Philosophie der Beliebigkeit
Coccia vertritt in seinem Buch „Metamorphosen“ eine fast schon radikal zu nennende Auslegung des Gaia-Hypothese und des Panta rhei-Prinzips, die auf der einen Seite frisch wirkt und zum Nachdenken anregt, ...
Coccia vertritt in seinem Buch „Metamorphosen“ eine fast schon radikal zu nennende Auslegung des Gaia-Hypothese und des Panta rhei-Prinzips, die auf der einen Seite frisch wirkt und zum Nachdenken anregt, sich aber auf der anderen Seite vor ihren eigenen Konsequenzen zu scheuen scheint und vereinzelt in Stilblüten ausartet.
Der Sprachstil des Buches ist schön und so flüssig, dass der Leser durch viele Abschnitte geradezu hindurchgezogen wird. Meist traumhaft vage, zeigt der Autor eine sehr große Ausdrucksgewandtheit. Allerdings setzt er zu oft eine gebetsartige Wiederholung als Stilmittel ein, so dass man sich immer wieder bei dem Gedanken ertappt, ob man diese oder jene Seite nicht überspringen sollte. Man kann Coccia ein oder zwei Mal vorwerfen, dass er Zeilen schindet.
Ich kann, ohne das Original zu kennen, die Übersetzung nicht objektiv beurteilen. An vielen Stellen habe ich mich jedoch gefragt, ob es wirklich die beste Lösung war, ein gewöhnliches französisches Wort mit einem Fremdwort ins Deutsche zu übertragen. Dies führt mitunter zu übermäßig komplizierten Formulierungen und veränderten Bedeutungen. Manchmal kann „Beziehungen“ oder „Abhängigkeiten“ präziser sein als „Interpendenzen“. Vielleicht fehlt mir hier aber einfach der philosophische Hintergrund.
Dennoch traue ich mir zu, den Inhalt und die Aussagen zu Beurteilen, die Coccia in seinem Buch macht. Seine bereits zu Beginn dargelegte Grundthese ist, dass alles Lebendige, da es evolutionär aus einem Organismus entstanden ist, immer noch eine Einheit darstellt. Das selbe Leben aufgeteilt auf unzählige Körper im stetigen Wandel, die gleiche Materie für ihren Aufbau verwendend und unaufhörlich wieder vergehend. Coccia legt diese Hypothese sehr überzeugend dar, ich konnte ihm sehr gut folgen. Teilweise tappt er dabei in populäre Fallen, wie etwa, dass er Affen als unsere Ahnen bezeichnet, wenn Cousins viel richtiger wäre. Dennoch erscheint das große und ganze Bild sehr rund.
Anders sieht es bei den Details aus und den Konsequenzen, die er aus seiner Ansicht zieht. So finden sich, eingestreut in seine Argumente, häufig kleinere Thesen, die vollkommen fehl am Platz wirken. Sie sind meist auf nicht mehr als einer halben Seite ausgearbeitet und präsentieren dem Leser kontroverse Sachverhalte, die ohne Belege oder schlüssige Beweisketten daherkommen. So verteidigt er scheinbar landwirtschftliche Monokuluten, da Städte die wahren Monokuluten seien – nur um dann das mannigfaltige Ökosystem der Metropolen zu beschreiben. Er schlussfolgert in zwei Sätzen, dass Pflanzen die Gärtner der Erde seien, ohne dies Auszuarbeiten und erhebt den Geschmack zum wahren Motor der Evolution.
In solchen Momenten scheint das Buch Philosophie nach dem Gießkannenprinzip zu sein: von den vielen Thesen wird in der gelehrten Welt doch irgendetwas wieder zitiert werden!
Insgesamt wird aus der universellen Verbundenheit in „Metamorphosen“ schnell eine Theorie der absoluten Beliebigkeit, denn das Gaia-Prinzip verfolgt Coccia bis zu seiner letzten Konsequenz. Er stellt sich gegen Artenschutz und Vegetarismus, da alles Leben nur aus dem Tod von anderen Leben komme. Eine Art mehr oder weniger ist kein Verlust. Er betrachtet die Welt aus einer solchen ferne, dass es für ihn keinen Unterschied zu machen scheint, ob sie nun von denkenden, fühlenden Wesen bewohnt wird oder einfach nur ein Ball voller Mikroben und Biomasse ist.
Hier liegt meiner Ansicht nach der Hauptfehler des Buches: Coccia formuliert eine Theorie, die oberflächlich betrachtet in die Hippie-Bewegung passen könnte. Bei genauerer Betrachtung liefert sie jedoch nicht nur für Umweltzerstörung und Massentierhaltung sondern auch für jede extremistische politische Ausrichtung eine Argumentationsgrundlage. Für Gaia ist Friede nicht besser als Krieg und Freiheit nicht besser als Sklaverei. Natürlich könnte man den Autoren damit verteidigen, dass er hier eine unpolitische, reine Naturphilosophie schreiben wollte. Hier muss ich aber fragen: Leben wir in einer Zeit, in der man so etwas noch verfassen kann?