Es handelt sich hierbei um einen ersten Band. Die Fortsetzung gibt es auf Englisch bereits. Ich hoffe, sie wird bald übersetzt, denn ich bin sehr gespannt, wie die Geschichte weitergeht.
Am Anfang hatte ich ein paar Schwierigkeiten, mir das Setting richtig vorzustellen. Nor und ihre Schwester Zadie leben in dem Dorf Varenia, das sich auf dem Wasser befindet – aber nicht etwa auf einer Insel aus Gestein. Die Häuser stehen im Wasser, teils auf alten Schiffswracks, dementsprechend werden alle Wege in Booten oder schwimmend zurückgelegt. Und natürlich bestimmt das Meer auch sonst das Leben der Bewohner.
Nach und nach entwickelt sich ein immer komplexerer Weltenentwurf. Auf dem Festland befinden sich verschiedene Reiche, die teilweise miteinander im Streit liegen. Alte Legenden bestimmen das Leben und Handeln der Menschen und sorgen für anhaltende Konflikte und Ängste.
Das Gesellschaftsbild, mit dem Nor und Zadie aufwachsen, ist hingegen sehr engstirnig. Einmal pro Generation muss Nors Volk ein Mädchen aufs Land schicken, das den Prinzen Ilaras heiraten soll. Aber nicht irgendein Mädchen – das schönste soll es sein. Und natürlich richtet sich diese Schönheit rein nach Äußerlichkeiten, auf die die Zwillinge schon von Geburt an getrimmt werden: bloß nicht zu viel Sonne abbekommen, keine körperliche Arbeit, die Spuren hinterlassen könnte… Gleichzeitig sind die Bewohner so arm, dass die meisten Familien dennoch auf die Mitarbeit der Mädchen angewiesen sind.
Dass Nor sich als Kind verletzt und eine Narbe zurückbehält, macht sie in den Augen ihrer Mutter minderwertig, was diese sie ununterbrochen spüren lässt.
Zwar hat Nor kein Interesse an einem Prinzen, doch sie sehnt sich danach, die Welt zu sehen, die sich außerhalb ihrer engen Grenzen befindet. Sie nimmt ihr Äußeres längst nicht so wichtig wie ihre Schwester, völlig von dem Gedankengut, dass ihr das ganze Leben lang eingetrichtert wurde, kann sie sich dennoch nicht trennen.
Nor ist eine sympathische und mutige Protagonistin mit einem großen Wissensdrang. In ihrer Heimat fühlt sie sich eingesperrt, doch Ilara bietet ihr auch nicht, das, was sie sich erhofft hatte. Die 17-jährige agiert, nicht zuletzt aufgrund ihrer grundsätzlichen Unwissenheit, teilweise sehr naiv. Und natürlich ist sie auch mit den Umgangsformen im Schloss nur bedingt vertraut, sodass sie einige Fettnäpfchen mitnimmt.
Die Geschichte entwickelt sich langsam, konnte mich aber schnell fesseln. Nachdem Zor ihre Heimat verlässt, begegnet ihr viel Unbekanntes. Zudem hat Not eine Mission, die allerdings völlig unmöglich scheint. Denn der Prinz, der König und das ganze Königreich sind völlig anders, als Not erwartet hat. Sie braucht Verbündete, weiß aber nicht, wem sie vertrauen kann. Sie muss Risiken eingeben, spielt dabei aber mit ihren Leben. Je weiter die Handlung voranschreitet, desto spannender wird das Geschehen, weil sich mehr und mehr die Absichten der einzelnen Figuren offenbaren.
Ganz nebenbei entwickelt sich auch noch eine sehr süße, zaghafte Liebesgeschichte.
Am Ende sind zwar einige Rätsel gelöst, viele andere Fragen bleiben aber noch offen.
Fazit
Ein verstaubtes Gesellschaftsbild und eine mutige Protagonistin, die aus ihrem engen Käfig ausbrechen möchte und dabei direkt in den nächsten stolpert. Nors Geschichte ist spannend und abwechslungsreich. Immer wieder kommt es zu neuen Wendungen, wenn Figuren ihre wahren Absichten darlegen.