Profilbild von Naraya

Naraya

Lesejury Star
offline

Naraya ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit Naraya über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 02.06.2021

Über die Macht der Erinnerung

Weiches Begräbnis
0

Endlich hat Qinglin genug Geld verdient, um seiner Mutter ein Haus zu kaufen, die ihn nach dem frühen Tod des Vaters allein großziehen musste. Als Ding Zitao jedoch in der neuen Villa ankommt, verhält ...

Endlich hat Qinglin genug Geld verdient, um seiner Mutter ein Haus zu kaufen, die ihn nach dem frühen Tod des Vaters allein großziehen musste. Als Ding Zitao jedoch in der neuen Villa ankommt, verhält sie sich zunehmend seltsam. Sie spricht Sätze aus, an die sie sich später nicht erinnern kann, ganz so, als sei sie eine völlig andere Person und schließlich fällt sie ganz ins Wachkoma. Qinglin macht sich auf die Suche nach Hinweisen, um seine Mutter aus ihrem Zustand zurückzuholen und taucht dabei tief in ihre Vergangenheit, die seines Vaters und vieler anderer Menschen um ihn herum ein. Im Verlauf seiner Recherchen muss er sich jedoch fragen, ob Vergessen nicht manchmal auch ein Segen sein kann.

Die chinesische Schriftstellerin Fang Fang wurde für ihr 2016 erschienenes Buch „Weiches Begräbnis“ mit dem renommierten Literaturpreis Lu Yao ausgezeichnet. Da sie sich darin jedoch mit der Bodenreform ab 1948 beschäftigt, die Millionen von Menschen das Leben kostete, landete der Roman schnell auf dem Index, wie übrigens auch ihr neuestes Werk „Wuhan Diary“. „Weiches Begräbnis“ wird aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt. Aus dem, was sich in Ding Zitaos Unterbewusstsein im Wachkoma abspielt sowie Tagebüchern ihres Ehemannes Dr. Wu und Gesprächen, die Qingli mit Überlebenden und ihren Nachkommen führt, beginnt sich nach und nach ein Bild zusammenzusetzen.

Als junge Frau wurde Ding Zitao schwer verletzt und ohne Erinnerung aus einem Fluss geborgen. Später heiratete sie ihren damaligen Arzt Dr. Wu und bekam mit ihm Sohn Qinglin. Was sich im Laufe der Handlung über die Vergangenheit offenbart, ist ungemein grausam und als Leserin versteht man sehr schnell, warum die Protagonistin sich so lange geradezu gegen das Erinnern stemmt. Denn der Ausdruck „weiches Begräbnis“ beschreibt nicht nur das Begrabenwerden ohne Sarg, in nackter Erde, sondern auch die sanfte, rettende Abschottung, die das Verdrängen den Überlebenden gewährt.

Wer Romane liebt, in denen sich am Ende immer alles wundersam auflöst, wird mit diesem nicht glücklich werden. Alle anderen erwartet ein wahres Meisterwerk über die Macht von Erinnerungen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 26.05.2021

Großartige Fantasy

Das unsichtbare Leben der Addie LaRue
0

Es ist der 29. Juli 1714. Im französischen Villon-sur-Sarthe ist die 23-jährige Addie LaRue auf der Flucht. Seit Jahren hat sie sich erfolgreich dagegen gewehrt, verheiratet zu werden, doch nun soll sie ...

Es ist der 29. Juli 1714. Im französischen Villon-sur-Sarthe ist die 23-jährige Addie LaRue auf der Flucht. Seit Jahren hat sie sich erfolgreich dagegen gewehrt, verheiratet zu werden, doch nun soll sie die Frau eines jungen Witwers im Dorf werden und sich um seine Kinder kümmern; ihre Eltern lassen ihr keine Wahl. Und so betet Addie zu den Göttern um Hilfe, ganz wie sie es von der Dorfheilerin Estele gelernt hat. Doch dann begeht sie einen Fehler und gerät dabei an den Teufel, der mit ihr einen Pakt schließt. Addie wünscht sich, nie jemandem zu gehören und gibt dafür ihre Seele, doch dieser Wunsch hat einen hohen Preis.

Die Handlung wird auf verschiedenen Zeitebenen und zumeist aus Addies Perspektive erzählt. Auf der einen Seite folgen wir der Protagonistin durch ihr Leben in der Vergangenheit, auf der anderen Seite steht die Begegnung mit Henry Strauss im Jahr 2014. Die Erzählweise ist eher ruhig und der Fokus klar auf Addies Innenleben. Ihr Pakt hat sich inzwischen als Fluch erwiesen, denn sie wird vergessen, sobald sie eine Tür durchschreitet. Jahrhunderte der Enttäuschung und Einsamkeit liegen hinter ihr. Amüsant sind hingegen die Anspielungen auf historische Persönlichkeiten, die wie Addie einen Pakt geschlossen haben. Die Sprache ist klangvoll, fast schon poetisch – große Abenteuer sucht man hier jedoch vergeblich.

In Henry trifft Addie zum ersten Mal jemanden, der sich an sie erinnern kann. Zwar ist es ihr bisher immerhin gelungen, Künstler zu einem Gemälde oder Song zu inspirieren, aber nun existiert jemand, der sich sogar ihren Namen merken kann. Doch Addies Glück ist nicht von langer Dauer, denn das Schicksal in der Gestalt ihres ganz persönlichen Teufels hat noch eine weitere Grausamkeit für sie auf Lager.

Ehrlich gesagt hatte ich von diesem Buch einfach nur nette Fantasy erwartet, aber es ist so viel mehr: vom mehrschichtigen Aufbau (7 Abschnitte für 7 Sommersprossen in Addies Gesicht, die ein Sternbild formen und 7 Kunstwerke inspirieren) über Addies großartigen Charakter, eine Reise durch die unterschiedlichsten Epochen und natürlich die Liebe – dieser Roman hat all das zu bieten!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 24.05.2021

Szenen einer Ehe

Tage mit Gatsby
2

In den 1920er Jahren sind Zelda und Scott Fitzgerald DAS Glamourpaar in New York. Vor allem Zelda inspiriert mit ihrem Haarschnitt, Tanz und Verhalten Frauen im ganzen Land. Doch dann beschließen die beiden, ...

In den 1920er Jahren sind Zelda und Scott Fitzgerald DAS Glamourpaar in New York. Vor allem Zelda inspiriert mit ihrem Haarschnitt, Tanz und Verhalten Frauen im ganzen Land. Doch dann beschließen die beiden, gemeinsam mit Tochter Scottie nach Europa zu gehen. Scotts schriftstellerischer Erfolg will sich nicht recht einstellen und das Leben soll jenseits des großen Teiches billiger sein. In Frankreich will er endlich seinen revolutionären Roman schreiben – über einen Mann namens „Gatsby“. Doch zwischen Zelda und ihm beginnt es immer mehr zu kriseln.

„Tage mit Gatsby“ wird komplett aus Zeldas Perspektive erzählt. Das führt auf der einen Seite dazu, dass man als Leserin immer ganz nah bei ihr als Charakter bleibt. Auf der anderen Seite stellt sich auch eine gewisse Parteilichkeit ein, denn Scott und sein Verhalten sehen wir stets nur durch Zeldas emotional getrübte Brille. Das führte bei mir dazu, dass ich für sie deutlich mehr Sympathie aufbringen konnte, während Scott mit seinem Alkoholkonsum und seiner Egozentrik zum Gegenspieler wurde.

Der Autorin gelingt es sehr gut, die Konflikte der Ehe herauszuarbeiten. Zelda wünscht sich, ebenfalls als Schriftstellerin Erfolg zu haben; für Scott soll sich ihre Rolle jedoch auf die der Ehefrau und Mutter sowie Zierde an seiner Seite beschränken. So fehlt ihr zunehmend ein Sinn und eine Aufgabe, worunter ihre Psyche stark leidet. Scott hingegen bedient sich schamlos an den Ideen seiner Frau und dem eigenen Leben, um seine Werke zu schaffen. Regelmäßig liest er Zeldas Tagebuch und versieht es sogar mit Anmerkungen. Als seine Ehefrau sich immer weiter von ihm entfernt und die Scheidung fordert, droht die Situation zu eskalieren.

„Tage mit Gatsby“ dokumentiert nicht nur die Entstehung eines großen Romans, sondern auch (und vor allem) das Glück und Leid einer Ehe zweier extremer Menschen. Ein wirklich gelungenes Psychogramm, das außerdem die „Roaring Twenties“ wieder zum Leben erweckt.

  • Einzelne Kategorien
  • Handlung
  • Erzählstil
  • Charaktere
  • Cover
  • Geschichte
Veröffentlicht am 21.05.2021

Zaknafein ist zurück

Zeitenlos
0

Schon vor einigen Jahrzehnten verlor Drizzt Do‘Urden seinen Vater, den Waffenmeister Zaknafein. Damals opferte er sein eigenes Leben, um seinen Sohn zu schützen. Doch eines Tages taucht er aus dem Nichts ...

Schon vor einigen Jahrzehnten verlor Drizzt Do‘Urden seinen Vater, den Waffenmeister Zaknafein. Damals opferte er sein eigenes Leben, um seinen Sohn zu schützen. Doch eines Tages taucht er aus dem Nichts wieder auf. Drizzt ist sofort misstrauisch , er ist nicht bereit, seinen Vater noch einmal zu verlieren. Dabei käme ihm dessen Hilfe gelegen, denn er und seine Verbündeten sehen sich mit besorgniserregenden Vorkommnissen konfrontiert.

„Zeitenlos“ wird auf zwei verschiedenen Zeitebenen erzählt: einmal der Vergangenheit im Jahre 1018, in der berichtet wird, wie Zaknafein Simfray Mitglied des Hauses Do‘Urden wird und seinen langjährigen Freund, den Söldner Jarlaxle kennenlernt. Und in der Gegenwart im Jahre 1488, in der Drizzt sich mit seiner Frau Catti-brie in Luskan niedergelassen hat und Verbündete der unterschiedlichsten Völker um sich geschart hat. Dabei werden die beiden Welten sehr gut kontrastiert. Im düsteren, unter der Erde liegenden Menzoberranzan der Drow, also der Dunkelelfen, sind Männer nicht mehr als bloße Sklaven der herrschenden Frauen. In der schillernden, vielfältigen Welt oberhalb leben Elfen, Menschen, Zwerge, Halblinge und andere Völker in Freiheit.

Die Figur des Zaknafein gehörte definitiv zu den faszinierendsten Charakteren in den ersten Bänden der „Forgotten Realms“-Reihe. Er trainierte Drizzt, war ihm ein Freund in einer Umgebung, in der Zuneigung unerwünscht ist und gab ihm den Mut, Menzoberranzan zu verlassen. Umso schöner ist es, dass Vater und Sohn in der Gegenwart eine neue Chance erhalten. Das gestaltet sich jedoch nicht unbedingt einfach, denn für Zaknafein ist seit seinem Tod nur ein Wimpernschlag vergangen. Mit den Veränderungen um ihn herum tut er sich schwer, vor allem mit der Tatsache, dass sein Sohn mit einer „niederen“ Menschenfrau zusammenlebt.

Da „Zeitenlos“ der erste Band einer neuen Trilogie ist, bleibt in der Handlung am Ende vieles offen. R.A. Salvatore beweist jedoch erneut, dass er auch nach fast 30 Jahren mit Drizzt Do‘Urden nichts verlernt hat. Eine grandiose Fortsetzung für Fans, der Quereinstieg dürfte aufgrund der Menge an Charakteren und Vorgeschichte schwer fallen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 09.05.2021

Ein bedeutsames Thema

Das Patriarchat der Dinge
0

Lange Schlangen vor den Damentoiletten und fehlende Taschen an Frauenmode – das sind nur zwei Themen, die Rebekka Endler in ihrem Sachbuch „Das Patriarchat der Dinge“ anspricht. Vor einigen Monaten hatte ...

Lange Schlangen vor den Damentoiletten und fehlende Taschen an Frauenmode – das sind nur zwei Themen, die Rebekka Endler in ihrem Sachbuch „Das Patriarchat der Dinge“ anspricht. Vor einigen Monaten hatte ich schon „Unsichtbare Frauen“ von Caroline Criado-Perez gelesen, in welchem sie sich mit der so genannten Gender Data Gap befasst. Rebekka Endler zeigt uns jetzt sehr anschaulich, wie genau diese fehlenden Daten über weibliche Körper und Lebensrealitäten, sich ganz konkret im täglichen Leben auswirken.

Ihre Sprache ist gut verständlich und verdeutlicht durch Beispiele, wo es im ach so gleichberechtigten Deutschland (und auf der ganzen Welt) noch „Verbesserungsbedarf“ gibt. Dabei macht sie etwas richtig, was Criado-Perez leider versäumt hat: Ihre Sprache ist inklusiv, sie schreibt konsequent gendergerecht und übergeht vor allem marginalisierte Gruppen nicht. Denn wo weiße Frauen schon zu kämpfen haben, ist die Situation für trans und nicht-binäre Menschen oder People of Colour noch viel schwieriger.

In insgesamt neun Kapiteln bewegt sie sich durch eine Vielzahl von gesellschaftlichen Bereichen. Von öffentlichen Toiletten, die durch ihre Gestaltung und Verfügbarkeit eindeutig an männliche Bedürfnisse angepasst sind. Über Firmen, die glauben, man brauche ein „Männerprodukt“ nur etwas verkleinern und pink anzumalen und schon spreche es eine weibliche Zielgruppe an. Oder der Modebranche, die gefühlt alle Outfitkomponenten eines Mannes mit Taschen versorgt, während Frauen ihre Wertsachen anderswo verstauen oder mit Taschen an den unpassendsten Stellen leben müssen.

Was für einige sicherlich nur nach Ärgernissen klingt, wird im medizinischen Bereich im wörtlichen Sinne lebensbedrohlich. Viele Krankheiten drücken sich bei Frauen in anderen Symptomen aus, weshalb beispielsweise Schlaganfälle viel später erkannt werden, als bei Männern. Und auch hier weitet Rebekka Endler das Thema wieder aus: Hautveränderungen sind bisher nur an weißen Personen beschrieben, so dass People of Colour oft falsch behandelt werden.

Ein Buch, das vieles aufdeckt und wütend macht, aber auch vor Augen führt, dass sich hier endlich etwas ändern muss.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere