Was die Toten erzählen könnten
Die Totenärztin: Wiener BlutFanny Goldmann hat ein für ihre Zeit außergewöhnliches Interesse. Die junge Frau hat Medizin studiert, aber nicht die Lebenden möchte sie versorgen und heilen, sondern sie möchte den Toten, die nicht mehr ...
Fanny Goldmann hat ein für ihre Zeit außergewöhnliches Interesse. Die junge Frau hat Medizin studiert, aber nicht die Lebenden möchte sie versorgen und heilen, sondern sie möchte den Toten, die nicht mehr für sich selbst sprechen können, eine Stimme verleihen. Im Wiener Institut für Gerichtsmedizin, wo Fanny arbeitet, wird sie als Frau nicht für voll genommen. Obwohl sie die gleiche Ausbildung genossen hat wie ihre männlichen Kollegen, darf sie selbst keine Obduktionen vornehmen, sondern ist Mädchen für alles, darf allenfalls assistieren oder Reinigungsarbeiten vornehmen. Damit will sie sich jedoch nicht abfinden, noch dazu als ihr bei einem Toten, der eingeliefert wird, einige seltsame Dinge auffallen, denn Fanny nimmt ihren Beruf ernst, und sie schaut sehr genau hin! Keiner glaubt ihr, und so beschließt sie, den toten Obdachlosen auf eigene Faust zu untersuchen. Heimlich schleicht sie sich nachts ins Institut.
Fanny ist eine starke Protagonistin. Frauen hatten es zur damaligen Zeit nicht leicht, in einem solchen Beruf Fuß zu fassen, denn die Medizin war weitgehend eine Männerdomäne. Wie es ihr immer wieder gelingt, ihre Interessen durchzusetzen und dabei einem spannenden Kriminalfall auf die Spur zu kommen, beschreibt der Autor ungeheuer spannend und mit viel Verve. Fanny entdeckt bei ihren Nachforschungen die dunkle Seite der Stadt, die in einem starken Kontrast zum gemütlichen Wien mit seinem liebenswerten Dialekt, seinen eindrucksvollen Bauwerken und Anlagen, den schönen Künsten und den lauschigen Kaffeehäusern steht. Auch ein Schauplatz, den wir bereits aus René Anours vorherigem Roman kennen, nämlich der Narrenturm, findet wieder Erwähnung. Während Fanny einen sehr spannenden und verwirrenden Fall zu lösen versucht, lernen die Leser Wien mit vielen Facetten kennen. Man begegnet einigen sehr interessanten Charakteren, die zum Teil nicht das sind, was sie vorgeben.
Fanny hat ein paar sehr unangenehme Begegnungen, aber es gibt auch Menschen, die zu ihr stehen und ihr helfen, so zum Beispiel ihre liebenswerte Freundin Tilde oder ihr Cousin Schlomo bzw. Maître François, wie er sich nennt, da er als Maskenbildner am Theater arbeitet.
Ich muss schon sagen, das Lesen löst eine ziemliche Achterbahn der Empfindungen aus, denn im einen Moment nimmt man, zumindest geistig, an einer Prosektur teil, und ein paar Seiten später schaut man Fanny, ihrem Vater und ihrer Freundin beim Verspeisen leckerer Marillenknödel über die Schulter. Es ist ein Roman der Überraschungen, mit viel Zeitkolorit, abwechslungsreich, kurzweilig, ein wenig gruselig, spannend und durchaus auch mit einer guten Prise Humor. Oft sind es die kleinen, versteckten Hinweise, die später ein Aha-Erlebnis hervorrufen. Auch einigen realen historischen Personen „begegnen“ wir in der Geschichte.
„Wiener Blut“, wobei man den Titel hier durchaus wörtlich nehmen darf, ist der erste Teil einer Dilogie, wobei noch nicht ganz klar ist, ob Fannys Abenteuer nach dem zweiten Teil wirklich schon beendet sind (ich hoffe nicht!!!) Ein ziemlich raffinierter Cliffhanger am Ende des Buches lässt auf eine möglichst schnelle Fortsetzung hoffen. Glücklicherweise wird es bereits heuer im Oktober ein Wiedersehen mit Fanny geben, wobei ich gesehen habe, dass auch eine sehr unangenehme Person wieder mit von der Partie ist. Es wird ganz sicher wieder sehr spannend, und ich freue mich jetzt schon auf ein Wiedersehen mit Fanny.