Schuld zu verdrängen, ist die einfachste Lösung, aber auf Dauter tötet es die Seele
Der Wert der GefühleBianca hat den Verlust ihrer Schwester nie verwunden. Wie ein Damoklesschwert schwebt das Unglück über der ganzen Familie und zerstört nach und nach das solide Fundament. Die Mutter hat seit diesem schicksalhaften ...
Bianca hat den Verlust ihrer Schwester nie verwunden. Wie ein Damoklesschwert schwebt das Unglück über der ganzen Familie und zerstört nach und nach das solide Fundament. Die Mutter hat seit diesem schicksalhaften Tag mehr als einmal versucht, sich das Leben zu nehmen, der Vater ist aus diesem toxischen Konstrukt ausgebrochen und hat sich ein anderes, (sorgen-)freies Leben aufgebaut. Nur Bianca selbst sitzt in einem Käfig aus Schuldgefühlen, der sie zu Zwangshandlungen antreibt. Selbst die Leibe zu Carlo kann die alten Wunden nicht heilen lassen....
Dies Buch ist düster, teuflisch, toxisch und morbide zugleich und zeigt, welche Schneise der Verwüstung ein tragisches Unglück hinterlässt, wenn die Fragen nach der Schuld und dem Warum auch nach Jahren ungeklärt sind. Bianca quält sich seit ihrer Kindheit mit Schuldgefühlen und versucht diese mit ihrem gnadenlosen Bedürfnis nach Perfektion und dem zwanghaften Drang, Müll in seine einzelnen Bestandsteile zu zerlegen und nach organischen und anorganischen Stoffen zu trennen, in den Griff zu bekommen. Es ist nicht immer leicht, sie als Figur zu verstehen und mitunter stößt sie die Leser:innen mehr von sich, als auf sie zuzugehen. Es gibt einige Ekel erregende Szenen, die mir die Gänsehaut auf die Arme trieben und bei denen ich gegen eine aufkommende Übelkeit ankämpfen muss.
Die Schuldgefühle fressen sich wie ein wucherndes Krebsgeschwür durch die Gedanken und Handlungen der weiblichen Hauptfigur, nehmen von ihr Besitz und machen ein normales Lebens fast unmöglich. Auch ist Bianca regelrecht von dem Gedanken besessen, mir Carlo unbeding ein Kind haben zu müssen (!!), um zumindest einen Teil der Schuld zu tilgen. Den Zerfall der eigenen Familie immer vor Augen, versucht Bianca einen Weg aus dieser schmerzhaften Abwärtsspirale zu finden. Wie sie dabei Schuld und Schmerz kompensiert, ist nicht immer auf den ersten Blick nachzuvollziehen und sorgt hin und wieder für Kopfschütteln.
Die Autorin lässt ihre Leserschaft lange darüber im Unklaren, wie sich das Unglück damals wirklich zugetragen hat und baut dadurch eine extrem hohe Erwartungshaltung auf. Die Seiten und Kapitel mehren sich, aber die Lösung will und will einfach nicht kommen. Es entsteht das Gefühl, immer kurz vor der Enthüllung des Geheimnisses zu sein, um dann doch wieder enttäuscht umzublättern und festzustellen, dass die Autorin wohl im nächsten oder übernächsten Kapitel endlich reinen Tisch macht. Diese Hinhaltetaktik zieht den Roman leider unnötig in die Länge und wäre meine Erachtens nicht nötig gewesen. Denn es schleicht sich im Verlauf des Buches bei Lesenden und Protas eine gewisse Gleichgültigkeit ein, die letztendlich dafür sorgt, dass die Auflösung der Tragödie fast schon stoisch zur Kenntnis genommen wird.
Ein Roman, der viele verstörende Szenen und intensive Gefühlsschwankungen enthält, die bei unmittelbar Betroffenen durchaus negative Gedanken hervorrufen können - ein Hinweis des Verlages wäre hier angebracht, um Nachahmung zu vermeiden.
Auf jeden Fall ein Debüt, das gegen den Strom schwimmt und die dunkle Seite der Seele zum Vorschein bringt.
3,5 Sternchen