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Veröffentlicht am 08.02.2023

Where have all the flowers gone?

Malvenflug
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Ursula Wiegels Familienroman „Malvenflug“ beginnt mit einem Personenverzeichnis, in dem die wichtigsten Mitglieder der Familie Prochazka aufgeführt und ihre wichtigsten Stationen genannt sind. Das ist ...

Ursula Wiegels Familienroman „Malvenflug“ beginnt mit einem Personenverzeichnis, in dem die wichtigsten Mitglieder der Familie Prochazka aufgeführt und ihre wichtigsten Stationen genannt sind. Das ist gut so, denn obwohl der Roman nur 223 Seiten füllt, besitzt er ein kopfstarkes Personal, in dem man nicht jedes Gesicht und jeden Namen sofort wiedererkennt.

Im Zentrum stehen die vier Kinder von Emma und Pavel (Paul) Prochazka und eben die beiden, der sich früh auseinandergelebt haben. Emma trägt die gemeinsamen Schulden als Gastarbeiterin im schweizerischen Davos ab (Hans Castorp winkt da auch mal durch die Zeilen), Pavel flattert als Lebemann noch weiter von Blüte zu Blüte, ehe er woanders weitere Nachkommen zeugt.

Wiegele erzählt das Schicksal der Familie Prochazka in ihrem zweigeteilten Roman in kurzen Kapiteln, die wie Dioramen nur jeweils kurze Ausschnitte aus dem Leben der Figuren zeigen. Man kommt den Familienmitgliedern deshalb nicht besonders nahe, verfolgt manche Station gleichsam wie aus einem tabellarischen Lebenslauf entnommen. Dennoch gelingt es der sehr knappen, auf das Wesentliche beschränkten Erzählhaltung Wiegeles, aus diesen wenigen Seiten mosaikartig das Panorama einer weitverzweigten Familie darzustellen – in Einzelbildern.

Das zentrale Motiv des Romans ist der Personenverbund der Familie – betrachtet als Individuen eines lebendigen Organismus. Beim Lesen verfolgt man das Werden und Vergehen der Familienmitglieder, wiederzufinden im Motiv der Blumen, an denen viele Figuren des Romans hängen. Die Stockmalven Helgas und Lottes sind wie die Familie: Der Samen der Blumen setzt den Organismus fort, wird in der Welt verstreut, blüht auf, mehret sich, bringt neue Triebe hervor und passt sich der Umwelt an. Samen sind so widerstandsfähig, wie fertige (gepresste) Blüten empfindlich sind – postalisch versendet, erreicht keine von ihnen das Ziel unbeschädigt (S. 208 f.). Auch Menschen verkraften die Entwurzelung und Verschickung nicht immer gut – am krassesten sichtbar an den Großeltern aus dem mährischen Brünn, die als Deutsche nach dem Krieg auf einem Todesmarsch aus der Tschechoslowakei vertrieben werden. Diese Blumenmetapher ist nicht besonders originell, aber sie unterlegt den Roman dezent und lässt sich vor allem durch den Titel „Malvenflug“ aufschließen.

Das Motiv der Familie wird bei Wiegele durch die großen Drangsale der Zeit der 1930er (erster Teil) und der Nachkriegszeit (bis in die 1990er Jahre) durchgespielt. Unaufgeregt, aber bestimmt leitet die Autorin uns beim Lesen durch das Länderviereck Österreich, Slowakei, Schweiz und Italien und führt das Verbindende vor, das gleichzeitig das Trennende ist: Krieg, Nazimus, Vertreibung. Dabei stellen die im Text auffälligen Austriazismen sprachlich klar, wo der Gemütskern des Romans steckt: in Österreich. Alle kleineren Motive finden sich in einzelnen Figuren gespiegelt.

Genauso unaufgeregt zeigt die Autorin die Ambivalenz des Einzelnen: Emma kann eine „Heldin“ der Familie sein, weil sie durch ihre aufopfernde Schufterei in den Schweizer Hotelküchen die Familie wirtschaftlich erhält, gleichzeitig geht ihre „Sparwut“ den Kindern zumal später auf die Nerven und verhindert, dass die Mutter in ihrer Zeit des Heldentums auch Mutter sein kann. Sohn Alfred enttäuscht den feschen Vater, weil er zwar zunächst die harten Anforderungen der Napola meistert, dann aber frömmelt, Priester wird – um sich schließlich doch wieder dem weltlichen Stand zuzuwenden und eine Familie zu gründen. Uneheliche Kinder, Ehebruch, Holocaustverleugnung, Gefühlskälte – nichts Menschliches ist hier fremd. Die Ambivalenz des Einzelnen wird dabei wertfrei dargestellt und nicht verurteilt. So kann die Autorin über politische Verirrungen, kleinbürgerliche Engstirnigkeit und zwischenmenschliche Schwächen erzählen, ohne ein Urteil – oder eine echte Deutung zu liefern.

Das hat mir gefallen, auch wenn ich gerade des nüchternen Stils, wegen und wegen der vielen Gesichter lange gebraucht habe, mit dem Roman warm zu werden. Ein Familienroman ohne große Aufregungen, sondern mit andeutungsweiser Zurückhaltung, dessen (Be)Deutung nicht unmittelbar auf der Hand liegt.

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Veröffentlicht am 30.05.2021

Ein Mutmacherbuch mit Hunden und Schimmel

Alles, was passieren wird
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Wenn man 14 ist, hat man eigentlich schon genug Probleme. Iris bekommt ein ganz großes dazu: Ihre Mutter stirbt. Katharina Hackers Romans „Alles, was passieren wird“ begleitet Iris bei ihren ersten Schritten ...

Wenn man 14 ist, hat man eigentlich schon genug Probleme. Iris bekommt ein ganz großes dazu: Ihre Mutter stirbt. Katharina Hackers Romans „Alles, was passieren wird“ begleitet Iris bei ihren ersten Schritten hinaus aus dem schwarzen Loch, in das sie nach dem Verlust fällt. Nichts ist wie vorher, alles hat Bedeutung – oder hat keine Bedeutung. Dabei ist Iris ein normales Mädchen, vielleicht ein bisschen musikalischer als andere.

Hacker vermeidet den Kitsch, der sich unvermeidlich aufdrängt, wenn man aus dem Klappentext erfährt, dass ein weißes Pferd Iris auf den Weg hilft. Aber dieses Pferd ist nicht der himmlische Helfer, sondern die Probleme des Pferdes sind nur der Katalysator für Iris – und die Pferdegeschichte drängt sich auch nicht auf oder gar in den Vordergrund. Dort bleibt Iris mit ihrem großen und den vielen kleinen Problemen. Mit doofen Lehren, hänselnden Mitschülern, einem depressiven Vater, den Geldsorgen und den ersten Amouren.

Einen Pferderoman hätte ich nicht gemocht, aber diese Coming-of-Age-Story in Berlin und dem brandenburgischen Nirgendwo hat mir gefallen, die zentralen Figuren sind fein gezeichnet und nicht nur Funktionsträger der Handlung. Einziges Manko: Iris begegnet zu vielen netten Menschen. Aber das darf auch einmal sein in einem Mutmacherbuch für Jugendliche.

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Veröffentlicht am 26.02.2021

Brillant analysiert und erschreckend bloßgelegt – die USA und ihre tiefe Spaltung

Der tiefe Graben
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Ezra Klein ist politischer Journalist und begleitet seit Jahren in unterschiedlichen Funktionen auf unterschiedlichen Ebenen die amerikanische Politik – regional wie national. Klein ist Mitbegründer des ...

Ezra Klein ist politischer Journalist und begleitet seit Jahren in unterschiedlichen Funktionen auf unterschiedlichen Ebenen die amerikanische Politik – regional wie national. Klein ist Mitbegründer des Internetportals „Vox“, das sich dem „explanatory journalism, also der erklärenden Berichterstattung verschrieben hat. Oder anders gesagt: Klein weiß, was er tut. Vor allem ist er in der Lage, sich immer wieder neben sich zu stellen und zu erläutern, warum er die Sachlage so und nicht anders interpretiert, weil er selbst selbstverständlich eine Ansicht und politische Neigung hat, die man als Leser immer mitdenken solle. Auch ohne diese metamethodischen Hinweise kommt man recht schnell dahinter, dass Ezra Klein ein demokratischer, eher liberaler Jude ist, zudem Vater und Veganer. Bemerkenswert an der Darstellung Kleins ist allerdings, dass er stets den Eindruck vermittelt, eine erschöpfende Datenlage auf den Tisch zu legen, die ihn von dem Vorwurf der Parteilichkeit weitestgehend freisprechen kann.

Ausgangspunkt der Darstellung ist die Frage, ob die Wahl Donald Trumps 2016 ein Versehen gewesen ist, ein Ausrutscher, der sich durch eine Verkettung unglücklicher Umstände „passiert“ ist, oder ob da etwa mehr hintersteckt. Von hier aus breitet Klein eine faktengesättigte Analyse seines Landes aus, das seit mindestens 20 Jahren tief gespalten ist und durch das „der tiefe Graben“ geht, der dem Buch den Titel gegeben hat. Auslöser für die politischen Verwerfungen macht Klein eine Menge aus – soziographischer Wandel, ökonomische Krisen, Identitätsprobleme, strukturelle Schieflagen. Immer wieder sind es einzelne Ereignisse und Personen, an den Klein Wegpunkte markieren und Abzweigungen festmachen kann, etwa als Präsident Reagan das Gebot ausgewogener Berichterstattung für die Presse aufhebt – das erst machte die tendenziöse „Lügenpresse“ à la Fox News, Breitbart & Co. Möglich – oder die verhängnisvolle Modifikation der Filibuster-Regel, deren Anwendung es der Senatsmehrheit ermöglicht, sogar den Beginn parlamentarischer Debatten zu verhindern – nicht nur den Ausgang per Abstimmung. Auch die Gesetze, die Spenden an Parteien neu regelten, haben einen ähnlich verheerenden Einfluss gehabt.

Zwei Ansätze sind besonders überzeugend, um die Zerrissenheit des Landes zu erklären: Zum einen der psychologische Zugang zum Einzelnen, zum anderen die Auseinandersetzung mit dem Zweiparteiensystem.

Klein zitiert jede Menge psychologischer und soziologischer Studien zu Gruppen verhalten, zu Interessenverschiebungen, zu Vereinzelungs- oder Abstiegsängsten, die deutlich machen, warum die Amerikaner für die Polarisierung ihrer politischen Einstellungen so anfällig sind. Die Studien belegen, wie Rollen bzw. Identitäten sich in den Vordergrund drängen und radikalisieren – nicht nur als Fan einer bestimmten Sportmannschaft oder als Hundehalter, sondern fundamentale Wesensmerkmale wie Mitglied einer bestimmten Rasse, sozialen Schicht oder Inhaber bestimmter rechtlicher Privilegien. Interessanterweise sind die wünschenswerten gesellschaftlichen Veränderungen der letzten 70 Jahre, in denen die USA eigentlich mehr Gleichheit geschaffen heben etwa durch die Aufhebung der rassistischen Gesetze zur Unterdrückung Farbiger, gleichzeitig Angsttreiber bei denen, die sich in ihren gekannten Freiräumen eingeengt fühlen. Gefühlte Herabsetzung ist hier ein >Schlüssel zum Verständnis der Hinwendung zu politischen Scharfmachern, die eine Rückkehr in die heile Welt versprechen. „Make America Great Again“ ist ein Schlachtruf für jene, die unter dem Eindruck stehen, die modernen Entwicklungen hätten sie abgehängt. In dem Augenblick, in dem demokratische Politiker weiter an der Gleichheitsschraube drehen – Spracheregelungen immer wieder auftretende Empörungswellen in den sozialen Medien – werden gleichzeitig auf der Gegenseite Abwehrmechanismen aufgewertet. Polarisierung beginnt und wird verstärkt. Klein zeigt eindrucksvoll, wie sich nach dem kybernetischen Prinzip – je mehr, desto mehr – die Polarisierung selbst bedient und anwächst, sei es durch politische Scharfmacher, sei es durch eine entfesselte Presse, sei es durch Parteimanöver bis in den Supreme Court. Beängstigend daran ist, dass sich hieraus eigentlich kein Ausweg finden ließe außer durch Selbstbeschränkung der Wähler im Kleinen und der Parteirepräsentanten (das sind nicht wirklich Politiker) im Großen. Das wird wohl nicht geschehen, ehe das System implodiert. Klein selbst gibt in seinem letzten Kapitel auch nur unbefriedigende Analyseansätze zur Lösung des Dilemmas.

Die zweite Ursache liegt im Zweiparteiensystem, das ja in seiner Grundkonstellation schon Polarisierung hervorrufen kann. Dass sich diese erst jüngst eingestellt hat, verblüfft, aber hier zeigt Klein sehr anschaulich, wie die Parteiidentitäten bis vor etwa 30 Jahren deutlich überlagert waren von regionalen Identitäten: Die Dixie-Demokraten des Südens haben im Zweifel ihren eigenen Präsidenten auflaufen lassen, wenn es gegen die Interessen der Südstaaten ging. Die Republikaner des mittleren Westens waren selbstredend für ein Krankenversicherungssystem für alle, weil es ihrer regionalen Klientel zugutekam. Wie hier die Identitätstektonik durch Medien und Parteimänöver, durch Migration und ökonomische Entwicklungen in Verschiebung geriet, erläutert Klein auch historisch. Für mich besonders interessant der Erklärungsansatz, dass in einem Zweiparteiensystem die Minderheit, wenn sie einer besonders großen Mehrheit gegenübersteht, zu mehr Kompromissen bereit sein muss, eine Mehrheit hingegen zu mehr Kompromissen bereit sein kann und darf. Erst heutzutage, wo die jeweilige parlamentarische Mehrheit knapp geworden ist und auch auffällig häufig wechselt, stehen die Reihen geschlossen und werden Zugeständnisse nicht mehr gemacht. Überzeugend – und dramatisch. Denn was ist daraus der Ausweg?

Klein widmet der Frage, ob die USA überhaupt demokratisch sind, viele Seiten, und verneint angesichts vieler Phänomene die Antwort. Dass etwa demokratische Präsidentschaftsbewerber systemisch in landesweiten Wahlen an Wahlmännerstimmen unterliegen, obwohl sie die deutliche Mehrheit der Wählerstimmen errungen haben, ist ein solches Phänomen. Auch die parteipolitische Gewissensprüfung, ja ihr parteipolitischer Auftrag für Richter, die ja eigentlich neutral das Gesetz und die Verfassung schützen sollten, gehört dazu oder die demokratiefeindlichen Zuschnitte von Wahlbezirken.

Ezra Kleins Analysen sind fast immer treffend, scharf und überzeugend. Seine Lösungsansätze – und zu mehr ringt er sich auch nicht durch – sind verhalten und eher besorgniserregend schwächlich. Enttäuschend ist, dass er eigentlich zur Fundamentalkritik des Systems USA nicht bereit ist, obwohl er nachweist, das die USA ihre eigene präsidiale Verfassung niemals und nirgendwo installiert haben, wo sie politische Umstürze in Richtung Demokratie herbeigeführt haben. Einen Blick in europäische Mehrparteiensysteme quittiert er mit der unterkomplexen Feststellung, die hätten ja auch massive Probleme, und beschäftigt sich nicht weiter mit dieser verfassungsmäßigen Alternative zum System USA. Vereinfacht gesagt schriebt Ezra Klein die brillante Analyse eines maroden Systems und resümiert: „weiter so, nur netter.“ Das kostet ihn in meiner Beurteilung den fünften Stern, auch wenn „Der tiefe Graben“ das klügste ist, was ich über die USA und Trump gelesen habe.

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Veröffentlicht am 22.01.2021

Von Grönland über Shakespeare ins Exil

Treibeis
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Libuše Moníková war mir überhaupt kein Begriff, bis ich „Treibeis“ in die Hand genommen habe, dabei war sie in den rund um die 1980er Jahre offenbar etwa zwanzig Jahre lang bis zu ihrem Krebstod 1998 eine ...

Libuše Moníková war mir überhaupt kein Begriff, bis ich „Treibeis“ in die Hand genommen habe, dabei war sie in den rund um die 1980er Jahre offenbar etwa zwanzig Jahre lang bis zu ihrem Krebstod 1998 eine stark beachtete Stimme im deutschen Literaturbetrieb, und zwar in der Abteilung mit kleinen Auflagen komplexer Romane mit anspruchsvoller Sprache und Thematik. Moníková – aus der Tschechoslowakei aus politischen Gründen geflohen – schrieb auf Deutsch, ihrer „Literatursprache“, mit der sie die Dinge neu sagen konnte. Ähnlich hat sich auch Abbas Khider einmal zu seiner neuen Sprache als Autor geäußert: Die Grausamkeiten seines Lebens im Irak müsse er auf Deutsch sagen, weil es auf Arabisch zu sehr weh täte (frei zitiert).

In „Treibeis“ ´mäandert der Englischlehrer Jan Prantl durch die schmerzhaften Themen des heimatlos entwurzelten Exilanten: Er ist Tscheche, gehörte zu den sagenumwobenen Parachutisten, deren erste Kommandos Heydrich ermordet hatten, musste vor den stalinistischen Säuberungen fliehen und landeten über aberwitzige Umwege in Angmagssalik (Ammassalik) in Grönland. Dort versucht er alkoholumnebelt, den Inuitkindern Shakespeare näher zu bringen. Er ergreift eher zögernd die Chance, zu einem Pädagogenkongress nach Österreich zu fliegen, wo er dann aber auf eine auserlesene Schar von Lehrerchargen trifft, bunt gemischt aus allen Ländern. Die Diskussionen zwischen den Vertretern des Ostblocks und des Westens oder zwischen den modernen Pädagogen und den Backpfeifenpedells sind rasant, anspielungsreich und sogar witzig: Angeheitert jagen ernstzunehmende Intellektuelle dem tollenden Prantl durch den Raum hinterher, um ihm ein originales Wittgenstein-Manuskript abzunehmen. Alle Makarenko-Exkurse hingegen würde ich nicht vermissen.

Wichtiger aber noch als der Lehrerstadel ist das Zusammentreffen mit Katja, der Stuntfrau und Greifengestalt Katja, mit der alles Wichtige teilt: die tschechische Herkunft, die Liebe zum Kino, die Sehnsucht nach der Heimat, den Schmerz des Exils und nicht zuletzt das Bett – bei ihrer Reise durch die Alpen immer wieder ein anderes.

Der Roman überrascht mit seiner Tiefe, seiner präzisen Sprache und seinen schweren Themen, die oftmals locker vermittelt werden, nämlich im Dialog. Dennoch fühlt sich die Lektüre der Erläuterungen Prantls etwa über den tschechischen Widerstand an wie eine Geschichtsstunde. Und schon der Auftakt in Grönland ermüdet mit seitenlangem Räsonieren über das zeitgenössische Theater Shakespeares. Zu oft wirken die Exkurse bemüht, aufdringlich intellektuell und zu lang. Beim Schwelgen in der Sehnsucht nach der alten Heimat im letzten Viertel des Romans ergriff mich jedoch tatsächlich ein leichter Phantomschmerz wegen des verlorenen Prags, das ich gleichwohl nie gekannt habe.

Von Grönland zu Wittgenstein, von Shakespeare zu Heydrich, von Stuntleuten zu Stalin – eine überraschende Mischung, kunstvoll, aber nicht immer gelungen angerichtet.

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Veröffentlicht am 31.08.2020

„So ist die Welt. Niemand ist frei“ (S. 60)

Die Wahnsinnige
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Wer „Die Wahnsinnige“ als historischen Roman liest, könnte auf dem Holzweg sein. Denn die Figur der Johanna der Wahnsinnigen, Königin von Spanien etc., ist zwar eine historische Person, aber in Hennig ...

Wer „Die Wahnsinnige“ als historischen Roman liest, könnte auf dem Holzweg sein. Denn die Figur der Johanna der Wahnsinnigen, Königin von Spanien etc., ist zwar eine historische Person, aber in Hennig von Langes Roman stellt sie nur eine Möglichkeit dar, wie sich ein Mensch - eine Frau! –im Konflikt zur Welt behauptet. Ist Johannas so wie „Die Wahnsinnige“ zeichnet? Nein, dafür ist sie zu modern. Aber steckte man eine 1980 geborene Frau in Johannas historische Situation, sie würde „Die Wahnsinnige“ werden. Die von der Autorin gewählte Sprache (die Königin wird beispielsweise gesiezt, nicht geihrzt) weist schon den Weg, dass es nicht um historische Darstellung oder gar Korrektheit geht, auch nicht um eine Version einer „echten Johanna“, sondern um die Konstanten einer „Welt, deren Methoden sich über die Jahre verfeinert, aber womöglich gar nicht so sehr verändert haben.“ (S. 208, im Nachwort).

In einem Interview im Magazin ‚Allegra‘ von 2016 sagt Hennig von Lange: „Wir waren alle Töchter der 68er-Generation, wir alle hatten Mütter, die erst einmal nur davon träumten, leidenschaftlich zu lieben, zu leben und zu arbeiten– aber eben auch Mütter sein wollten, die für ihre Kinder da waren. In Freiheit.“ Ehefrauen und Ehemänner, Kinder und Mütter und Väter. Kindsein, Erwachsenwerden, Sichausprobieren, Frausein, Liebe und Familie – das sind Hennig von Langes Themen seit „Relax“, fanden sich in der Reihenhaussiedlung der „Kampfsterne“ wieder und spiegeln sich auch im Geschehen innerhalb der Klostermauern von Tordesillas.

Johanna von Kastilien macht während des Romans ein Entwicklung durch. Zwar erlebt man sie auch in Tobsuchtsanfällen, aber von Wahnsinn keine Spur. Vielmehr sucht die Johanna dieses Romans nach sich selbst und nach einem Bild von sich, das sie der Welt vorstellen möchte. „‚Was glaubst du, wer ich bin?‘ Was für eine absurde Frage! Sie wusste ja selbst nicht einmal, wer sie wirklich war!“ (S. 41) Nach und nach identifiziert Johanna mehrere Versionen ihrer selbst, die sie nach Funktionen unterscheidet: Sie ist die Tochter Isabellas der Katholischen, sie ist Ehefrau Philipps es Schönen, sie ist Thronfolgerin eines riesigen Reiches. Und sie ist Mutter. Endlich anerkannt, dass sie in mehrer Persönlichkeiten zu unterscheiden ist, will Johanna selbst entscheiden, welche ihrer Rollen am meisten Gewicht haben soll: „Dann werde ich mich von meiner Funktion als Tochter lösen und als Ehefrau in Flandern wichtig werden. […] Ich lasse mir nicht meine Eigenständigkeit nehmen!“ (S. 58)

Selbstverständlich hat Johanna die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Und dieser Wirt ist seit Jahrhunderten männlich: In einer feudalen Männerwelt - die gleichwohl auch heute noch nicht vorbei ist – ist es der Frau nicht überlassen, selbst zu bestimmen. Nicht einmal Männern gelingt es immer, ihre Eigenständigkeit zu behaupten gegenüber den Rollenzuschreibungen, die ihre Geburt ihnen schicksalhaft auferlegt (man betrachte hier den Machtkampf Philipps mit Johannas Vater um die Regentschaft in Spanien). „So ist die Welt. Niemand ist frei“ (S. 60), lautet Johannas Erkenntnis - und tröstet nicht. Dann manche sind weniger frei.

Johanna sieht - und daran kann man schon wahnsinnig werden – dass ihre Chancen allein schon deshalb schlechter stehen, weil sie eine Frau ist. Frauen scheinen dem Gefühl näher zu stehen, und das ist kein guter Helfershelfer im Kampf um die Macht („Sobald es um Gefühle ging, war die große Isabella ihrem Mann genauso ausgeliefert wie alle anderen Frauen ihren Männern auch.“ [S. 27]). Johanna spürt, dass sie - insbesondere allein mit ihrem Mann und verborgen vor dem Auge der Öffentlichkeit – „machtlos und ausgeliefert“ ist und stets gezwungen, sich „gegen Eitelkeit, Treulosigkeit und Herrschsucht der Männer zu wappnen.“ (S. 146).

Verwegen ist die Vision, dieses Dilemma nicht durch die Machtfrage aufzulösen oder wirklich mit Mord, wie Johanna anfangs äußert, sondern durch Konsens, durch eine moderne. gleichberechtigte Partnerschaft: „Den Traum von einer gemeinsamen Zukunft, von der Verwirklichung einer gemeinsamen Idee“ (S. 198) hat Johanna zu lange angehangen, um auf die Härte der Welt ausreichend vorbereitet zu sein. Hier ist die Figur auch sprachlich („Verwirklichung“) zu einer modernen Frau gewandelt, bereit sich der Welt zu stellen. So verlässt der Roman auch die historische Szene: In dem Moment, in dem Johanna glaubt, endlich in ihrer Funktion als Regentin gefragt zu sein.

Schon auf Seite 8, in dem fiktiven Brief Johannas an ihre Tochter, verrät Johanna die Lehre ihres Lebens: Die Welt ist kaputt und macht nicht glücklich; Frieden und Freiheit kann man nur in sich selbst finden.

Alexa Hennig von Lange hat keinen historischen Roman geschrieben, sondern sie hat die krassen historischen Umstände einer Frau, die in besonders harter Weise von der Welt in eine Rolle gepresst wurde, benutzt, um allgemein Menschliches, um anthropologische Konstanten zu zeigen.

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