Das Gnadenjahr der Gesellschaft - Unterdrückung, Erniedrigung, Ermordung
The Grace YearInhaltserzählung und Leseprobe:
Niemand spricht über das Gnadenjahr.
Es ist verboten.
Angeblich besitzen wir die Macht, Männer aus ihren Betten zu locken, Jungen in den Wahnsinn zu treiben und Ehefrauen ...
Inhaltserzählung und Leseprobe:
Niemand spricht über das Gnadenjahr.
Es ist verboten.
Angeblich besitzen wir die Macht, Männer aus ihren Betten zu locken, Jungen in den Wahnsinn zu treiben und Ehefrauen vor Eifersucht zum Rasen zu bringen. Sie glauben, unsere Haut verströme ein starkes Aphrodisiakum: das wirksame Elixier der Jugend eines Mädchen im Übergang zur Frau. Deshalb werden wir während unseres sechzehnten Lebensjahres verbannt. Wir sollen unsere magischen Kräfte in die Wildnis entlassen, bevor man uns erlaubt, in die Zivilisation zurückzukehren.
Die Wahrheit über das Gnadenjahr, über das, was in diesen dunklen zwölf Monaten geschieht, verbirgt sich in den vielen Teilchen der Staubfäden, die um sie herumweben, wenn sie sich unbeobachtet glauben.
Aber mir entgeht nichts.
Früher glaubte ich, das sei meine Magie - Dinge sehen zu können, die andere nicht sahen. Dinge, die sie gar nicht wahrhaben wollten. Aber man muss nur die Augen aufmachen.
Meine Augen sind weit offen.
(Seite 9 und 19)
In diesem Jahr gibt es zwölf heiratsfähige Jungen in Garner County - Jungen, die in eine Familie von Stand und Ansehen geboren wurden. Und es gibt dreiunddreißig Mädchen.
Heute werden wir durch die Stadt ziehen und uns den Jungen ein letztes Mal präsentieren, bevor sie sich zu den Männern in der Hauptscheune begeben, um dort über unsere Schicksale zu verhandeln, als wären wir Vieh. Was der Wahrheit ziemlich nah kommt, wenn man bedenkt, dass wir kurz nach unserer Geburt tatsächlich auf der Fußsohle mit dem Siegel unseres Vaters gebrandmarkt werden. Wenn alle Ansprüche geltend gemacht sind, überbringen unsere Väter den wartenden Mädchen in der Kirche die Schleier, setzen den Auserwählten die durchscheinenden Ungetüme wortlos auf. Und morgen früh, wenn wir alle auf den Marktplatz aufgereiht stehen, um in unser Gnadenjahr aufzubrechen, wird jeder Junge den Schleier des Mädchens seiner Wahl lüften, als Eheversprechen, während der Rest von uns komplett überflüssig ist.
(Seite 16)
Eine Ratte im Labyrinth kann überall hingehen, solange sie im Labyrinth bleibt.
(Der Report der Magd von Margaret Atwood)
Autorin:
Mit 16 Jahren verließ Kim Liggett ihre ländliche Heimatstadt im Mittleren Westen, um in New York Karriere als Sängerin zu machen. Sie war Backgroundsängerin für einige der größten Rockbands der 80er Jahre. Sie liebt Tarot-Karten und ist eine leidenschaftliche Sammlerin seltener Parfümfläschchen. In den USA veröffentlichte sie bereits mehrere Jugendbücher.
Übersetzerin:
Birgit Salzmann, geboren 1964, studierte Deutsche Sprache und Literatur, Anglistik und Romanistik und übersetzt seit vielen Jahren englischsprachige Literatur ins Deutsche. Sie lebt mit ihrer Familie in Marburg.
Bewertung:
Das Cover erinnert mich an ein Sachbuch-Cover, dass den Widerstand von Frauen zeigt. Kein bestimmtes Buch, sondern einfach die Art und Weise des Covers. Es gibt Bücher, die auch mit solchen Handbewegungen geziert sind, alles im Sinne von Frauenbewegungen und Menschlichkeit. Das Cover ist wunderschön und passt hervorragend zur Geschichte, genauso wie der Titel. Ich bin wirklich sehr froh, dass der Originaltitel übernommen wurde. Mich stört nur wieder diese Zusatzsätze ... Ihr Widerstand ist die Liebe ... so ein unnötiger Quatsch. Tierneys Widerstand ist ihr Wille zur Freiheit und Unabhängigkeit. Liebe ist da nur später dabei. Nicht nur diese blöden Sätze, die das Cover verunstalten (warum kann man nicht einfach den Titel Titel sein lassen???), auch noch ständig diese Übertreibungen. 🙄 👎
Richtig cool finde ich, dass die rote Blume auf dem Cover aus der Geschichte entnommen wird: (...) und auch die geheimnisvolle rote Blume sprenkeln den Weg. Fünf Blütenblätter, perfekt geformt, als wäre sie für uns gemacht. Eins für die Mädchen im Gnadenjahr, eins für die Ehefrauen, eins für die Arbeiterrinnen, eins für die Frauen in den Außenbezirken und eins für sie selbst. (Seite 13)
Das Buch ist in den vier Jahreszeiten geteilt worden, allerdings passt das nicht sehr gut. Es vergeht zum Bespiel nur eine Nacht und schon ist Winter. Bei den anderen Jahreszeiten sind die Sprünge auch so gut wie nicht vorhanden. So eine Einteilung ergibt nur Sinn, wenn es große Zeitsprünge gibt. Denn von einem Abend zum anderen Morgen wechselt keine Jahreszeit. Das wäre wirklich Magie. Es gibt keine Kapitel in diesem Buch. Die kapitelähnlichen Blöcke sind mit einer Blume voneinander getrennt. Die Gesamtaufmachung ist gleichmäßig gehalten.
Verheiratet zu werden, ist kein Privileg für mich. Annehmlichkeit hat mit Freiheit nichts zu tun. Es ist ein goldener Käfig, sicher, aber immer noch ein Käfig. Im Arbeitshaus gehört mein Leben wenigstens noch mir. Gehört mein Körper noch mir.
(Seite 18)
Der Erzählstil ist in der Ich-Form von Tierney, der Protagonistin hier. Der Schreibstil ist sehr flüssig und der Verlauf unheimlich zügig zu lesen. Ich war innerhalb einiger Stunden mit dem Buch durch, ich konnte nicht aufhören, zu lesen. Die Beschreibungen der Gesellschaft sind sehr realistisch und eindrucksvoll. Der Titel und die Geschichte beziehen sich auf das Jahr, indem die Mädchen zusammengepfercht und sich selbst überlassen werden. Die eigentliche Schande ist das System selbst und die Herrenschaft (extra so geschrieben), die es erschaffen hat. Wir lesen ein paar Seiten über die Gesellschaft und wie Tierney und die anderen Mädchen und Frauen leben. Die Vorbereitung auf das Gnadenjahr. Dann folgt das Gnadenjahr selbst und zum Schluss die Rückkehr, die nur ein paar Seiten erfasst.
Tierney ist, wie alle in ihrem Jahrgang, sechzehn Jahre alt. Sie ist das typisch eigenwillige, aber sanftmütige Kind, von dem wir oft in Romanen lesen. Sie lebt reflektiert und stellt die Gesellschaft und ihr frauenfeindliches System infrage.
Es gibt viele Nebencharaktere, daher finde ich es mühselig, auf jede einzelne Figur einzugehen. Alleine der Gnadenjahr-Jahrgang hat zweiunddreißig Figuren, ohne Tierney. Eine kleine Rolle spielen noch ihre Eltern, die Mutter etwas mehr, ihre Geschwister, ihr bester Freund Michael und ein Freund Hans. Aber es sind viel zu viele Charaktere, die immer wieder eine Rolle spielen oder erst später dazustoßen. Das lasse ich also im Dunkeln.
Einiges zum Verlauf kann ich hier nicht bewerten, da sie spoilern. Daher sind sie in der Lese-Chronik verzeichnet. Es gibt hier unvorhersehbares, wie auch vorhersehbares. Die vorhersehbaren Szenen hätte die Autorin anders schreiben können, undurchschaubarer, aber sie hat sich für den gleichen Stil wie andere Autoren entschieden, das bedaure ich sehr. Andererseits gibt es auch ein paar richtige Überraschungen, die wirklich überraschend zu lesen sind.
Es gibt auch ein paar unlogische Gegebenheiten: Zum Beispiel haben die Mädchen nichts in dieser Unterkunft, bis auf ein wenig Nahrung und ihre eigenen Bündel - aber sie haben Äxte und Sägen für Holzarbeiten?! Auch hier gibt es noch in der Lese-Chronik.
Den Kopf schmunzelnd schütteln musste ich bei einer von Tierneys Aussagen, es gibt viele, aber die muss einfach Erwähnung finden: Sie erzählt, dass Männer die Wahl haben, die keinen hohen Stand besitzen. Entweder die harte Feldarbeit oder kastriert als Wächter mit Annehmlichkeiten. Und doch entscheiden sich die meisten für die Feldarbeit, sagt sie. Ja, natürlich tun sie das. Logisches Denken, wenn man weiß, wie Männer denken und funktionieren. Fast jeder Mann (Ausnahmen gibt es immer) würde alles tun, um seine Manneskraft zu behalten. Das ist ja das Ur-Problem dieses Systems: Sie glauben mit ihrem hässlichen Hänge-Ding über den Frauen zu stehen, die Macht zu haben. Weil sie die Reinstecker sind, nicht die Reingesteckten. Für jemanden wie mich also gar keine Verwunderung, wieso die Männer lieben harte Arbeit verrichten. Tierney müsste das eigentlich klar sein, denn sie selbst will auch lieber zur Feldarbeit als zu heiraten, weil sie dann wenigstens ihren Körper behalten darf. Dass da auch Missbrauch normal ist, muss Michael ihr erst sagen, aber das Prinzip ist dasselbe.
Wir dürfen nicht träumen. Die Männer glauben, wir könnten auf diese Weise unsere Magie verbergen. Allein diese Träume zu haben, würde schon reichen, um betraft zu werden, aber wenn irgendwer davon erführe, was ich da träume, hieße das den Galgen.
(Seite 14)
Das ganze System ist Wirklichkeit für alle Mädchen und Frauen weltweit. Auch in der realen Welt werden Frauen hingerichtet, wenn die Männer sie loswerden wollen, unter fingierten Anklagen. Das hat die Autorin in der Geschichte ebenfalls eingebaut. Was auch wirklich sehr glaubhaft und realistisch zur Geltung kommt, ist die Feindseligkeit der Mädchen und Frauen zueinander. Auch das ist Alltag in unserer Welt. Dieses frauenfeindliche System vergiftet auch uns Frauen, schon als Mädchen wachsen wir damit auf. Neid, Eifersucht, Missgunst, Rachedurst, Intrigen gehen von Mädchen zu Mädchen, von Frau zu Frau, von Mädchen zu Frau, von Frau zu Mädchen. Wir nehmen das nur als bloße Zickereien unter Mädchen und Frauen wahr, aber es ist viel mehr. Es ist geballte Zerstörungskraft, die wir uns gegenseitig zuschleudern und uns niederreißen. Während die Männer sich gemütlich zurücklehnen und ihr Machgefühl genießen. Diese permanente Feindseligkeit und Demütigung der Männer und Anerkennungsdrang der Frauen, ihnen zu gefallen, treibt das System weiter und weiter. Solange wir uns gegenseitig bekriegen, anstatt zusammenzuhalten und gegen das System ankämpfen, solange wird das auch so weitergehen. Es ist das, was wir auch in anderen Bereichen kennen: Arme gegen Arme, sie bekriegen sich gegenseitig, weil sie es nicht wagen, die Ohnmacht und Wut gegen die eigentlichen Verursacher, die Reichen und Politiker, zu werfen. Und auch das ist so gewollt. Das hat die Autor auch unheimlich klar und penetrant aufgeführt.
Es wird auch sehr penetrant immer wieder geschrieben, dass die Männer glauben, dass dies und das mit den Mädchen ist. Dass sie dies und das tun können, wegen ihrer Magie. Und so weiter. Dabei geht es gar nicht um Glauben, sondern um Wissen. Die Männer glauben das ganze Zeug nicht, sie wissen ganz genau, dass es nicht so ist. Aber mit diesen Ammenmärchen stellen sie die Mädchen und Frauen ruhig. Sie sollen gehorsam sein und gehorchen. Es geht alleine darum, die Macht zu behalten, die sie über die Mädchen und Frauen ausüben. Es soll die Mädchen und Frauen daran hindern, aufzubegehren und ein freies und selbstbestimmtes Leben einzufordern, wie es ihnen zusteht. Auch das Juden-Modell wird hier angewandt: Die Juden sind schon immer Epochenweise Schuld an allem gewesen. Genauso wie das weibliche Geschlecht von Anbeginn der Zeit an allem Schuld ist. Deshalb werden wir auch unterdrückt und müssen den Männern gehorchen. Die ideale Ausrede des männlichen Geschlechts. Auch die erste aller Sünden, die eine Frau begangen haben soll, Eva, wird hier ständig erwähnt, wie sie auch ständig in allen Religionen der Welt in unserer Realität propagiert wird. Mal eine kleine Zwischenfrage: Wer hat denn die ganzen Bibelgeschichten geschrieben? Ja, Männer, genau. Wir wissen es also besser. Die Männer auch, aber das dient ihnen als Vorlage für all ihren Missbrauch an dem weiblichen Geschlecht.
Auch das ist alles kein Märchen, sondern harte Realität für uns Mädchen und Frauen auf der ganzen Welt. Das System ist ein und dasselbe, nur unterscheiden sich in vielen Ländern die Art der Methoden, um es aufrecht zu erhalten. Versteht ihr nicht? Okay, dann mal ein paar Beispiele: Massenvergewaltigungen gibt es hier natürlich auch (schon alleine 'natürlich' zu schreiben, ist doch aufschreckend, oder nicht?), aber in Indien beispielsweise ist das an der Tagesordnung - wenn wir jetzt nicht die Kriegsvergewaltigungen dazunehmen. Und nicht so selten sterben die Mädchen und Frauen an den massiven Verletzungen. In vielen Ländern dürfen Frauen nicht zur Schule, nicht schreiben und lesen lernen, geschweige denn, etwas von der Welt erfahren. Denn Bildung ist Macht, und das gefällt der Herrschaft dort gar nicht. Sie dürfen keine Berufe ergreifen oder wählen gehen. Sie werden zu Sklaven aller Art gehalten. Sie dürfen nicht tragen, was sie möchten, müssen sich verhüllen. Ich denke, ihr wisst genau, was ich meine, wenn ich von unserem Leben spreche, in diesem hierarchen System. Viele wollen es nur nicht wahrhaben und leugnen lieber. Das berühmte und abgewandelte Sprichwort "Nichts sehen, nichts sagen, nichts hören" beschreibt das gut.
(Auch hier bitte daran denken; in allem gibt es Ausnahmen! Aber sind es nun mal nur Ausnahmen, nicht die Regel)
Das Ende bleibt offen. Ich hätte mir mehr von Danach gewünscht, mehr von der Rückkehr und was sich alles tut. Vor allem die Entwicklung zwischen ihr und Michael fehlt mir hier sehr. Das ist alles sehr salopp. Gleichzeitig ist das Ende auch Faden, den jeder von uns eigenständig weiterspinnen soll, die Gesellschaft verbessern, das System aufbrechen ... das kommt von Tierney nach der Rückkehr so rüber und auch die Autorin in ihrem Dankeswort ist da für mich sehr deutlich.
Fazit:
Die Geschichte erinnert mich etwas an "Panem", auch hier müssen Auserwählte (aber nur Mädchen) kämpfen, um zurückzudürfen. An sich keine neue Idee, denn das System ist uralt und Wirklichkeit. Aber wie die Autorin es in eine erfundenen Geschichte umsetzt, ist neu. Genauso wie andere Geschichten in der Art. Es gibt ein paar Bücher, die sich mit unseren System befassen, die die Autoren natürlich etwas andersartig gespinnt haben, aber unser Alltgassystem deutlich herauszulesen ist. Es geht nicht um jede Umschreibung und Handlung. Ob in einer Welt, wo gebärfähige Frauen Kinder gebären müssen für andere und ihre Namen verlieren oder wo sie ihre angebliche Magie in einem zeremoniellen Jahr loswerden sollen ... Die können unterschiedlich sein, wie die Bücher zeigen. Es geht um das System, das immer gleich bleibt dabei. Die Unterdrückung des weiblichen Geschlechts. Wie Tierney in diesem Buch sagt: Man muss nur die Augen aufmachen.
Für diejenigen, die dafür bereit sind, empfehle ich folgende Werke, die mir spontan einfallen:
#Female Pleasure
https://www.ebay.de/itm/283559613676?epid=17044646437&hash=item42057854ec:g:y9YAAOSwoR1dOV1x
Wir sind viele, wir sind eins
https://www.droemer-knaur.de/buch/melinda-gates-wir-sind-viele-wir-sind-eins-9783426277928
Unsichtbare Frauen
https://www.penguinrandomhouse.de/Paperback/Unsichtbare-Frauen/Caroline-Criado-Perez/btb/e561586.rhd
Was Männer nie gefragt werden
https://www.fischerverlage.de/buch/fraenzi-kuehne-was-maenner-nie-gefragt-werden-9783596705825
Woman
https://mindjazz-pictures.de/filme/woman/
Die Geisha
https://www.penguinrandomhouse.de/Taschenbuch/Die-Geisha/Arthur-Golden/Penguin/e499884.rhd
Whistleblower
(Von den ganzen Dokumentationen sehe ich mal ab, das sprengt den Rahmen, ist auch nur das, was mir jetzt spontan in den Sinn kommt.)
Für Leser/innen, die mit Scheuklappen durch ihre Seifenblasenwelt laufen ist das Buch sicher schockierend. Und Gedanke wie "sowas gibt es zum Glück nicht" werden aufkommen. Leider irrt ihr Seifenblasen-Leser/innen euch. Leider!
Das Buch wird als Jugendbuch gelistet, wo es auch hingehört. Leider listet die Bücherei das Buch als Science Fiction-Roman, was überhaupt nicht stimmt. Das suggestiert uns wieder, dass alles bloße Erfindung und eine völlig fremde Gesellschaft ist. Wundern tut mich das Verhalten aber auch wieder nicht. Lieber nicht genau darüber nachdenken und weitermachen wie bisher. Es ist nur eine Kleinigkeit, denken einige von euch sicher - da ist das Buch halt bei SciFi gelistet, ist ja auch eine erfundene Geschichte -, aber jede Kleinigkeit macht in der Summe großes aus. Der Strand besteht auch nur aus Minikörnern, aber Milliarden, wenn nicht noch mehr, machen ihn erst zu einem Strand. Der erste Schritt ist, die Kleinigkeiten wahrzunehmen. In einer anderen Gesellschaftsform wäre diese Buch auch einfach eine Science Fiction-Geschichte. Im Grunde müsste das Buch "Das Gnadenjahr der Gesellschaft" heißen. Denn alles ist der Gnade der Männer und der Frauen, die mitziehen, unterstellt. Tag für Tag. Jahr für Jahr.
Alle Frauen in Garner County müssen dieselbe Frisur tragen, die Haare streng aus dem Gesicht gekämmt und am Rücken zu einem Zopf gelochten. Auf diese Weise können sie, so glauben die Männer, nichts vor ihnen verbergen. Keinen spöttischen Gesichtsausdruck, keinen unkeuschen Blick, kein Aufblitzen von Magie. Weiße Bänder für die kleinen Mädchen, rote für die Gnadenjahr-Mädchen und schwarze für die Ehefrauen.
Unschuld. Blut. Tod.
(Seite 18/19)
Das Nachwort bzw. Dankeswort (was hier ein und dasselbe ist) ist erschreckend und alltäglich zugleich. Die Autorin schildert genau das, was wir jeden Tag miterleben und uns nicht mal immer bewusst ist. Daraus entstand dieses Buch. DANKE! 🙏
Ich möchte nicht allzu ausschweifend das System erklären, das tun die vielen Passagen im Buch reichlich (schaut mal in die Lese-Chronik). Man einer von euch wird sich sicher fragen, wieso ich trotz ein paar schlechte Kritikpunkte 5 Sterne vergebe - ich, die immer alles hinterfragt und jedes Hörbuch und Buch kritisch durchhört/durchliest und der es schwer fällt, mal fünf (passend zu der Blume mit den fünf Blüten) gerade sein zu lassen (ja, ihr merkt, ich kenne meine Schwächen sehr genau) - die Gründe habt ihr bereits gelesen, aber als Zugabe lasse ich hier auch einfach mal die Autorin selbst zu Wort kommen:
Drei Jahre zuvor, zehn Uhr abends, Penn Station: (Anmerkung von mir: Es war 2019 laut Buchdaten)
Ich schaue auf die Anzeigentafel und hoffe, mein Zug trifft bald ein, als mir ein Mädchen auffällt. Vielleicht dreizehn oder vierzehn, schlank und groß gewachsen, wippt sie ungeduldig auf den Zehen und nervt ihre Eltern, Großeltern und jüngere Geschwister damit. In ihr steckt die nervöse Energie eines jungen Mädchens an der Schwelle zum Frausein. Zu Veränderung.
Ein Mann im dunklen Anzug läuft vorbei und sieht instinktiv in ihre Richtung, taxiert sie von Kopf bis Fuß. Ich kenne diesen Blick. Von jetzt an ist sie Freiwild. Beute.
Dann sehe ich eine Frau vorbeigehen, die von derselben Energie angezogen scheint, aber vermutlich aus völlig anderen Gründen. Während sie das Mädchen mustert, verdunkelt eine gewisse Trauer, Verachtung möglicherweise, ihren Blick. Vielleicht fühlt sie sich an all das erinnert, was sie verloren hat ... all das, wovon sie glaubt, es nie wieder zu bekommen. Deshalb ist das Mädchen für sie nun eine Konkurrenz.
Als der Zug der Familie angekündigt wird, gehen sie schnell zum Gleis und verabschieden sich. Das Mädchen wird offenbar gerade zurück ins Internat geschickt. Sie winkt, bis die Rolltreppe nach unten außer Sicht ist, und mir fällt unwillkürlich die Erleichterung in den Gesichtern ihrer Eltern auf. Sie wird für ein weiteres Jahr vor der Welt versteckt sein. In Sicherheit.
"Was tun wir den jungen Mädchen nur an", murmele ich vor mich hin.
Wie betäubt gehe ich zu meinem Zug, und kaum habe ich mich hingesetzt, fange ich an zu weinen. Ich weine um das Mädchen. Ich weine um eine Tochter, meine Mutter, meine Schwester, meine Großmütter.
Dann klappe ich mein Laptop auf, und bis ich in Washington, D.C. ankomme, ist das Handlungsgerüst für das Buch fertig. Der Anfang und das Ende sind verfasst, und ich weiß, dass ich keine Wahl habe. Ich muss dieses Buch schreiben.
Es war Magie.
Danke meiner Tochter Madeline und meinem Sohn Rahm. Nichts auf der Welt macht mich stolzer, als eure Mutter zu sein. Ihr motiviert mich, ein besserer Mensch zu sein, weiterzukämpfen, vorwärtszustreben. Ihr macht die Welt zu einem besseren Ort, einfach weil ihr da seid.
Und danke dem Mädchen am Bahnhof. Ich sehe dich. Nicht als Beute oder Konkurrenz. Ich sehe Hoffnung.
🧐 Lesen auf eigene (eine wichtige) Gefahr:
https://www.lovelybooks.de/bibliothek/WriteReadPassion/lesestatus/2802064236/
(Die Zitate in der Rezension sind aus den Leseproben-Seiten. Für weitere in die Lese-Chronik schauen)