An der Schwelle in die verengte Zukunft
Die silbernen FelderAm Anfang hab ich mich sehr schwer getan mit diesem Buch. Ich fand den Beginn so verquast, dass ich zuerst nicht weiterlesen wollte. Was hat mich dazu bewogen, es dann doch zu tun? Vielleicht lag es daran, ...
Am Anfang hab ich mich sehr schwer getan mit diesem Buch. Ich fand den Beginn so verquast, dass ich zuerst nicht weiterlesen wollte. Was hat mich dazu bewogen, es dann doch zu tun? Vielleicht lag es daran, dass die neuen Bücher noch nicht da waren – und ich war hart zu mir selbst. Manchmal geht das.
Natürlich hat mich das Thema interessiert: Es gibt hier (nur hier?) neue digitale Welten im Transhumanismus, jeder Mensch hat ein digitales Profil, das regelmäßig gepflegt werden muss, inklusive kontinuierlich Gewicht und Herz-Kreislauf-Daten an die Krankenkasse zu übermitteln. (Seite 128)
Das war’s, was ich zuallererst wissen wollte: Wie geht die deutsche Autorin Claudia Tieschky literarisch mit dieser überaus schwierigen dystopischen Zukunft um?
Kommen wir zunächst zu den Protagonisten: Margarethe, die Alleingängerin, sucht ihre Schwester Fiona, die vor Jahren unerwartet Wohnung, Stadt und Familie verließ. Fiona ist nicht mal ihre richtige Schwester. Sie ist sechs Jahre älter und vom Familienoberhaupt mit in die Patchwork-Familie eingebracht. Und dieser Vater ist nicht Margarethes leiblicher Vater. Aber die „Schwestern“ stehen sich sehr nahe und der Verlust trifft M. schwer.
So macht sich M. eines Tages auf, um Konrad im digitalen Nichts zu suchen. Konrad war der jugendliche Liebhaber ihrer Schwester und der hütet jetzt Schafe im Nirgendwo. Dieses Nirgendwo, das waren für mich die SILBERNEN (unbekannten) FELDER. Auch wenn dies nicht ausdrücklich erwähnt wurde. Und ab hier wurde es richtig spannend und auch fast unerträglich, da sich ganz viel an unsere Jetzt-Zeit anlehnt, bzw. darüber hinaus in die „sich abzeichnende verengte Zukunft“ führt. (Seite 178) Die wir Leser im Realen möglicherweise noch vor uns haben, wenn wir uns nicht wehren.
Konrad arbeitete mit Fiona am Projekt „Liebseligkeit“, bis sie es nicht mehr aushielt und sich die Wege der beiden trennten. Vermutlich trennten, M. hat da so ihre Zweifel.
Hat die „Liebseligkeit“ etwa das Potenzial, einmal die Gesellschaft, die wir kennen, durch ein Kontrollsystem zu ersetzen und selbst Regierungen zu entmachten? Und sind die Menschen, die sich nicht ins System fügen, die wertvollsten Datenlieferanten? Ja, es wird unheimlich, sogar sehr unheimlich! Enden wir etwa alle in einem vernetzten Gefüge?
Um dem paranoiden Albtraum zu entgehen, müssen wir klar und überdeutlich NEIN sagen, unseren freien Willen bekunden. Wie das geht, erfahren wir auf den Seiten 149 bis 150. Das war für mich die Kernsequenz dieses Romans und nicht nur das hat mich sehr beeindruckt.
M. hatte mal einen Freund, Hans, und Hans hatte nach M. eine andere Freundin: Marie. M. ist Marie im wirklichen Leben nie begegnet, dennoch war sie fasziniert von ihr und als Leserin bin ich das auch. Denn Marie malt ungewöhnliche Bilder. Seite 127: „Nein, sie [gemeint ist hier Marie] müsse zu einem Ursprung finden, zu etwas quasi Botanischem, sie müsse mit einem Wort so lange beobachten, bis sie etwas finde, das sie nicht verstehe und das ihr zutiefst fremd sei. Nur das sei es wert, abgebildet zu werden.“
Möglicherweise war Hans die große Liebe von M. So philosophiert sie auf Seite 132: „Vielleicht war es irgendwann einfach zu spät dafür zusammenzuleben, selbst dann, wenn man füreinander bestimmt war wie Hans und ich. Vielleicht ist die Zeit ein großer Vernichter nicht nur der Körper, sondern auch der Seelen.“
Fazit: Wenn man den Anfang überlebt und das Buch nicht zur Seite legt, kann man als kritischer Mensch wertvolle Einsichten gewinnen und liest eventuell diesen kurzen Roman nochmal. Empfehlenswert ist auch das Interview mit der Autorin: https://www.buchkultur.net/claudia-tieschky/