Als „Königin der Spannung“ wurde sie einst von der New York Times bezeichnet – und Cosmopolitan fügte hinzu, dass man „ihre Bücher bis zum Schluss nicht aus der Hand legen kann“! Dem pflichte ich bei, bin ich doch eine begeisterte Mary Higgins Clark – Leserin, seitdem sie mit“ „Where are the children?“ ( deutsch: „Wintersturm“ ) und „A Stranger is Watching“ ( deutsch: „Die Gnadenfrist“ ) Ende der 70er Jahre ihre Karriere als Autorin psychologischer Thriller, deren Kombination aus Spannung, Eleganz und Intelligenz unübertrefflich war, begann.
Mit Preisen überhäuft wurde die Amerikanerin, Inhaberin zahlreicher Ehrendoktortitel und Namensgeberin des Mary Higgins Clark – Award. Und all diese Ehrungen waren hochverdient, denn die „Queen of Suspense verstand ihr Handwerk einfach wie keine zweite. Ihre subtilen Thriller mit den fein ausgearbeiteten Charakteren, der jeweils kontinuierlich die Spannung bis zur oft überraschenden Auflösung steigernden Handlung waren immer dazu angetan, genau die Art von Gänsehaut zu erzeugen, die bei Romanen dieses Genres einfach dazugehört und die am Schluss keine Fragen offen ließen.
Und so war ich gespannt auf das neueste Werk der 1927 geborenen Autorin, das vor wenigen Wochen in der Originalsprache erstveröffentlicht wurde! Gewiss, ihre Kriminalromane haben seit einigen Jahren nicht mehr ganz die Qualität von einst, wirken über weite Strecken ein wenig mühsam konstruiert, doch waren sie immer noch typische Mary Higgins Clark – Geschichten, die Handschrift der Autorin war nie zu verleugnen.
Ganz anders „Kiss the Girls and Make them Cry“(inzwischen auf Deutsch unter dem Titel „So schweig denn still“ erschienen), mit dem die Autorin wacker auf die „Me Too“ - Welle aufspringt! Nun, immer schon hat Higgins Clark, eine eifrige und akribische Zeitungsleserin, immer auf der Höhe der Zeit, ihre Handlungen auf Geschehnissen aller Art, die sie den aktuellen Nachrichten entnommen hat, aufgebaut – und daraus etwas ganz Eigenes gemacht! Ein weiteres Kennzeichen ihrer Art zu schreiben ist der rote Faden, der sich durch die gesamte Handlung hindurchzog und sämtliche Stränge stets aufs Gekonnteste miteinander verband. Die Themen selber, in die sie sich vertiefte, die sie minutiös recherchierte, bevor sie ihre Geschichten darum aufbaute, waren mal mehr, mal weniger interessant – doch stets hervorragend in Krimis umgesetzt.
Nicht so in ihrem neuesten, ungewohnt umfangreichen Psychothriller, den ich am liebsten nach spätestens der Hälfte der Lektüre zugeklappt hätte! Er ist weder spannend noch interessant, die Eleganz, die das Werk der Schriftstellerin immer ausgezeichnet hat, fehlt ihm gänzlich. Er verliert sich in unnötigen, komplizierten und verwinkelten Einzelheiten, die hier geradezu zelebriert werden und nichts zu der Handlung selbst beitragen – außer Verwirrung zu stiften und dazu zu verleiten, die Konzentration abschweifen zu lassen.
Was noch schwerer wiegt, ist die auffällige Flachheit der Charaktere, die Mary Higgins Clark diesmal auftreten lässt! Gewiss, auch in vorliegendem Krimi ist die Protagonistin, eine investigative Journalistin, eine der bei ihr typischen starken und unabhängigen Frauen der gehobenen Mittelschicht, vorzugsweise aus den New England – Staaten stammend. Aber diese junge Dame, Gina Kane mit Namen, ist, ganz ungewohnt bei der New Yorker Schriftstellerin mit irischen Wurzeln, niemand, mit dem man sich wirklich anfreunden kann und den man tatsächlich kennenlernt.
Und genau das ist das zweite Hauptmanko des hier zu besprechenden Romans: keine der handelnden Personen lernt man eigentlich kennen, keine kann man richtig einschätzen, alle bleiben seltsam oberflächlich und gesichtslos, dabei gleichzeitig so herzlich unsympathisch, so verdorben, egoistisch und, ja, richtig böse, fähig zu den übelsten Machenschaften, dass man sich mit Schaudern abwenden möchte.
Konnte man die Bösewichte in den früheren Romanen noch als schillernde Figuren bezeichnen, deren Beweggründe für ihre Taten sehr variabel und vielfältig waren, die sogar aus, freilich falsch verstandenen, idealistischen Motiven heraus mordeten oder schlicht völlig verrückt waren hinter ihren glatten, verbindlichen, oft sympathischen Fassaden, so sind die zahlreichen Übeltäter in diesem Roman schlicht und einfach beklagenswert gesichts- und facettenlose, dazu noch komplett gewissenlose Langeweiler, deren Motive Gier und Geld sind, nicht einmal Macht, sondern allein der Profit. Und dass verhindert werden muss, dass die sexuellen Belästigungen junger Mitarbeiterinnen von Seiten des in dieser Hinsicht nicht zu zügelnden Star-Nachrichtensprechers der Geschichte, umschwärmt im ganzen Lande, an die Öffentlichkeit gelangen, hat allein mit Geld, Geld, Geld zu tun, nur sehr am Rande damit, dass der Ruf des Nachrichtensenders gewahrt bleibt!
Mag ja sein, dass die nimmermüde Autorin damit – erneut, denn das kennt man von ihr! - dem Zeitgeist Rechnung tragen und die Oberflächlichkeit, das Verschwinden von Tiefe, von Idealen, von Moral anprangern wollte, doch weicht die Art, wie sie das tut, so stark von ihrem gewohnten Stil ab, dass man sich allen Ernstes fragen könnte, wer ihr da beratend zur Seite gestanden haben mag, gar wem sie das Schreiben ihres neuesten Werkes überlassen hat.
Eine Antwort darauf zu finden ist ein müßiges Unterfangen, und es scheint mir vernünftig zu sein, „Kiss the Girls and Make them Cry“ möglichst rasch zu vergessen und die unvermindert geschätzte Autorin als die glanzvolle Kriminalschriftstellerin im Gedächtnis zu bewahren, die sie vier Jahrzehnte lang unbestreitbar war – eine Ausnahmeerscheinung auf dem amerikanischen Krimi- und Thrillermarkt, der längst unüberschaubar und immer niveau- und substanzloser geworden ist!