Großartig!
Der ehemalige Sohn„Vielleicht wird ja alles anders, wenn du aufwachst, aber derzeit rate ich dir - wach nicht auf! Schlaf weiter. Nein, im Ernst, schlaf lieber. Sonst sagst du noch was, und wirst sofort eingesperrt oder ...
„Vielleicht wird ja alles anders, wenn du aufwachst, aber derzeit rate ich dir - wach nicht auf! Schlaf weiter. Nein, im Ernst, schlaf lieber. Sonst sagst du noch was, und wirst sofort eingesperrt oder zusammengeschlagen vor dem Hauseingang. Etwas anderes gibt es nicht in diesem Land. Entweder du hältst die Klappe, oder du kriegst eine auf den Deckel. Das ganze Land schläft, also schlaf auch du ruhig weiter. So beschissen ging's uns noch nie.“ (S. 155f)
Warum zu Hause sitzen und Tonleitern und Partituren üben, wenn man auch draußen das Leben genießen kann? Der 16-jährige Franzisk Lukitsch sollte eigentlich für seine Abschlussprüfungen am Konservatorium lernen, seine Handfertigkeit und Leichtigkeit am Cello verbessern, doch die Aussicht, gemeinsam mit seinen besten Freunden auf ein Festival zu gehen – und dort das Mädchen zu treffen, in das er verliebt ist –, ist um einiges verlockender. Doch als ein unvorhergesehener Wolkenbruch die Menschen in Aufruhr versetzt, entbricht eine Massenpanik, bei der Zisk schwer verletzt wird und schließlich ins Koma versetzt wird. Seine Mutter, seine Freunde, die Ärzte, alle haben ihn von Beginn an aufgegeben, er sei nicht mehr als ein lebloses Stück Gemüse; einzig seine Großmutter ist davon überzeugt, dass er eines Tages aufwache würde und kämpft dafür, dass die ärztliche Versorgung fortgeführt wird. Sie weicht keine Sekunde von seinem Krankenbett, spielt ihm Partituren vor, guckt mit ihm Fußballspiele im Fernsehen, schmückt sein Zimmer mit Fotos und Erinnerungen. Nach zehn Jahren schließlich passiert es wirklich: Franzisk macht die Augen auf und erwacht in einem Land, das in der Zeit eingefroren scheint.
In seinem Roman „Der ehemalige Sohn“, von Ruth Altenhofer aus dem Russischen übersetzt, erzählt Sasha Filipenko unter dem Deckmantel des ergreifenden Schicksals eines jungen Mannes von einem politisch gezeichneten Land, das von Aufständen, Gewalt und Unterdrückung betroffen ist. Symbolisch für den Stillstand, für die scheinbare Ausweglosigkeit steht Franzisk, der zehn Jahre im Koma lag, und in dieser Zeit von all dem – zu seinem großen Glück, wie die Großmutter meinte – nichts mitbekommen hat: