Coccia vertritt in seinem Buch „Metamorphosen“ eine fast schon radikal zu nennende Auslegung des Gaia-Hypothese und des Panta rhei-Prinzips, die auf der einen Seite frisch wirkt und zum Nachdenken anregt, ...
Coccia vertritt in seinem Buch „Metamorphosen“ eine fast schon radikal zu nennende Auslegung des Gaia-Hypothese und des Panta rhei-Prinzips, die auf der einen Seite frisch wirkt und zum Nachdenken anregt, sich aber auf der anderen Seite vor ihren eigenen Konsequenzen zu scheuen scheint und vereinzelt in Stilblüten ausartet.
Der Sprachstil des Buches ist schön und so flüssig, dass der Leser durch viele Abschnitte geradezu hindurchgezogen wird. Meist traumhaft vage, zeigt der Autor eine sehr große Ausdrucksgewandtheit. Allerdings setzt er zu oft eine gebetsartige Wiederholung als Stilmittel ein, so dass man sich immer wieder bei dem Gedanken ertappt, ob man diese oder jene Seite nicht überspringen sollte. Man kann Coccia ein oder zwei Mal vorwerfen, dass er Zeilen schindet.
Ich kann, ohne das Original zu kennen, die Übersetzung nicht objektiv beurteilen. An vielen Stellen habe ich mich jedoch gefragt, ob es wirklich die beste Lösung war, ein gewöhnliches französisches Wort mit einem Fremdwort ins Deutsche zu übertragen. Dies führt mitunter zu übermäßig komplizierten Formulierungen und veränderten Bedeutungen. Manchmal kann „Beziehungen“ oder „Abhängigkeiten“ präziser sein als „Interpendenzen“. Vielleicht fehlt mir hier aber einfach der philosophische Hintergrund.
Dennoch traue ich mir zu, den Inhalt und die Aussagen zu Beurteilen, die Coccia in seinem Buch macht. Seine bereits zu Beginn dargelegte Grundthese ist, dass alles Lebendige, da es evolutionär aus einem Organismus entstanden ist, immer noch eine Einheit darstellt. Das selbe Leben aufgeteilt auf unzählige Körper im stetigen Wandel, die gleiche Materie für ihren Aufbau verwendend und unaufhörlich wieder vergehend. Coccia legt diese Hypothese sehr überzeugend dar, ich konnte ihm sehr gut folgen. Teilweise tappt er dabei in populäre Fallen, wie etwa, dass er Affen als unsere Ahnen bezeichnet, wenn Cousins viel richtiger wäre. Dennoch erscheint das große und ganze Bild sehr rund.
Anders sieht es bei den Details aus und den Konsequenzen, die er aus seiner Ansicht zieht. So finden sich, eingestreut in seine Argumente, häufig kleinere Thesen, die vollkommen fehl am Platz wirken. Sie sind meist auf nicht mehr als einer halben Seite ausgearbeitet und präsentieren dem Leser kontroverse Sachverhalte, die ohne Belege oder schlüssige Beweisketten daherkommen. So verteidigt er scheinbar landwirtschftliche Monokuluten, da Städte die wahren Monokuluten seien – nur um dann das mannigfaltige Ökosystem der Metropolen zu beschreiben. Er schlussfolgert in zwei Sätzen, dass Pflanzen die Gärtner der Erde seien, ohne dies Auszuarbeiten und erhebt den Geschmack zum wahren Motor der Evolution.
In solchen Momenten scheint das Buch Philosophie nach dem Gießkannenprinzip zu sein: von den vielen Thesen wird in der gelehrten Welt doch irgendetwas wieder zitiert werden!
Insgesamt wird aus der universellen Verbundenheit in „Metamorphosen“ schnell eine Theorie der absoluten Beliebigkeit, denn das Gaia-Prinzip verfolgt Coccia bis zu seiner letzten Konsequenz. Er stellt sich gegen Artenschutz und Vegetarismus, da alles Leben nur aus dem Tod von anderen Leben komme. Eine Art mehr oder weniger ist kein Verlust. Er betrachtet die Welt aus einer solchen ferne, dass es für ihn keinen Unterschied zu machen scheint, ob sie nun von denkenden, fühlenden Wesen bewohnt wird oder einfach nur ein Ball voller Mikroben und Biomasse ist.
Hier liegt meiner Ansicht nach der Hauptfehler des Buches: Coccia formuliert eine Theorie, die oberflächlich betrachtet in die Hippie-Bewegung passen könnte. Bei genauerer Betrachtung liefert sie jedoch nicht nur für Umweltzerstörung und Massentierhaltung sondern auch für jede extremistische politische Ausrichtung eine Argumentationsgrundlage. Für Gaia ist Friede nicht besser als Krieg und Freiheit nicht besser als Sklaverei. Natürlich könnte man den Autoren damit verteidigen, dass er hier eine unpolitische, reine Naturphilosophie schreiben wollte. Hier muss ich aber fragen: Leben wir in einer Zeit, in der man so etwas noch verfassen kann?
Anders Indset schreibt über Gott und die Welt, was ihm eben so einfällt.
Mit Blick auf das Inhaltsverzeichnis könnte man meinen, dass man hier ein sauber gegliedertes philosophisches Werk bekommt, welches ...
Anders Indset schreibt über Gott und die Welt, was ihm eben so einfällt.
Mit Blick auf das Inhaltsverzeichnis könnte man meinen, dass man hier ein sauber gegliedertes philosophisches Werk bekommt, welches eine Theorie aufbaut, weiterspinnt und am Schluss noch einmal klar darlegt. Stattdessen erhält man einen Salat aus teilweise lose verbundenen, teilweise aber auch vollkommen im luftleeren Raum schwebenden Kapitelchen, die nirgends ein großes Ganzes ergeben. Am schlimmste ist das letzte Kapitel aufgebaut. Der Titel suggeriert hier eine Katharsis, doch es handelt sich um eine Resterampe. Hier wird nochmal aufgetischt, was anderswo vergessen wurde. Der Schluss selbst hätte dann auch von Simmel sein können.
Sprachlich bedient sich der Autor grausamster, sinnfreier Anglizismen. Ich bin kein Feind von Fremdwörtern, wenn sie die deutsche Sprache bereichern – man nehme nur das Wort Box – aber Indset verwendet sie in einer Weise, über die sich schon Mark Twain lustig gemacht hat: Er verziert mit englischen Begriffen seine Seiten um einen besonderen Eindruck zu erwecken. Welchen erschließt sich mir aber nicht. Vielleicht den, dass er zu viele Motivationsseminare für Bussiness Leader gehalten hat
Grob lässt sich das Buch in drei Themenbereiche einteilen: „Früher war die Welt noch in Ordnung“, „Manchmal denk’ ich mir so ...“ und „Jemand bei Joe Rogan hat gesagt …“. Diese Felder sind dabei in kleinen Klumpen über das Buch verteilt, vor allem zweiterer. Der Erste findet sich hauptsächlich am Anfang des Buches und wird im letzten Kapitel nochmal auf lauwarme Temperatur gebracht. Dabei fragt man sich zwangsläufig, was dieser Abschnitt am Schluss nochmal zu suchen hat.
„Früher war die Welt noch in Ordnung“ setzt sich hauptsächlich aus wohlfeiler Kritik an moderner Technologie und Nostalgie für die Kindheit des Autoren zusammen. Viele der Punkte, die Indset aufbringt stimmen zwar, dürften aber schon durch dutzende Focus, Welt und FAZ-Kommentarspalten gelaufen sein. Spitzers „Digitale Demenz“ mit noch weniger Substanz für die 2020er abgestaubt und mit einem philosophischen Zierdeckchen versehen. Lösungsvorschläge oder Kompromisse zu den aufgebrachten Problemen bring Indset nicht, er schimpft einfach gerne. Ich gehöre nicht zur Generation TikTok, aber diese Art der Literatur bin ich schon seit 20 Jahren satt.
Die zweite Kategorie ist wohl die stärkste, muss aber nicht genauer erklärt werden. Indset argumentiert ins Blaue, ohne Substanz, ohne Scheu vor der Tautologie. Es entstehen Sinnsprüche wie auf Glückskeksen aber auch unfreiwillig komische Stilblüten. Besonders humoristisch sind teilweise die Schlussfolgerungen, die am Ende mancher Kapitel stehen. Sicher, es wird die Welt retten, wenn reiche Snobs aus aller Welt ihre Kinder alle paar Monate um den halben Erdball in eine Nachhaltigkeitsschule nach Bali schicken. Eine ganz großartige Idee. Hätte von Musk sein können.
Aus der dritten Kategorie kommen Ergüsse irgendwelcher Pseudowissenschaftler, die nur dadurch bekannt geworden sind, weil ihnen Joe Rogan eine Plattform geboten hat. Von diesen zitiert und diskutiert Indset Theorien die vielleicht ganz interessant sein könnten, wenn der Autor irgendeinen Grund liefern könnte, warum diese erst zu nehmen seien. Man kann nicht einfach etwas in den Raum stellen, für das die Geschichte umgeschrieben werden müsste, wenn man keine Grundlage für diese Annahme liefern kann.
Im selben thematischen Kreis stellt Indset außerdem Elon Musk und Steve Jobs auf eine Stufe mit Einstein und Hawking. Von Musk ist er überhaupt ein großer Fan und hält diesen offenbar für einen Visionär allererster Güte. Wie es eben Joe Rogan tut.
Auf die Zitate im Buch kann man teilweise sehr wenig geben. Indset zitiert einen sehr bekannten Satz von Kant falsch, wohl weil er ihn aus einer Zusammenfassung übernommen hat. Anderswo münzt er ein Zitat von Greg Ketch um, ohne den Autoren jemals zu erwähnen.
Und was ist letztendlich das geheimnisvolle „Infizierte Denken“? Nun, dabei handelt es sich einerseits um den verzweifelten Versuch diese lose Textsammlung durch ein Schlagwort mit einem roten Faden zu verbinden. Andererseits ist es ein billiger Trick um das Buch irgendwie als tagesaktuell zu maskieren. Ich denke der ein oder andere Coronaleugner wird diesen Schinken versehentlich gekauft hat.
Und warum hat es dann auch noch Erfog? Vermutlich liegt es an der guten Werbung, denn an Sympathien für den Autor kann es, wenn man die Nachrichten über ihn verfolgt, nicht liegen.
Die Geschichte ist ...
Und warum hat es dann auch noch Erfog? Vermutlich liegt es an der guten Werbung, denn an Sympathien für den Autor kann es, wenn man die Nachrichten über ihn verfolgt, nicht liegen.
Die Geschichte ist eine ordentliche Idee, wenn auch nicht neu, und verspricht sehr viel: Ein sterbender Multimilliardär versteckt den Schlüssel zu seinem Reichtum in einer von der gesamten Menschheit täglich genutzten virtuellen Realität, die er mit seiner Firma geschaffen hat. Wer sein Rätsel löst, gewinnt nicht nur Milliarden, sondern auch die Kontrolle über die virtuelle Welt genannt „Oasis“. Und so machen sich Millionen von Menschen auf eine von der Kindheit des Milliardärs in den 1980ern geprägte Schnitzeljagd. Allerdings versucht auch ein großer IT-Konzern mit Hilfe seines Personals und unlauteren Mitteln den Schatz zu finden, um sich eine riesige Geldquelle zu sichern. Ein Sieg des Konzerns würde die -meiner Ansicht schon unrealistisch happige- Monetarisierung der „Oasis“ ins grenzenlose treiben.
Das fesselt erstmal und es könnte ein gutes Buch werden, aber dann lernen wir die Charaktere kennen:
Hier ist das erste Problem schon einmal, dass es nur eine handvoll wiederkehrender Charaktere gibt und wiederkehrend in diesem Buch schon heißt, dass sie in zwei Szenen auftauchen. Denn soziale Interaktion gibt es sehr wenig. Das ist einerseits logisch, da der Hauptcharakter ein ziemlicher Einsiedler sein soll, andererseits völlig unpassend, da der größte Teil des Buches quasi in einem MMORPG spielt. In dem die Leute scheinbar fast nie miteinander sprechen. Und auch nur sehr ungern zusammenarbeiten. Gut, so habe ich auch meistens solche Spiele gespielt, aber ich habe auch mitbekommen, dass 95% der Nutzer dies nicht so tun. In diesem Roman aber schon.
Das ganze geht so weit, dass sogar wichtige Charaktere, wie der große Antagonist Sorrento, nicht mehr als zwei Szenen haben. Zwei! Damit wird der Gegenspieler überhaupt nicht aufgebaut und wirkt vollständig eindimensional. Ein Strich in der Landschaft, sozusagen.
Alles andere wird nur aus dritter Hand erzählt. Bei den anderen, wichtigen Charakteren (wovon es etwa fünf gibt) verhält es sich nicht anders. Sie haben bis zu fünf Sprechszenen, sonst kommen sie höchstens am Rande und am Ende vor.
Mit einer guten Hauptfigur hätte man das vielleicht kompensieren können, aber auch der Ich-Erzähler ist nur ein Schatten, dessen Gefühle und Gedanken kaum vermittelt werden. Er lebt nur durch seine Aktionen. Das ist fast etwas positiv, denn er wirkt, wenn etwas Charakter durchkommt, wie ein typischer "Neckbeard". Zudem ist er extrem unglaubwürdig. Innerhalb von sechs Jahren soll er sich – neben dem Schulunterricht – ein gigantisches Wissen über die 80er Jahre angeeignet haben. Das schließt das mehrfache, teilweise genau abgezählt hundersechzigfache Ansehen von Serien und Filmen sowohl aus den USA als auch aus Japan ebenso ein, wie das Lesen mehrerer Biographien, das Spielen hunderter bockschwerer Computerspiele und das verinnerlichen von tausenden von Songtexten. Meine Deutschlehrerin hat vor Jahrzehnten einmal gesagt, dass sie das Lesepensum aus Schlinks "Der Vorleser" für rein physisch nicht machbar halte. Hier wird das noch deutlicher. Ich denke, die Laufzeit der angeblich mehrmals angesehenen Serien alleine übersteigt bereits die Zeitspanne, in welcher sie konsumiert worden sein sollen. Und das neben den Schularbeiten.
Auch die Erzählstruktur ist nicht das Beste. Das Buch hat gewaltige Längen, in welchen einfach nichts passiert, da die Jagd nach dem Ei nicht weiter geht. In dieser Zeit bohrt der Erzähler quasi in der Nase, da es keine weiteren Plotstränge gibt. Passiert dann etwas, folgt es eigentlich immer der gleicher Struktur: „Erst ging es nicht, doch dann plötzlich schaffte ich es“. Dabei wird hin und wieder zwar erfolgreich eine deutliche Spannung geschaffen – aber nur mit billigen Tricks. Oft eiert der Erzähler über ewige Textpassagen herum, obwohl völlig klar ist, dass er unter Zeitdruck steht. Dies ist am Ende des Buches regelrecht absurd. Zudem werden werden dem Leser einfach die Intentionen und Planungen des Protagonisten vorenthalten um es aufregender zu gestalten. Das ist in Filmen nicht ungewöhnlich und kann auch in Romanen funktionieren, ist aber vollkommen fehl am Platz, wenn aus der Ichperspektive geschrieben wird: Man hat nunmal nur das Innenleben des Erzählers als Blick auf die Handlung. Enthält dieser dem Leser Informationen auf solche Art vor, ist jedes Deus ex machina möglich.
Dabei ist der Plot mit diesem Kniff noch viel zu durchsichtig. Ich kann hier ohne zu spoilern nicht zu sehr ins Detail gehen, darum nur so viel: Bestimmte, scheinbar nur beiläufig erwähnte Gegenstände und Mechaniken werden genau dann eingesetzt, wann man es vermutet.
Zu allem Überfluss gibt es auch noch eine riesige Anzahl loser Enden und unnötig aufgebrachter Dinge. So werden beispielsweise mehrmals die hohen Kosten und die Finanzprobleme des Protagonisten erwähnt und erzählt, dass er in einem 40-Stunden-Job arbeite. Wieso wird das erwähnt, wenn es sich dann doch alles was er braucht ohne mit der Wimper zu zucken leisten kann und die Arbeit ihn scheinbar nie Zeit kostet? In der Schulzeit des Protagonisten sticht dies noch mehr ins Auge. Man erwartet Konsequenzen, aber die gibt es nicht.
Zu guter Letzt, die Liebesgeschichte: Sie existiert nicht. Der Autor behauptet zwar, es gäbe eine Romanze, aber die beiden Charaktere haben nicht den Hauch von Chemie zwischen sich. Vielmehr wirkt stalkt der Neckbeard-Protagonist seine ablehnende Angebetete über weite Teile des Buchs auf widerlicher Art und Weise, bis sie irgendwann grundlos nachgibt.
Auch als Fan der 80er Popkultur kann man sich nicht anders als veräppelt fühlen. Ständig werden irgendwelche zusammenhangslosen Anspielungen losgelassen, über welche der Erzähler natürlich alles weiß. Teilweise dienen diese scheinbar als Seitenfüller um das Buch in die Länge zu ziehen. Wieso sonst werden riesige Absätze aus Wargames und Ritter der Kokosnuss zitiert? Ich habe beide Filme mehrfach gesehen, ich kann wirklich auf eine eins zu eins-Nacherzählung in einem Roman verzichten. Es ist ja nicht so, dass darin irgendetwas neues passiert.
Ich könnte noch etliche weitere Punkte beschreiben: Warum sind die Beschreibungen des Autors so selektiv? Er rasselt halbe Diskographien und Bandgeschichten herunter, erklärt aber nicht was es mit dem berühmten geteilten Bildschirm bei Pac-Man auf sich hat – obwohl dieser einen prominenten Auftritt hat. Ein in Videospielgeschichte nicht bewanderter Leser weiß in dieser Szene sicher gar nicht, was gerade passiert.
Warum werden Szenerien bis ins kleinste Detail ausgearbeitet, die der Protagonist nur für eine Minute betrachtet, in längeren Szenen aber nur angedeutet? Wieso werden die Einkäufe der Hauptperson so weit ausgewalzt und irgendwelche Gadgets in aller Ausführlichkeit beschrieben, wenn diese dann nie wieder einer Rolle spielen? Hier fühlt man sich nicht nur veräppelt, es kommt einem fast so vor, als wären Kapitel gestrichen worden, aber nicht die darauf hinführenden Absätze.
Alles in allem: Ein quälendes Buch, das einen besseren Lektor gebraucht hätte. Man hätte so vieles kürzen können und die Qualität hätte sich damit nur verbessert. Hätte man beispielsweise die meisten 80er-Anspielungen inklusive der langen zitierten Filmszenen und die Beschreibung der Gadgets, besonders des Waffenkaufs, weggeschnitten, hätte sich schon viel verbessert.
Wenn ich nach der Lektüre den Klappentext noch einmal betrachte, muss ich sagen, dass ich vielleicht zu Beginn etwas anderes erwartet hätte. Vermutlich dachte ich, es würde sich um ein psychologisch-philosophische ...
Wenn ich nach der Lektüre den Klappentext noch einmal betrachte, muss ich sagen, dass ich vielleicht zu Beginn etwas anderes erwartet hätte. Vermutlich dachte ich, es würde sich um ein psychologisch-philosophische Analyse der Kant‘schen Lehren vor dem Hintergrund der modernen Erkenntnisse über die Evolution sein. Oder, dass es darum ginge, inwiefern die Philosophie des Aufklärers der menschlichen Natur aus evolutionspsychologischen Gesichtspunkten widerspricht.
Das ist es aber alles nicht. Ich denke, am Anfang stand irgendwo der Versuch letzteres zu schreiben, aber der Autor hat vollständig den Faden verloren. Es ist ein Werk geworden, das immer wieder über dutzende und dutzende Seiten vollständig von den Kernthemen abschweift, lächerliche Argumentationsketten über unglaubliche Längen auswalzt und sehr fragwürdige Meinungen als wissenschaftliche Tatsachen darstellt. Und ganz nebenbei Folter gutheißt.
Um den Einstieg kurz zu machen: Es geht weder um Darwin noch wirklich um Kant. Darwin wird tatsächlich kaum erwähnt und dient vielmehr als Symbol für alles, was der Autor irgendwie mit Evolution in Verbindung bringt. Da ist meiner Ansicht nach in Ordnung, da dies auch in der Umgangssprache gerne so gehandhabt wird. Kant hingegen kommt öfter, zumindest namentlich, vor und hat tatsächlich einige Seiten, die fast ausschließlich ihm gewidmet sind. Und das ist meiner Meinung nach ein Problem.
Während Darwin Symbol bleibt, wird auf Kants Philosophie rudimentär eingegangen – er und seine Ideen aber immer wieder als gleichbedeutend mit der Aufklärung in ihrer Gesamtheit dargestellt. Somit liefert Urbaniok ein unwahres Zerrbild dieser Epoche als moralisch erhabene und menschliche Denkrichtung. Andere Strömungen werden ignoriert. Dass es auch die Köpfe der Aufklärung waren, die Arbeitshäuser und Anbindehaltung erdacht und „unnützes“ Leben definiert haben, scheint er nicht zu wissen oder es passt nicht in sein Bild.
Statt um Aufklärung gegen Evolution geht es tatsächlich eigentlich nur darum, dass Wahrnehmung und Denken des Menschen fehleranfällig sind. Dies klingt nicht besonders kompliziert und ist es, wie es Urbaniok darstellt, wohl auch nicht. Schließlich meint er, den gesamten Mechanismus der menschlichen Informationsaufnahme und -verarbeitung auf drei Buchstaben „RSG“ eindampfen zu können. Dabei handelt es sich um ein psychologisches Modell, das so grundlegend und simpel ist, dass es eigentlich keine praktische Bedeutung mehr hat, obwohl der Autor diese zum Ende hin alle paar Seiten herbeiredet.
Warum hat das Buch dennoch 450 Seiten reinen Text? Nun, hier liegt der Hund begraben. Es ist wirklich zu lang für die Aussage, die es trifft.
Es ist schwierig, diesem Werk etwas positives abzugewinnen, darum möchte ich darum beginnen. So ist der generelle Aufbau durchdacht: In den ersten Kapiteln soll einem das geistige Handwerkszeug für das Verständnis der Prinzipien der weiteren Themen nahegelegt werden. Tatsächlich sind diese theoretischen und philosophischen Grundlagen der beste Teil des Buches. Zum anderen habe ich sicher durch die Lektüre vieles erfahren, was ich noch nicht wusste.
Leider haben schon diese beiden Punkte einen Pferdefuß: Die theoretischen Kapitel haben mit den praktisch orientierteren nicht viel zu tun und werden in keinster Weise vertieft. Zum zweiten untergräbt Urbaniok im Laufe des Buches seine eigene Glaubwürdigkeit so systematisch, dass ich alle für mich neuen Fakten aus diesem Buch zutiefst in Frage stelle.
Die negativen Aspekte des Buches haben, wie bereits angedeutet, eine direkten Bezug zur Länge des Buches. Sie lassen sich gut darstellen, da sie zum großen Teil systematisch im gesamten Buch vorhanden sind. Ich würde hier folgende Punkte nennen: 1. Übermäßige Themenvielfalt, 2. Ausufernde und ungeschickte Verwendung von Beispielen, 3. Fragwürdige Argumentationen.
1. Übermäßige Themenvielfalt
Urbanioks Buch beginnt mit einer leichten Abwandlung eines Zitats des US-amerikanischen Wissenschaftsjournalisten Michael Shermer, den der Autor aber niemals erwähnt. Was Shermer nur als Anekdote gedacht hat, nimmt Urbaniok als wissenschaftlichen Fakt und baut darauf sein ganzes Verständnis der Evolutionspsychologie auf.
An einer anderen Stelle argumentiert Urbaniok damit, dass der Tachometer eines Autos stets eine 20% weniger anzeige, als das Auto tatsächlich fahre. Ein Schreibfehler, könnte man meinen, wenn nicht eine ganze Argumentationskette an diesem Schnitzer, der kaum einem Fahrschüler unterlaufen würde, hängen würde. In der Biologie hat der Autor deutliche Probleme mit klar definierten Standardbegriffen, wie etwa „Schwarm“ oder „Rudel“, die er falsch verwendet. Ganz salopp wird bei ihm jegliches tierisches Lernverhalten zum Instinkt. Er zitiert Filme falsch und verdreht berühmte Phrasen, wenn er sie indirekt wiedergibt. Er zeigt, dass er nicht versteht, wie künstliche Intelligenzen Entscheidungen treffen und glänzt mit Halbwissen über das Mittelalter, dass wohl aus Fernsehdokumentationen stammt.
Am schmerzhaftesten sind jedoch seine Wissenslücken beim Thema Evolution, welches für ihn im ersten Drittel des Buches so wichtig ist. Er zeigt deutlich, dass er ein vollkommen falsches Verständnis dieses Vorgangs hat. Für ihn scheint die Evolution ein zielgerichteter Vorgang zu sein, welcher stets die immer bessere Anpassung eines Wesens an seinen Lebensraum fördert. Er versteht nicht, dass es keineswegs eine lineare Entwicklung ist und fast niemals das Ideal, sondern das Ausreichende begünstigt wird. Somit ist für Urbaniok jeder Denkfehler des Menschen eigentlich ein Atavismus einer ehemals absolut sinnvollen Anpassung. Hier möchte ich dem Autoren Nathan E. Lents leicht verständliches Buch „Human Errors“ empfehlen. Damit würde er vielleicht erkennen, dass er hier einen seiner beliebten Denkfehler, den Kausalitätsfehler, selbst begeht – denn vieles, was die Evolution hervorbringt, hat nie in irgendeiner Form viel Sinn gemacht, nur nicht bei der Fortpflanzung gestört.
Zwar sieht Urbaniok mitunter auch ein, dass ihm die Expertise zu einem Nischenthema fehlt und er zitiert besser informierte Autoren. Seitenweise, ja sogar Kapitelweise, ohne selbst viele Kommentare oder Überlegungen zu machen. Man fühlt sich teilweise wie in einer schlechten Seminarsarbeit, wenn man plötzlich zwei Seiten direkt aus einem besseren Buch vorgesetzt bekommt, dass man gerade erst gelesen hat.
Dies ist bezeichnend für die Arbeitsweise des Buches, denn man sieht hier, dass es dem Autoren an Sachverstand mangelt. Aufgrund des enorm breiten Themenspektrums des Buches ist dies nicht verwunderlich: Es geht um fast alles, aber niemand kann alles wissen. Urbaniok hätte gut daran getan, sich ein wenig zu beschränken. Seitenlanges zitieren, garniert mit einem Halbsatz eigener Überlegung ist kein guter Stil in einem nichtakademischen Werk – vor allem dann nicht, wenn es sich um aktuelle Literatur handelt.
2. Ausufernde und ungeschickte Verwendung von Beispielen
Es mag seltsam klingen ein Buch dafür zu kritisieren, dass es zu viele Beispiele enthält. Das Problem ist, dass der Autor nicht weiß, wie man Beispiele zur Illustration von Argumenten oder Zusammenhängen benutzt. Meist erklärt er zwar zunächst den Sachverhalt und bringt dann zur Veranschaulichung Beispiele, lässt diese dann aber vollkommen im luftleeren Raum hängen. Nur sehr selten zeigt er auf, wie sich das Beispiel in die Argumentation einfügen, was es erläutern soll oder welchen Sinn es überhaupt hat. Viele seiner Anekdoten sind nämlich entweder unpassend, oder ziehen sich so lange, dass sie vollkommen den Fokus verlieren.
So folgen beispielsweise auf eine Erklärung, dass Menschen unsozial und unmoralisch handeln können, mehrere Seiten über die Geschichte der amerikanischen Mafia. Nicht etwa eine Analyse ihrer Methoden oder ihres Selbstverständnisses, sondern einfach nur ein historischer Abriss. Ein Block Text, zitiert aus einschlägiger Literatur. Dann ist das Kapitel zu Ende.
Noch schlimmer sind Urbanioks hypothetische Beispiele, die er sich selbst einfallen hat lassen. Hier schafft er es zwar viel besser tatsächlich auf das einzugehen, was sein eigentlicher Punkt ist, doch sind sie eine Qual zu lesen. Es sind über Seiten und Seiten ausgewalzte Erzählungen zu Busfahrplänen (mehrmals!), Einkaufsgewohnheiten eines Ehepaars oder anderen Banalitäten. Man hat nach etwa einer halben Seite den Sinn erfasst und dennoch geht es immer weiter. Dabei schleudert er einem mitunter noch Massen an völlig hypothetische Zahlen und stochastische Rechnungen im Fließtext entgegen. Vielleicht kann man diese mit etwas Konzentration nachvollziehen – da sie aber vollkommen unwichtig erscheinen, habe ich mich dagegen entschieden es überhaupt zu versuchen.
Mitunter verkommen seine Beispiele auch zum Hauptinhalt ganzer Kapitel, so dass es schwer wird, nachzuvollziehen, warum er sie überhaupt in dieser Weise und nicht anders aufbringt. Er vergisst völlig ein Statement oder Argument abzugeben.
Andernorts erklärt er zwar das Ziel seiner Beispiele, scheint sich dann aber an einem Exempel so in Rage zu schreiben, dass es direkt lächerlich ist. So gibt es ein Kapitel, welches Medien- und Informationspolitik zu Inhalt haben soll. 35 der 69 Seiten benutzt Urbaniok davon um über „Ausländerkriminalität“ zu wettern und ein paar mehr um angeblich missverstandene Individuen, die angeblich fälschlich in die Rechte Ecke gedrängt wurden, zu rehabilitieren.
3. Fragwürdige Argumentationen
Der größte Vorwurf, den man dem Autor in Bezug auf dieses Buch machen kann, ist, dass er unsauber und unehrlich argumentiert. Erstens tut er sich häufig schwer damit, seine Plädoyers sinnvoll zu gliedern und seine Haltung letztendlich überzeugend darzulegen. Dies trifft auf die Argumente im einzelnen und die Aufteilung des gesamten Buches zu. Zweitens scheut sich Urbaniok nicht durch gezieltes weglassen wichtiger Informationen, veraltete Fakten, statistische Tricks oder einfache Polemik, Punkte zu machen.
Die Schwäche seiner Argumentationsstruktur fällt bereits zu Beginn des Werks auf. Schon hier lässt er kontroverse Aussagen ohne Erläuterung im Raum stehen oder lehnt sie ohne Begründung ab. Er wirft einem Thesen als Brocken hin, die man dann schlucken kann – oder eben nicht. Er argumentiert scheinbar nur wenn er möchte, nicht, wenn das Thema es gerade verlangt. Dies deckt sich mit seiner ungeschickten Verwendung von Beispielen.
So ergeben sich Argumentationsketten, die nur aus Thesen und Beispielen bestehen, nicht aber aus Begründungen, warum die beispielhaften Sachverhalte genau so zu interpretieren seien. Oftmals erscheint der Standpunkt des Autoren so schwach, dass man der Ansicht sein kann, er wollte einen auf eine falsche Fährte locken. Es wirkt, als wolle er dadurch einen Denkfehler demonstrieren. Dies macht er aber nie.
Dies zeigt sich besonders deutlich im Kapitel zum „Würfelgericht“ und seinem absolut ernst gemeintem Eintreten für die Folter. Beide Male hatte ich angenommen, dass er irgendwo schreiben würde, dass die gerade dargelegte Argumentation natürlich aus diesen und jenen Gründen absolut nicht haltbar sei. Denn beide Male stehen und fallen seine Ansichten damit, dass es unfehlbare, absolut unbestechliche und uneigennützige Menschen, sogenannte „Kreative“ und „absolut Integere“, gäbe. Und dies schreibt Urbaniok in einem Buch, welches uns hunderte von Seiten lang erklärt, warum der Mensch fehlbar sein muss. Vermutlich meint er, dass allein die Kenntnis der Wahrnehmungsschwächen nach seinem RSG-System zu einer vollständigen Läuterung führen könnte.
Sehr häufig fällt auch auf, dass sich der Autor um klare Begriffsdefinitionen drückt. Dadurch entstehen schwammige Aussagen, die man je nach Gusto für falsch oder richtig halten kann. Oder er stellt Behauptungen, oft einfache Lösungen hochkomplexer Sachverhalte, auf, die nur funktionieren, weil er Begriffe stillschweigend umdeutet, die im allgemeinen Sprachgebrauch anders verwendet werden.
Solche Patzer finden sich viele und meist genau dann, wenn der Autor gut daran getan hätte, sauber zu argumentieren, weil er sich weit aus dem Fenster lehnt.
Andernorts schafft er es Themen vollständig totzuargumentieren: Einmal kritisiert er die Grundlagen wissenschaftlichen Arbeitens ohne zu einem Punkt zu kommen, warum er dies tut, oder was eigentlich zu verbessern wäre. Das Paradebeispiel ist hier aber erneut sein Kapitel zur „Ausländerkriminalität“:
Er ist überzeugt, dass „Ausländer“ (diesen Begriff verwendet er völlig unkritisch) krimineller sind als Deutsche, lässt aber keine einzige Begründung dafür gelten, warum das so sein soll. Erneut bietet er keine eigene Idee an. Er zerstört, baut aber nicht auf, könnte man sagen.
Auch verschweigt er dabei wohl bewusst wichtige Fakten um seine Argumente zu legitimieren: So verteidigt er die Aussagen eine Prominenten und wirft der Presse vor, sie unfairerweise als rechtslastigt bezeichnet zu haben. Dass die betreffende Dame seitdem eine steile Karriere als Publizistin in einschlägigen Verlagen hingelegt hat, lässt er unter den Tisch fallen.
Insgesamt muss man sagen, dass Urbaniok generell seine Seite als wissenschaftlich bestätigt bezeichnet. Seinen Gegnern dagegen wirft er vor, dass sie entweder wüssten, dass sie im Unrecht sind oder dass sie Sinnestäuschungen oder Denkfehlern unterliegen. Studien sind dann gut, wenn er es meint (z.B. das längst diskreditierte „Florida“-Experiment und der Priming-Effekt).
Das ist keine Basis für eine sachliche Diskussion. Dabei beweist er nur all zu oft, dass er die gleichen Fehler macht, die er andern unterstellt – manchmal im nächsten Satz. Er tut ganze Begründungskomplexe im Handstreich als monokausal ab und kennt selbst nur einfache Ursachen für Probleme. Er schreibt direkt, dass das gleiche Ergebnis nicht unterschiedliche Auslöser haben könne. Bei aller Komplexität des Buches sind seine Erklärungswege und Lösungsansätze meistens trivial.
Nach hunderten von Seiten stellt man schließlich fest, was man hier eigentlich gelesen hat: Es ist kein philosophisches Werk, keine psychologische Betrachtung und kein politologischer Bericht. Es ist einfach nur Meinung. Es ist Frank Urbanioks Sicht der Welt, die er nur all zu oft als objektiv einschätzt. Er schreibt eben, was ihm eben gefällt:
So wünscht er sich in seinen Arbeitsbereichen, der Justiz und der Medizin größtmögliche Freiheiten. Darum befürwortet er die gezielte Anwendung von Folter, Justiz ohne Gesetzesgrundlage und lehnt ärztliche Leitlinien als Deckmäntelchen für mittelmäßige Mediziner ab. Er sieht sie für kreative Ärzte als einschränkend an. Ich denke, solche kennt man ja aus Horrorfilmen. Denn die ärztlichen Leitlinien sind nicht, wie Urbaniok meint, zum Schutz vor unfähigen Ärzten gedacht – gegen diese ist kein Kraut gewachsen. Sie sollen vielmehr den Patienten vor Medizinern schützen, die meinen es wäre besser aus eigener Erfahrung und Kreativität zu behandeln, als nach erprobten, wissenschaftlichen Grundsätzen. Dies finde ich in diesem Buch richtig verstörend.
Andererseits möchte er vor Bereichen, in welchen er nicht selbst schaltet und waltet, wie etwa der Wirtschaft, durch harte Regeln bestmöglichst geschützt werden. Dabei wird auch deutlich, dass er unheimliche Angst vor Kriminalität haben muss.
Insgesamt kann ich dieses Buch nur Leuten empfehlen, die aus irgendeinem Grund genau wissen wollen, wie Frank Urbaniok über die Welt denkt. Sollte er politische Gegner haben – und das nehme ich einmal stark an – so hat er ihnen vermutlich mit diesem Buch selbst genügend Munition für Jahre geliefert.