leute, die verdüstern euch den Himmel, stehlen euer Lachen oder setzen sich mit ihrem ganzen Gewicht auf eure Schultern, um euch am Fliegen zu hindern. Von solchen Menschen haltet euch bloß fern."


Das lag nicht nur an den eindrücklichen Beschreibungen des Schreckens, den unsere Erzählerin hier erdulden muss. Missbrauch, Tierquälerei, häusliche Gewalt, eine familiäre Atmosphäre geprägt von Angst und Kälte - so wächst unsere junge Heldin (und diese Bezeichnung benutze ich hier ganz bewusst) heran. Nein, die Magie der Geschichte liegt vor allem in den leisen Tönen. Adeline Dieudonné nutzt hier die außergewöhnlich lebendige Ich-Perspektive eines Mädchens, das wir im Alter von 10 Jahren kennenlernen und begleiten, bis sie 15 Jahren alt ist. In vielen sehr kurzen Kapiteln und mit großen Zeitsprüngen sehen wir ihr zu, wie sie reift, lernt und erwachsen wird. Egal ob ihre erwachende Sexualität, die körperlichen Veränderungen in der Pubertät, die sich wandelnde Beziehung zu ihrem Bruder und ihren Eltern oder ihr sich veränderndes Verständnis von Zusammenhängen - tritt man einen kleinen Schritt zurück und betrachtet die Entwicklung der Protagonistin mit etwas Abstand, kann man beobachten, wie sich ihre Weltsicht, von der eines Kindes zu der einer Frau wandelt. Zuzusehen, wie sie schleichend ihre eigene Identität und auch die Kraft, die in ihr wohnt, entdeckt, gibt der Geschichte trotz der grausamen Handlung etwas Einfühlsames, Zartes, das wie eine Blume mitten im Schlachtfeld erblüht.


"Wenn Gilles lachte, und das tat er ständig, sag man seine Milchzähne blitzen. Sein Lachen wärmte mich jedes Mal wie ein kleines Stromkraftwerk. Ich bastelte Handpuppen aus alten Socken, erfand dazu lustige Geschichten und führte sie für ihn auf. oder ich kitzelte ihn. Einfach nur, um ihn lachen zu hören. denn Gilles´ Lachen konnte alle Wunden heilen."


Die kurzen Szenen, der fragmentierten Erzählweisen wirken dabei jedoch weniger wie ein beschleunigter Zeitraffer und mehr wie eine reflektorische Rückschau - diffus, mit fließenden Übergänge und überlappenden Szenen hat der Roman etwas Albtraumhaftes. Dabei tut es der Spannung überhaupt keinen Abbruch, dass "Das wirkliche Leben" nicht wirklich ausgearbeitete Wendungen oder ähnliches zu bieten hat. Die Geschichte hat es gar nicht nötig, durch Handlung einen Spannungsbogen aufzubauen. Das geschieht von ganz allein durch die schmerzlich-echte und doch bedrückende Atmosphäre der Geschichte. Zu Beginn maskiert das Kindsein, die Unbeschwertheit der Erzählerin noch, was wirklich vor geht, je älter sie jedoch wird, desto genauer werden ihre Beobachtungen und desto mehr wird sie selbst mit der Opferrolle konfrontiert. Das hat zur Folge, dass sich die Lage im Laufe der Handlung immer weiter zuspitzt und die Spannung auf eine klar ersichtliche Eskalation zutreibt.


"Ich liebte die Natur und ihren unerschütterlichen Gleichmut. Ich liebte es, wie präzise und unbeeindruckt sie ihren Plan von Überleben und Fortpflanzung durchzog, ganz egal, was bei uns zu Hause gerade los war. Mein Vater schlug meine Mutter zusammen – und den Vögeln war das egal. Ich fand das tröstlich. Ich fand es tröstlich, dass sie einfach weiter zwitscherten, dass die Bäume knarrten und der Wind in den Blättern der Kastanie rauschte. Ich war nur eine unbedeutende Zuschauerin bei dem Stück, das ununterbrochen aufgeführt wurde."


Die bedrückende Stimmung der Geschichte spiegelt sich auch im Setting wider. So gibt es im Haus einen "Raum der Kadaver", hinter dem Haus beginnt das "Galgenwäldchen" und das Siedlungsviertel, die "Demo" ist ein grauer, einheitlicher Klotz mit ausgehangenen Gardinen und vertrockneten Vorgärten. Dazu gesellen sich einige magisch-anmutende Elemente wie der Prototyp einer Fee, oder der Einfluss einer dämonenartigen Kreatur, die der Erzählerin helfen, Geschehende zu verarbeiten und deren Darstellungsform sich zusammen mit dem Entwicklungsstand der Hauptfigur ausdifferenziert. Die teilweise absurden, horrorartigen Vorkommnisse und einige Splatter-Elemente kann man also eher als Motive für das Aufwachsen und den Freiheitskampf der Hauptfigur auffassen und weniger als exemplarische Handlung im wörtlichen Sinn.


"Die Lehrer hatten aufgrund ihres Alters keinen Tatendrang mehr und bei meinen Mitschülern war schon vorauszusehen, dass mit den Jahren dasselbe passieren würde. Ein bisschen Akne, ein paar Bettgeschichten, Studium, Ehe, Kindern, Arbeit und schwupps! werden sie alt und zu nichts nutze gewesen sein. Ich dagegen wollte eine Marie Curie sein. Und darum hatte ich keine Zeit zu verlieren."


Unterstützt wird die daraus entstehende ambivalente Stimmung zwischen Unschuld und Schrecken durch die sehr körperliche, auf die Erzählerin zugeschnittene Sprache, die sich vieler Vergleiche aus der direkten Lebenswelt des Mädchens bedient. Interessant ist, dass Gefühle, Gerüche, Erlebnisse mit vielen körperlichen Umschreibungen erzählt werden und auch Vergleiche aus der Tierwelt omnipräsent sind (die Amöbe, die Hyäne, das Pferd, ...). Auch dass nur der Bruder der Hauptfigur Gilles und unwichtige Randfiguren wie ihr Physikprofessor, oder einer ihrer Nachbarn Derek einen Namen erhalten und sogar die Hauptfigur namenlos bleibt, ist einer der interessanten Erzählkniffe, der Autorin, mit dem sie gleichzeitig intime Einblicke in die Gefühls- und Gedankenwelt der Hauptfigur ermöglicht, sie jedoch auch etwas auf Distanz hält. Neben dem Mädchen erhalten auch Vater, Mutter und andere Figuren wie "die Feder", "der Champion" oder "der Eismann" keine Namen und sind dementsprechend als eindimensionale Figur-Prototypen angelegt, die man mit einfachen Labels versehen kann. Der Vater ist das "böse Monster", die Mutter die "gehirnlose Amöbe", die Feder steht für die "perfekte Mutterfigur", die das Mädchen sich wünscht und der Champion ist eine Verschmelzung aus Vater- und sexuelle Projektionsfigur. Das mag auf den ersten Blick vielleicht oberflächlich und plakativ wirken, passt aber erstaunlich gut zur allgemeinen Machart des Romans.


"Ich mochte meinen Körper. Und das hatte nichts mit Selbstverliebtheit zu tun. Wenn er hässlich gewesen wäre, hätte ich ihn genauso gemocht. Ich mochte meinen Körper einfach, weil er ein Weggefährte war, der mich nie verraten würde. Und den ich beschützen musste."


Denn wirft man all die genannten Elemente - die rollenhaften Figuren, die klare Abgrenzung von Gut und Böse, das Auftauchen magischer Teilelemente, die vielen Tiervergleiche, die Ansätze einer Heldenreise, die blutrünstige Umsetzung und die klare Moral, die sich hinter den Worten versteckt - zusammen, wird klar, dass "Das wirkliche Leben" im Aufbau und inhaltlich stark an ein Schauermärchen erinnert. Diese Erkenntnis rückt diese verwirrende Geschichte voller Amöben und Hyänen, Opfer und Täter, Jäger und Beute, Angst und Ohnmacht, Erwachsenwerden und Stärke in ein ganz neues Licht und macht klar, dass hinter dem Entwurf der Autorin mehr steckt, als der Wunsch zu schockieren.


„Ich hatte keine Ahnung, ob es so etwas wie ein gelungenes Leben gab und was das genau beinhaltete. Aber ich wusste, dass ein Leben ohne Lachen, ohne Wahlmöglichkeiten und ohne Liebe ein vergeudetes war. Und deshalb erhoffte ich mir eine Geschichte, die mir erklärte, warum meine Mutter ihr Leben weggeworfen hatte.“


Viele Rezensenten kritisieren an dieser Stelle, dass etliche Aspekte des Romans nur angedeutet bleiben. So ist auf den 240 Seiten beispielsweise kein Platz für die zusätzliche Ausführung und Vertiefung von Figuren wie Mutter oder Vaters und auch die Beziehung der Erzählerin zum "Champion" wird hier nicht problematisiert. Das kommt meines Erachtens jedoch nicht dadurch zustande, dass die Autorin ausdrücken wollte, dass es keine Gründe hinter dem Verhalten der Eltern gibt, oder das, was der Champion und die Erzählerin machen, moralisch einwandfrei ist, sondern ist einfach der Limitationen der Perspektive geschuldet. "Das wirkliche Leben" ist durch die Erzählart stark von der Hauptfigur und deren Sicht auf die Welt abhängig, was den Umgang mit etlichen Themen auf ihre subjektive Perspektive beschränkt. Klar, dass zum Beispiel gerade Mutter und Vater sehr einseitig dargestellt sind, da die Erzählerin den Gesamtkontext und die Einflüsse auf die Entwicklung ihrer Eltern nicht sieht oder sehen kann. Auch dass wir hier keine richtige Traumaverarbeitung erleben und vieles im Umfeld sich sprunghaft verändert muss man zugunsten des eingängigen Figurenporträts zurückstellen. Ich kann verstehen, dass manchen Lesern etwas fehlt und man es als unangenehm empfinden kann, dass viele Dinge gegen Ende einfach so stehen gelassen werden. Ich denke jedoch, dass genau dies beabsichtigt war, um zu zeigen, dass unsere Hauptfigur noch lange nicht am Ende ihrer Entwicklung ist und eine Lösung vieler Fragen und Konflikte in diesem Kontext utopisch wäre. Fand ich die Geschichte schön zu lesen? Nein. Dennoch: "Das wirkliche Leben" ist hochspannend, tiefgründig und vor allem hinterlässt es einen bleibenden Eindruck, den ich nicht missen wollte.



Fazit
:

Adeline Dieudionnés Geschichte über Amöben und Hyänen, Opfer und Täter, Jäger und Beute, Angst und Ohnmacht, Erwachsenwerden und Stärke ist nicht nur hochspannend erzählt, sondern auch überraschend zart und einfühlsam. "Das wirkliche Leben" ist die moderne Umsetzung eines Schauermärchens, die die weibliche Opferrolle anprangert und nicht mehr loslässt!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 15.04.2021

WAS SICH MARC-UWE KLING HIER AUSGEDACHT HAT, WIRST DU NICHT GLAUBEN...

QualityLand 2.0 (QualityLand 2)
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Nach dem letzten satirischen Meisterwerk von Känguru-Kleinkünstler Marc-Dieter Kling (ähm natürlich Marc-Uwe Kling) "QualityLand" blieben noch einige Fragen offen. Was war in dem Paket, das Peter Arbeitsloser ...

Nach dem letzten satirischen Meisterwerk von Känguru-Kleinkünstler Marc-Dieter Kling (ähm natürlich Marc-Uwe Kling) "QualityLand" blieben noch einige Fragen offen. Was war in dem Paket, das Peter Arbeitsloser am Ende erhalten hat? Ist John Of Us wirklich tot, oder hat er sich womöglich ins Netz hochgeladen? Was passiert mit Martyn Vorstand nach dem Attentat, wer ist "der Alte" und weshalb trägt Kiki den Namen "Unbekannt"? Um Antworten zu erhalten hilft nur eins: mit "der ersten Thrillerromanzesciencefictionfamiliendramafantasysachbuchhorrortagebuchtruecrimekinderbuchchicklit- ratgeberheiligeschriftpornogroschenhefttextinterpretationskomödie der Literaturgeschichte" nochmal nach QualityLand reisen, dem bestesten aller Länder.

Auch "QualityLand 2.0 - Kikis Geheimnis" entführt in eine nicht ganz so ferne Zukunft, in der Deutschland den klangvollen Namen "QualityLand" trägt, um negative historische Beigeschmäcker loszuwerden und außerdem "Made in QualityLand" auf Exportgüter drucken zu können. Dieser fremdartige und doch seltsam plausible Zukunftsentwurf wurde uns schon in Band 1 geschickt durch Einschübe aus "QualityLand, Ihr persönlicher Reiseführer" und mehrere Handlungsstränge näher gebracht. Letztere werden von Erzählerin Kalliope 7.3 in dieser Fortsetzung natürlich gebührend weitergeführt. Die E-Poetin, die uns auch schon durch Band 1 geführt hat, setzt hier jedoch nicht nur auf Handlung, sondern peppt die Geschichte durch witzige Fußnoten und Clickbait-Kapitel-Überschriften wie "10 Dinge, die du noch nicht über Jennifer Aniston wusstest!" ordentlich. Zusätzlich gibt es zwischen den einzelnen Kapiteln auch wieder Werbeanzeigen, Nachrichtenbeiträge (inklusive der stupiden Kommentare natürlich) und kurze, aber reichlich bescheuerte Podcast-Auszüge von "Doppel-D, dem MV-Kanal von Dan und Dan". Wichtig zu wissen ist an dieser Stelle, dass "QualityLand" in zwei verschiedenen Editionen erschienen ist, die sich nicht nur hinsichtlich ihrer Coverfarbe, sondern auch bezüglich der Tönung der Werbeanzeigen und Nachrichtenbeiträge unterscheiden. Während in der weißen Edition vorwiegend positive Werbeanzeigen und Nachrichten gebracht werden, sind diese in der schwarzen Edition eher negativ. Aber keine Angst: Euch entgeht nichts, wenn Ihr Euch für eine Edition entscheidet - die Beiträge der anderen Version (und vieles mehr) könnt ihr auf der toll gestalteten Website zu Qualityland nachlesen.


Kommentar von: MELISSA SEXARBEITERIN
"Lasst euch nicht von den Sistemmedien belügen! Es gab schon immer schöne und hässliche Tage! Im übrigen ist die Erde ein Würfel! Und schuld an allem haben die ganzen krimniellen Auslender."


Im Zentrum der Geschichte steht mal wieder unser Protagonist Peter Arbeitsloser (der Name kommt daher, dass Jungen als Nachnamen den Beruf ihres Vaters bei der Zeugung erhalten und Mädchen nach dem ihrer Mutter benannt werden), der den Systemstreit gegen sein falsches Profil nun hinter sich gelassen, den rosa Delfinvibrator stolz in seiner Praxis aufgestellt, seine Maschinenverschrottung an den Nagel gehängt und zum Maschinentherapeut umgeschult hat. Nun schlägt er sich täglich mit den Beziehungsproblemen von Kühlschränken, verstörten Saugrobotern, Cuddle-Bots mit Berührungsängsten oder frierenden Klimaanlagen herum. Mit von Partie sind natürlich wieder seinen schrägen Maschinen, die immer noch eine Zwecks-WG in seinem Keller bilden, seit er sie vor der Verschrottung gerettet hat. Das Qualitypad mit Persönlichkeitsstörung Pink (erinnert stark an einen bekannten fiktionalen Charakter aus Marc-Uwes anderer Bestsellerreihe), unsere Erzählerin, die E-Poetin Kalliope 7.3, der panzerbrechender Kampfroboter für schwere Kriegseinsätze mit posttraumatischer Belastungsstörung Mickey, die Flugdrohne mit Flugangst Carrie, der nun bekennend homosexuelle Sexdroide Romeo und natürlich Peters persönlicher Assistent der Ohrwurm Niemand stehen Peter bei allen neuen Problemen hilfreich zur Seite. Und da kommen auf dieses verrückte Team auch einige zu, denn Peters Freundin Kiki will nicht nur das Mysterium ihrer Herkunft lüften, sondern muss sich seit neustem auch gegen den gefährlichen "Puppenspieler", dessen Avatar, den Zyklopen, der gerne Köpfe durch Wände zaubert und dessen zwei Sidekicks in grünen Jogginganzügen und mit witzigen Akzenten behaupten. Dazu kommt, dass der Chef von The Shop, dem weltweit beliebtesten Versandhändler, Henryk Ingenieur, größenwahnsinnige Pläne hegt, die seltsamerweise Peters Freundschaft und einige Entführungen beinhalten...

Könnt Ihr noch, oder hat euch dieser kreative Haufen von Nebenprotagonisten und verrückten Ideen schon zu sehr geplättet? Ich hätte da nämlich noch einen zweiten Handlungsstrang im Angebot, der die Geschehnisse um den Präsidentschaftswahlkampf weiter begleitet. Nachdem der Androide "John of Us" in die Luft gejagt wurde, ist nun Tony Parteivorstand der neue vorübergehende Präsident von QualityLand. Für seine Wahlkampfleiterin Aischa Ärztin bedeutet das nicht nur, dass Tony regelmäßig von dummen Ideen wie dem Verbieten von Schnürsenkeln abraten muss, während sie rätselt, ob es noch Spuren von "John of Us" im Netz gibt, sondern auch dass sie auf eigene Faust herausfinden muss, wieso der dritte Weltkrieg ausbrach und warum er nur wenige Stunden dauerte... Im letzten Handlungsstrang begleiten wir wieder Martyn Vorstand, der m letzten Handlungsstrang begleiten wir Martyn Vorstand der ganz oben in den oberen Gefilden der Gesellschaft startete und dank eines Vorfalls mit einer Tennissocke und eines zweiten mit einer Menge Sprengstoff ganz unten landet. Wie aus dem ehemaligen zur Bourgeoisie gehörenden Martyn ein Held der berüchtigten Lo-Levs wurden, - lest, oder hört, selbst!

Und damit wären wir bei einem weiteren wichtigen Punkt, den ich gerne ansprechen will: das Medienformat der Geschichte. Da "QualityLand 2.0" wieder weniger dialogbasiert ist als die Känguru-Reihe und als komplexe, zusammenhängende Geschichte mit mehreren Handlungssträngen daherkommt, würde ich hier eher das Buch empfehlen, auch wenn das Hörbuch durch den Autor selbst wieder professionell und kurzweilig eingesprochen ist. Was Känguru-Fans freuen wird: Auch in "QualityLand 2.0" sind wieder einige Eastereggs versteckt. Neben dem "ältesten Trick der Welt" (dies bezeichnet natürlich die Phrase "Halt mal kurz") und ikonischen Aussprüchen wie "Ein Idiot in Uniform ist immer noch ein Idiot" werden aufmerksamen Fans auch ein, zwei Nebencharaktere bekannt vorkommen... Doch auch wer die Känguru-Reihe noch nicht kennt (ich habe Mitleid mit diesen armen Menschen), wird humortechnisch voll auf seine Kosten kommen. Wieder einmal schreibt der Autor rhetorisch auf hohem Niveau und versichert durch die ständige Abwechslung subtiler Anspielungen und plumper Wortspiele, dass jede Art von Leser hier mal Lachen muss. Die vielen witzigen Szenen, Gedanken und Dialoge täuschen dabei wunderbar darüber hinweg, dass im ersten Drittel der Geschichte nicht viel Neues passiert und die Handlung erst im zweiten Drittel richtig ins Rollen gerät. Bei einigen Gags wie zum Beispiel dem Besuch von "Hitler - Das Musical" oder dem Running Gag "NBDWA" (das Akronym zu "nach Beginn der Wetteraufzeichnung") bleibt das Lachen auch schonmal im Hals stecken. Bei anderen muss man seine grauen Zellen ganz schön anstrengen, um sie zu verstehen, während wieder andere wie beispielsweise der Maschinenwitz "Der Mann zwei Pandas plitsch platsch dreizehn Sand Augen zu bumm" wohl allen Bewusstseinsformen mit einem IQ unter 300 für immer ein Rätsel bleiben werden...


YOUR SONGS – LIEDER, WIE FÜR DICH GEMACHT

"Du magst die Melodie des Songs, aber der Text passt nicht so richtig zu dir? Kein Problem! Wir deep-faken die Stimmen deiner Lieblingskünstler und lassen sie singen, was du willst!"


"QualityLand 2.0" ist jedoch nicht nur witzig, sondern beinhaltet auch Fingerzeige und Auseinandersetzungen mit verschiedenen, wichtigen Themen. Den Spagat zwischen klamaukig und ernst gelingt dem Autor mal wieder brillant. Der Autor schreibt nicht nur sprachlich und rhetorisch hervorragend, sondern tut sich auch mit enormer Fachkenntnis zu Digitalisierung und Informatik hervor. Anhand anschaulicher Beispiele erläutert er moralisch-ethische Fragestellungen, die sich mit smarter Technologie in Zukunft ergeben werden. Egal ob die moralischen Dilemmas selbstfahrender Autos, die entscheiden müssen, ob sie lieber den Level-89-Millionär oder zehn Kindergartenkinder umfahren, die verheerenden philosophischen Auswirkungen der Entwicklung einer starken KI, das "The Winner Takes It All"-Prinzip des Online-Handelns, das Dilemma von automatischen Waffensystemen oder spannende Fakten zum "Algorithmus, wo man mit muss!" - diese Themen werden auf unterhaltsame und leichtverdauliche Weise bearbeitet und sorgen für den ein oder anderen Aha-Effekt. Ein bisschen mitdenken ist also durchaus erforderlich, durch die gekonnte langsame Hinführung zu verschiedenen Themen muss man aber nicht besonders viel Vorwissen mitbringen, um der Geschichte folgen zu können.

In vielerlei Hinsicht zeigt Marc-Uwe Klings satirisches Gedankenexperiment, was in der Zukunft alles kommen könnte. Schaut man jedoch genauer hin, bemerkt man, dass unter der Oberfläche auch der jetzigen Gesellschaft den Spiegel vorgehalten wird. In QualityLand gibt es nicht nur futuristische Ideen wie selbstfahrende Autos, kaufwütige Geldautomaten, FeSaZus (mit einem Reinheitsgebot von 1/3 Fett, 1/3 Salz und 1/3 Zucker), digitale Assistenten, Maschinen mit menschlichen Eigenschaften und absolut gläserne Menschen - wir begegnen auch vielen bekannten Problemen wie Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit, Kapitalismus, Unterdrückung, soziale Ungleichheit, Unzulänglichkeiten der Lohnarbeit und Machtmissbrauch. Man tut sich nicht besonders schwer, jetzt lebende Äquivalente zu Figuren wie Konrad Koch oder Henryk Ingenieur zu finden, erkennt aktuelle Verschwörungstheorien in "Johns Followern" wieder, oder sieht in der neuen Religionsgemeinschaft der "Neolibs" eine übersteigerte Form der Kapitalismusliebe und des Marktvertrauens einiger Bevölkerungsschichten. Auch mit politischen Ausführungen und Diskussionen (mit starkem, linken Touch) spart Marc-Uwe Kling wieder einmal nicht und bettet seine Handlung in einen gewohnt gesellschaftskritischen Kontext irgendwo zwischen Dystopie und Utopie ein.


QualityWeather: DAS BESTE WETTER WEIT UND BREIT
"Sonnenschein, angenehme Temperaturen und hin und wieder eine sanfte Brise – es herrscht wie immer das beste Wetter in Qualityland.“


Wie bereits gesagt ist der einzige Kritikpunkt, dass die Handlung erst ab der Hälfte so richtig in Schwung kommt. Das ist jedoch überhaupt kein Problem, denn bis es auf der Handlungsebene ab geht, werden wir anderweitig gut unterhalten. Und als die Handlung schließlich ins Rollen kommt, Kiki herausfindet, dass sie die Tochter von GEBLOCKT ist, Peter von GEBLOCKT entführt wird, Martyn erfährt, dass GEBLOCKT hinter seinem sozialen Abstieg steckt, GEBLOCKT zum Präsidentschaftskandidat ausgerufen wird und GEBLOCKT sich als der Puppenspieler herausstellt (Werbung: diese Rezension ist garantiert spoilerfrei durch spoiler-free von WHATINEED), kann man das Buch/das Hörbuch kaum mehr beiseitelegen. Das Ende kommt dann mit ordentlichem Knalleffekt und einer großen Enthüllung, die das Warten auf den nächsten Teil schwer macht.

Jetzt bleibt natürlich noch die große Frage: "DI-DÖ-DI-DÜ" oder "TA-TA-TA-TA"? Ist "QualityLand 2.0" im Vergleich zum ersten Band ein Level aufgestiegen oder eher abgestiegen? Ich finde, Marc-Uwe hat hier sein Level gehalten, mindestens! "QualityLand 2.0" ist keine Fortsetzung, die nur mal eben geschrieben wurde, um noch ein bisschen mehr Profit zu machen. Dieser zweite Band entwickelt stimmig Charaktere und Setting weiter, enthält mehr Handlung und spielt genauso gekonnt mit Klischees, Erzählperspektiven und Übertreibungen wie der Vorgänger.



Fazit:

"Bitte bewerten Sie mich jetzt"

- OK -

Da die einzige Option, die nicht sofort eine Kundenumfrage nach sich ziehen würde, diese ist, dem Buch volle 5 Sterne zu geben, werde ich das natürlich brav tun.

Und nun noch der wahre Grund für diese Bewertung: "QualityLand 2.0" vereint spannende Themen, utopische und dystopische Beschreibungen, intelligente Gesellschaftskritik, ein gut durchdachtes Grundkonzept, ungewöhnliche Figuren und ganz viel bissigen Humor und bringt wieder zum Lachen, zum Grübeln, ab und zu auch zum besorgt die Stirn runzeln. GENIAL!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 15.04.2021

WAS SICH MARC-UWE KLING HIER AUSGEDACHT HAT, WIRST DU NICHT GLAUBEN...

QualityLand 2.0 (QualityLand 2)
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Nach dem letzten satirischen Meisterwerk von Känguru-Kleinkünstler Marc-Dieter Kling (ähm natürlich Marc-Uwe Kling) "QualityLand" blieben noch einige Fragen offen. Was war in dem Paket, das Peter Arbeitsloser ...

Nach dem letzten satirischen Meisterwerk von Känguru-Kleinkünstler Marc-Dieter Kling (ähm natürlich Marc-Uwe Kling) "QualityLand" blieben noch einige Fragen offen. Was war in dem Paket, das Peter Arbeitsloser am Ende erhalten hat? Ist John Of Us wirklich tot, oder hat er sich womöglich ins Netz hochgeladen? Was passiert mit Martyn Vorstand nach dem Attentat, wer ist "der Alte" und weshalb trägt Kiki den Namen "Unbekannt"? Um Antworten zu erhalten hilft nur eins: mit "der ersten Thrillerromanzesciencefictionfamiliendramafantasysachbuchhorrortagebuchtruecrimekinderbuchchicklit- ratgeberheiligeschriftpornogroschenhefttextinterpretationskomödie der Literaturgeschichte" nochmal nach QualityLand reisen, dem bestesten aller Länder.

Auch "QualityLand 2.0 - Kikis Geheimnis" entführt in eine nicht ganz so ferne Zukunft, in der Deutschland den klangvollen Namen "QualityLand" trägt, um negative historische Beigeschmäcker loszuwerden und außerdem "Made in QualityLand" auf Exportgüter drucken zu können. Dieser fremdartige und doch seltsam plausible Zukunftsentwurf wurde uns schon in Band 1 geschickt durch Einschübe aus "QualityLand, Ihr persönlicher Reiseführer" und mehrere Handlungsstränge näher gebracht. Letztere werden von Erzählerin Kalliope 7.3 in dieser Fortsetzung natürlich gebührend weitergeführt. Die E-Poetin, die uns auch schon durch Band 1 geführt hat, setzt hier jedoch nicht nur auf Handlung, sondern peppt die Geschichte durch witzige Fußnoten und Clickbait-Kapitel-Überschriften wie "10 Dinge, die du noch nicht über Jennifer Aniston wusstest!" ordentlich. Zusätzlich gibt es zwischen den einzelnen Kapiteln auch wieder Werbeanzeigen, Nachrichtenbeiträge (inklusive der stupiden Kommentare natürlich) und kurze, aber reichlich bescheuerte Podcast-Auszüge von "Doppel-D, dem MV-Kanal von Dan und Dan". Wichtig zu wissen ist an dieser Stelle, dass "QualityLand" in zwei verschiedenen Editionen erschienen ist, die sich nicht nur hinsichtlich ihrer Coverfarbe, sondern auch bezüglich der Tönung der Werbeanzeigen und Nachrichtenbeiträge unterscheiden. Während in der weißen Edition vorwiegend positive Werbeanzeigen und Nachrichten gebracht werden, sind diese in der schwarzen Edition eher negativ. Aber keine Angst: Euch entgeht nichts, wenn Ihr Euch für eine Edition entscheidet - die Beiträge der anderen Version (und vieles mehr) könnt ihr auf der toll gestalteten Website zu Qualityland nachlesen.


Kommentar von: MELISSA SEXARBEITERIN
"Lasst euch nicht von den Sistemmedien belügen! Es gab schon immer schöne und hässliche Tage! Im übrigen ist die Erde ein Würfel! Und schuld an allem haben die ganzen krimniellen Auslender."


Im Zentrum der Geschichte steht mal wieder unser Protagonist Peter Arbeitsloser (der Name kommt daher, dass Jungen als Nachnamen den Beruf ihres Vaters bei der Zeugung erhalten und Mädchen nach dem ihrer Mutter benannt werden), der den Systemstreit gegen sein falsches Profil nun hinter sich gelassen, den rosa Delfinvibrator stolz in seiner Praxis aufgestellt, seine Maschinenverschrottung an den Nagel gehängt und zum Maschinentherapeut umgeschult hat. Nun schlägt er sich täglich mit den Beziehungsproblemen von Kühlschränken, verstörten Saugrobotern, Cuddle-Bots mit Berührungsängsten oder frierenden Klimaanlagen herum. Mit von Partie sind natürlich wieder seinen schrägen Maschinen, die immer noch eine Zwecks-WG in seinem Keller bilden, seit er sie vor der Verschrottung gerettet hat. Das Qualitypad mit Persönlichkeitsstörung Pink (erinnert stark an einen bekannten fiktionalen Charakter aus Marc-Uwes anderer Bestsellerreihe), unsere Erzählerin, die E-Poetin Kalliope 7.3, der panzerbrechender Kampfroboter für schwere Kriegseinsätze mit posttraumatischer Belastungsstörung Mickey, die Flugdrohne mit Flugangst Carrie, der nun bekennend homosexuelle Sexdroide Romeo und natürlich Peters persönlicher Assistent der Ohrwurm Niemand stehen Peter bei allen neuen Problemen hilfreich zur Seite. Und da kommen auf dieses verrückte Team auch einige zu, denn Peters Freundin Kiki will nicht nur das Mysterium ihrer Herkunft lüften, sondern muss sich seit neustem auch gegen den gefährlichen "Puppenspieler", dessen Avatar, den Zyklopen, der gerne Köpfe durch Wände zaubert und dessen zwei Sidekicks in grünen Jogginganzügen und mit witzigen Akzenten behaupten. Dazu kommt, dass der Chef von The Shop, dem weltweit beliebtesten Versandhändler, Henryk Ingenieur, größenwahnsinnige Pläne hegt, die seltsamerweise Peters Freundschaft und einige Entführungen beinhalten...

Könnt Ihr noch, oder hat euch dieser kreative Haufen von Nebenprotagonisten und verrückten Ideen schon zu sehr geplättet? Ich hätte da nämlich noch einen zweiten Handlungsstrang im Angebot, der die Geschehnisse um den Präsidentschaftswahlkampf weiter begleitet. Nachdem der Androide "John of Us" in die Luft gejagt wurde, ist nun Tony Parteivorstand der neue vorübergehende Präsident von QualityLand. Für seine Wahlkampfleiterin Aischa Ärztin bedeutet das nicht nur, dass Tony regelmäßig von dummen Ideen wie dem Verbieten von Schnürsenkeln abraten muss, während sie rätselt, ob es noch Spuren von "John of Us" im Netz gibt, sondern auch dass sie auf eigene Faust herausfinden muss, wieso der dritte Weltkrieg ausbrach und warum er nur wenige Stunden dauerte... Im letzten Handlungsstrang begleiten wir wieder Martyn Vorstand, der m letzten Handlungsstrang begleiten wir Martyn Vorstand der ganz oben in den oberen Gefilden der Gesellschaft startete und dank eines Vorfalls mit einer Tennissocke und eines zweiten mit einer Menge Sprengstoff ganz unten landet. Wie aus dem ehemaligen zur Bourgeoisie gehörenden Martyn ein Held der berüchtigten Lo-Levs wurden, - lest, oder hört, selbst!

Und damit wären wir bei einem weiteren wichtigen Punkt, den ich gerne ansprechen will: das Medienformat der Geschichte. Da "QualityLand 2.0" wieder weniger dialogbasiert ist als die Känguru-Reihe und als komplexe, zusammenhängende Geschichte mit mehreren Handlungssträngen daherkommt, würde ich hier eher das Buch empfehlen, auch wenn das Hörbuch durch den Autor selbst wieder professionell und kurzweilig eingesprochen ist. Was Känguru-Fans freuen wird: Auch in "QualityLand 2.0" sind wieder einige Eastereggs versteckt. Neben dem "ältesten Trick der Welt" (dies bezeichnet natürlich die Phrase "Halt mal kurz") und ikonischen Aussprüchen wie "Ein Idiot in Uniform ist immer noch ein Idiot" werden aufmerksamen Fans auch ein, zwei Nebencharaktere bekannt vorkommen... Doch auch wer die Känguru-Reihe noch nicht kennt (ich habe Mitleid mit diesen armen Menschen), wird humortechnisch voll auf seine Kosten kommen. Wieder einmal schreibt der Autor rhetorisch auf hohem Niveau und versichert durch die ständige Abwechslung subtiler Anspielungen und plumper Wortspiele, dass jede Art von Leser hier mal Lachen muss. Die vielen witzigen Szenen, Gedanken und Dialoge täuschen dabei wunderbar darüber hinweg, dass im ersten Drittel der Geschichte nicht viel Neues passiert und die Handlung erst im zweiten Drittel richtig ins Rollen gerät. Bei einigen Gags wie zum Beispiel dem Besuch von "Hitler - Das Musical" oder dem Running Gag "NBDWA" (das Akronym zu "nach Beginn der Wetteraufzeichnung") bleibt das Lachen auch schonmal im Hals stecken. Bei anderen muss man seine grauen Zellen ganz schön anstrengen, um sie zu verstehen, während wieder andere wie beispielsweise der Maschinenwitz "Der Mann zwei Pandas plitsch platsch dreizehn Sand Augen zu bumm" wohl allen Bewusstseinsformen mit einem IQ unter 300 für immer ein Rätsel bleiben werden...


YOUR SONGS – LIEDER, WIE FÜR DICH GEMACHT

"Du magst die Melodie des Songs, aber der Text passt nicht so richtig zu dir? Kein Problem! Wir deep-faken die Stimmen deiner Lieblingskünstler und lassen sie singen, was du willst!"


"QualityLand 2.0" ist jedoch nicht nur witzig, sondern beinhaltet auch Fingerzeige und Auseinandersetzungen mit verschiedenen, wichtigen Themen. Den Spagat zwischen klamaukig und ernst gelingt dem Autor mal wieder brillant. Der Autor schreibt nicht nur sprachlich und rhetorisch hervorragend, sondern tut sich auch mit enormer Fachkenntnis zu Digitalisierung und Informatik hervor. Anhand anschaulicher Beispiele erläutert er moralisch-ethische Fragestellungen, die sich mit smarter Technologie in Zukunft ergeben werden. Egal ob die moralischen Dilemmas selbstfahrender Autos, die entscheiden müssen, ob sie lieber den Level-89-Millionär oder zehn Kindergartenkinder umfahren, die verheerenden philosophischen Auswirkungen der Entwicklung einer starken KI, das "The Winner Takes It All"-Prinzip des Online-Handelns, das Dilemma von automatischen Waffensystemen oder spannende Fakten zum "Algorithmus, wo man mit muss!" - diese Themen werden auf unterhaltsame und leichtverdauliche Weise bearbeitet und sorgen für den ein oder anderen Aha-Effekt. Ein bisschen mitdenken ist also durchaus erforderlich, durch die gekonnte langsame Hinführung zu verschiedenen Themen muss man aber nicht besonders viel Vorwissen mitbringen, um der Geschichte folgen zu können.

In vielerlei Hinsicht zeigt Marc-Uwe Klings satirisches Gedankenexperiment, was in der Zukunft alles kommen könnte. Schaut man jedoch genauer hin, bemerkt man, dass unter der Oberfläche auch der jetzigen Gesellschaft den Spiegel vorgehalten wird. In QualityLand gibt es nicht nur futuristische Ideen wie selbstfahrende Autos, kaufwütige Geldautomaten, FeSaZus (mit einem Reinheitsgebot von 1/3 Fett, 1/3 Salz und 1/3 Zucker), digitale Assistenten, Maschinen mit menschlichen Eigenschaften und absolut gläserne Menschen - wir begegnen auch vielen bekannten Problemen wie Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit, Kapitalismus, Unterdrückung, soziale Ungleichheit, Unzulänglichkeiten der Lohnarbeit und Machtmissbrauch. Man tut sich nicht besonders schwer, jetzt lebende Äquivalente zu Figuren wie Konrad Koch oder Henryk Ingenieur zu finden, erkennt aktuelle Verschwörungstheorien in "Johns Followern" wieder, oder sieht in der neuen Religionsgemeinschaft der "Neolibs" eine übersteigerte Form der Kapitalismusliebe und des Marktvertrauens einiger Bevölkerungsschichten. Auch mit politischen Ausführungen und Diskussionen (mit starkem, linken Touch) spart Marc-Uwe Kling wieder einmal nicht und bettet seine Handlung in einen gewohnt gesellschaftskritischen Kontext irgendwo zwischen Dystopie und Utopie ein.


QualityWeather: DAS BESTE WETTER WEIT UND BREIT
"Sonnenschein, angenehme Temperaturen und hin und wieder eine sanfte Brise – es herrscht wie immer das beste Wetter in Qualityland.“


Wie bereits gesagt ist der einzige Kritikpunkt, dass die Handlung erst ab der Hälfte so richtig in Schwung kommt. Das ist jedoch überhaupt kein Problem, denn bis es auf der Handlungsebene ab geht, werden wir anderweitig gut unterhalten. Und als die Handlung schließlich ins Rollen kommt, Kiki herausfindet, dass sie die Tochter von GEBLOCKT ist, Peter von GEBLOCKT entführt wird, Martyn erfährt, dass GEBLOCKT hinter seinem sozialen Abstieg steckt, GEBLOCKT zum Präsidentschaftskandidat ausgerufen wird und GEBLOCKT sich als der Puppenspieler herausstellt (Werbung: diese Rezension ist garantiert spoilerfrei durch spoiler-free von WHATINEED), kann man das Buch/das Hörbuch kaum mehr beiseitelegen. Das Ende kommt dann mit ordentlichem Knalleffekt und einer großen Enthüllung, die das Warten auf den nächsten Teil schwer macht.

Jetzt bleibt natürlich noch die große Frage: "DI-DÖ-DI-DÜ" oder "TA-TA-TA-TA"? Ist "QualityLand 2.0" im Vergleich zum ersten Band ein Level aufgestiegen oder eher abgestiegen? Ich finde, Marc-Uwe hat hier sein Level gehalten, mindestens! "QualityLand 2.0" ist keine Fortsetzung, die nur mal eben geschrieben wurde, um noch ein bisschen mehr Profit zu machen. Dieser zweite Band entwickelt stimmig Charaktere und Setting weiter, enthält mehr Handlung und spielt genauso gekonnt mit Klischees, Erzählperspektiven und Übertreibungen wie der Vorgänger.



Fazit:

"Bitte bewerten Sie mich jetzt"

- OK -

Da die einzige Option, die nicht sofort eine Kundenumfrage nach sich ziehen würde, diese ist, dem Buch volle 5 Sterne zu geben, werde ich das natürlich brav tun.

Und nun noch der wahre Grund für diese Bewertung: "QualityLand 2.0" vereint spannende Themen, utopische und dystopische Beschreibungen, intelligente Gesellschaftskritik, ein gut durchdachtes Grundkonzept, ungewöhnliche Figuren und ganz viel bissigen Humor und bringt wieder zum Lachen, zum Grübeln, ab und zu auch zum besorgt die Stirn runzeln. GENIAL!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere