Wenn Zeit und Zeitgeist getrennte Wege gehen...
Ein Mann findet nach dem Tod seines Vaters in dessen Nachlass Memoiren und Aufzeichnungen über die Kindheit seines alten Herrn in Ostfriesland. Was als harmonische Heimatgeschichte beginnt, entpuppt sich ...
Ein Mann findet nach dem Tod seines Vaters in dessen Nachlass Memoiren und Aufzeichnungen über die Kindheit seines alten Herrn in Ostfriesland. Was als harmonische Heimatgeschichte beginnt, entpuppt sich rasch als Zeitzeugnis über das Alltagsleben im Dritten Reich und über die Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg. Der eigene Großvater als Mitarbeiter in einem KZ? Der Vater auf der Reichsführerschule?
So erging es dem Autor Detlef Plaisier, der die Schriften seines Vaters in einem verstaubten Karton fand. Artur Plaisier hatte nie etwas davon erwähnt oder von seiner Vergangenheit gesprochen. Zusammen mit anderen Nachlässen wie dem Kriegstagebuch seines Onkels fügte Detlef die Mosaiksteine zusammen und entwarf dieses Buch, "Bubies Kinnertied". Das Manuskript ist faktisch in drei Abschnitte unterteilt. Der erste Teil schildert Arturs frühe Kindheit und ist einem Heimatbuch aus der Sicht eines Kindes recht ähnlich. Der zweite Teil konzentriert sich auf die NS-Zeit und ist sehr spannend, da authentisch aufgebaut. Der dritte Teil besteht quasi aus den Anhängen, wie beispielsweise dem oben erwähnten Kriegstagebuch. Zahlreiche Fotos runden die Erzählung ab, obgleich bei den düsteren Beschreibungen zum Ende hin ein bitterer Beigeschmack sich nicht bestreiten läßt. Dies ist jedoch keine Kritik, denn die Aufzeichnungen verstehen es einen Einblick in das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte zu gewähren.
Der plattdeutsche Titel deutet schon an, dass man hier auch sehr stark mit den lokalen Bräuchen der Ostfriesen und Emsländer konfrontiert wird - jedoch sei Entwarnung gegeben: Die Geschichten im ersten Teil sind allesamt amüsant und interessant erzählt. Einige Leser mögen sich freilich mit der Detailvielfalt erschlagen fühlen, aber hier muss man dem Originaltext von Artur Tribut zollen. Eine zu große Kürzung wäre aus meiner Sicht einer Verfälschung gleichgekommen. Ich konnte mich dagegen sehr gut in den Text einfinden, obwohl ich weder Ohr noch Zunge für Dialekte habe. Alle Mundarten neben dem Hochdeutschen sind für mich wie Fremdsprachen, selbst der Titel des Buches zauberte mir zuerst ein großes Fragezeichen vor die Linse. Schnell ertappte ich mich jedoch dabei, dass ich äußerst geschwind und ohne jegliche Verständigungsprobleme durch den Text gleiten konnte. Plattdeutsche Einschübe werden immer wieder erläutert und auch über die Linguistik hinaus, hat der Autor viel Zeit investiert, um neben dem Text seines Vaters zahlreiche Infos zum Stoff nachzuliefern. Diese finden sich häufig in den ausführlichen Fußnoten, die Arturs Aufzeichnungen reflektieren und viel Wissenswertes eröffnen. Doch alleine durch die familiäre Bindung merkt man, wie viel Herzblut in die Lektüre geflossen ist.
Der einzige Wermutstropfen war das abrupte Ende, welches allerdings eine historische Berechtigung besitzt, denn an jener Stelle endeten auch in Wirklichkeit Arturs Aufzeichnungen, wie im Nachgang erwähnt wird. Dabei deutet er in seinen letzten Sätzen noch eine große Katastrophe an, die ihn und seine Familie in den letzten Kriegstagen heimgesucht hat. Was konkret geschehen sein mag und wie es in der schweren Zeit danach weiterging, wird immer sein Geheimnis bleiben - ebenso, warum er ausgerechnet jene Kapitel seines Lebensabschnittes für sich selbst nicht mehr zu Papier bringen wollte.
Auf der Leipziger Buchmesse 2017 hatte ich die Freude, Detlef Plaisier auf einer Lesung zu treffen und ein paar Fragen zu stellen. So fand ich heraus, dass er zuvor selbst in Leipzig wohnte, davor in Köln und Hannover. Nun lebt er erstmals in Ostfriesland, dem Land seiner Vorväter und scheint seinen Frieden mit Artur gemacht zu haben. Ob ihn die Aufarbeitung für dieses Buch dazu gebracht hat in die norddeutsche Tiefebene zu ziehen? Ein Blick in die Lektüre gibt womöglich Aufschluss darüber.