Ein Highlight! Beeindruckendes Psychogramm und aufwühlendes Thema…
Der Roman „Siegerin“ von Yishai Sarid spielt in Israel.
Die Ich-Erzählerin Abigail ist Mitte 40 und Oberstleutnant der Reserve.
Sie war lange Zeit als Militärpsychologin tätig, beriet Kommandeure und ...
Der Roman „Siegerin“ von Yishai Sarid spielt in Israel.
Die Ich-Erzählerin Abigail ist Mitte 40 und Oberstleutnant der Reserve.
Sie war lange Zeit als Militärpsychologin tätig, beriet Kommandeure und hatte ein offenes Ohr für Soldaten.
Nach diversen Fortbildungen war sie letztlich dafür zuständig, „die Soldaten in bessere Kämpfer zu verwandeln.“ (S. 35)
Eisern und knallhart entwickelte sie sadistische Auswahlspiele für Rekruten und unmenschliche Trainingseinheiten für Soldaten, die später im Nahkampf töten sollten.
Obwohl sie inzwischen im zivilen Leben mit Erfolg Kriegstraumatisierte in ihrer eigenen Praxis therapiert, steht sie dem Militär noch zur Verfügung.
Sie berät die israelische Armee nach wie vor als Traumatherapeutin, hält zwischendurch Vorträge für Offiziere und leistet ab und zu Reservedienst für Sonderaufgaben.
Eines Tages besucht sie den Generalstabschef Rosolio.
Er hat sie in sein Büro eingeladen und schnell ist klar, warum:
Er braucht Abigail dringend als Expertin für die Psychologie des Tötens.
Sie soll die Soldaten - wieder einmal - für anstehende Bodengefechte abhärten und nahkampftauglich machen.
Sie soll sie im Handwerk und in der Technik des Tötens fit machen.
Rosolio war vor 25 Jahren Bataillonsführer und Abigails Vorgesetzter in der Fallschirmjägerbrigade.
Sie verführte den Familienvater eines Tages und wurde schwanger. Das war ihr Plan.
Der gemeinsame Sohn Schauli kennt seinen Vater nicht.
Er soll ihn nicht kennen.
Das ist die Abmachung.
Schauli weiß, wie gesagt, nichts über seinen Vater Rosolio und ahnt nicht, dass dieser bald sein Vorgesetzter sein wird, denn Schauli hat sich freiwillig zu den Fallschirmjähern gemeldet.
Die Grundausbildung in der Kampfeinheit wird in wenigen Tagen beginnen.
Nachdem Abigail ihren Sohn in den Militärdienst verabschiedet hat, gesteht sie ihrem Freund Mendi, einem kriegstraumatisierten Bildhauer, der einst ihr Patient war, dass sie Schauli vermisst und sich um ihn sorgt.
Dieses Eingeständnis zu lesen war wohltuend, denn endlich zeigten sich menschliche und warme Züge an dieser Frau, die bisher so kühl, abgeklärt und ich-bezogen gewirkt und ihrem Sohn bereits mit 3 Jahren beigebracht hat, „dem aggressiven Jungen nächstes Mal die Fresse zu polieren.“ (S. 27)
Aber dieses Aufkeimen von Weichheit wird schnell wieder gedimmt, denn gleichzeitig ist sie mächtig stolz, dass er zum Militär geht und ein mutiger und harter Mann wird. (S. 15f.)
Wir erfahren im Verlauf, dass Abigails Mutter bereits verstorben ist und dass ihr 84-jähriger Vater, der an Leukämie leidet, immer noch als Psychoanalytiker tätig ist.
Er ist ein klassisch ausgebildeter und denkender Freudianer, der mit der Haltung seiner Tochter hadert und ihre Arbeit beim Militär ablehnt. Er war entsetzt, als er davon hörte, dass sie Schauli ihre Zustimmung gab, seinen 3-Jahres-Dienst in der Armee freiwillig bei in einer Kampfeinheit abzuleisten.
Abigails Vater ist klug, scharfsichtig, wortgewandt und menschenfreundlich.
Er kann und will nicht verstehen, dass seine Tochter ihr psychologisches Wissen und Talent beim Militär verschwendet.
Letztlich wirft er ihr vor, die Psychologie zu missbrauchen. Anstatt mit Hilfe ihrer Methoden die Seelen der einzelnen Menschen zu heilen, wolle sie damit abgeklärte und effiziente Tötungsmaschinen kreieren.
Mit Voranschreiten der Geschichte lernen wir Noga kennen, die ebenfalls eine ehemalige Patientin von Abigail und als Pilotin in der Kampfhubschrauberstaffel tätig ist. Die beiden Frauen haben inzwischen eine vertrauensvolle Beziehung.
Es fällt auf und ist unprofessionell, dass Abigails Freunde, Vertraute, Sexualpartner allesamt aus dem Militär und/oder ehemalige Patienten von dort sind. Nur dort scheint sie die Menschen zu finden, die sie anziehen.
Immer wieder werden die Geschehnisse in der Gegenwart durch Rückblenden unterbrochen, so dass wir einen wunderbaren Einblick in das private und berufliche Leben, Denken und Fühlen der Protagonistin bekommen.
Anekdoten aus dem Alltag beim Militär ließen mich ungläubig staunen oder erschüttert den Atem anhalten.
Fallgeschichten ihrer traumatisierten Patienten waren in ihrer Unverblümtheit und Detailliertheit aufwühlend und ließen mich beklommen den Kopf schütteln.
Das Bild von Abigail wurde dabei von Seite zu Seite klarer.
Sie ist eine unsympathische Frau, die etwas Einschüchterndes und Erschreckendes hat, mich schaudern ließ und abstieß.
Sie ist hochintelligent und hat ein präzises psychologisches Gespür, das sie leider zum Erreichen des falschen Ziels einsetzt.
Nicht um Heilung, sondern um Kämpfen, Töten und Siegen geht es ihr.
Sie ist nüchtern, verachtet Schwäche und Mittelmäßigkeit und ist es gewohnt, ihren Willen durchzusetzen und ihre Ziele zu erreichen.
Abigail ist eine radikale, kompromiss- gnaden- und skrupellose, selbstdizplinierte und harte Frau mit unbändigem Siegeswillen.
Sie ist regelrecht besessen davon, stark und mächtig zu sein, arbeitet effizient, ist pragmatisch und will maximale Kontrolle.
Als Militärpsychologin brauchte sie den Kick der Gefahr und ging im Streben nach Stärke, Macht und Sieg sogar so weit, den ausgezeichnet starken und mächtigen Familienvater Rosolio zu verführen, um seine Gene zu erhalten und ein Kind mit genau diesen Eigenschaften zu bekommen. Zu erschaffen.
Spätestens nach 60 Seiten Lektüre sind ihre narzisstische Struktur und ihre damit verbundenen Größenphantasien sowie sadistische und perverse Züge zu erkennen!
Man spürt, wie gefesselt und fasziniert sie von Gewalt, töten, kämpfen und siegen ist.
Abigail reflektiert zwar, ist letztlich aber nicht wirklich selbstkritisch. Sie zweifelt nicht, ist selbstsicher und stellt sich nicht in Frage.
Einzig in der Frage „eigene Familie“ scheint sie ansatzweise Bedauern zu empfinden.
Zivilisten haben im Gegensatz zu Soldaten nur kleine Probleme (S. 10).
Sämtliche Skrupel des Generalstabschefs wischt sie weg (S. 10)
Bravourös konstruiert finde ich, dass durch die Figur ihres Vaters eine dezidiert kritische Sichtweise Einzug hält. Das ist m. E. ein gelungener Kunstgriff.
Abigail hatte ihn schon als Mädchen zum Vorbild, wollte ihn erreichen und übertreffen, rivalisierte mit ihm und empfindet ihn nach wie vor als Respekt einflößend und mächtig.
Sie hat es nie wirklich geschafft, ihn innerlich zu entmachten und emotional unabhängig von ihm zu werden. Sie fühlte sich immer kleiner und schwächer.
Deshalb will sie jetzt Macht und Stärke auf einer anderen Ebene beweisen.
Sie will nun andere Mächte besiegen, die stellvertretend für ihren Vater stehen. „Nie und nimmer wirst du den Mut dazu aufbringen, gestand ich mir ein.“ (S. 24)
Äußerlich macht sie sich vor, über ihm zu stehen, indem sie ihn belächelt und abwertet.
„Er SPIELTE für die Patienten den Fels in der Brandung.“...
Ich denke, er WAR es! (S. 24)
Abigail hat einen ausgeprägten inneren Konflikt mit ihrem Vater, den sie gleichzeitig „so liebte und so sehr fürchtete“ (S. 83) aber anstatt diesen inneren Konflikt mit Hilfe einer tiefgründigen Therapie zu lösen und ihren „inneren Vater zu töten“, flüchtet sie in die Welt des Militärs und arbeitet sich am konkreten Ziel zu kämpfen und zu töten ab.
Vielleicht nur zwei Zitate, um einen Teil von Abigails Wesens zu veranschaulichen:
„Ich erforsche die Psyche von Kämpfern schon über 20 Jahren. Ich weiß, was zu tun ist, um Soldaten tödlicher, disziplinierter und auch resistenter gegen Traumata zu machen.“ (S. 66)
„„Los, ich will in euren Augen Mordlust flackern sehen.“ Zuerst grinsten sie verlegen, aber im nächsten Moment begannen sie doch den mörderischen Messertanz, den ich verlangt hatte, ihre Gesichter verzerrten sich vor Hass, die Gebärden wurden scharf und tödlich. Das war schon wesentlich besser als vorher. „Ausgezeichnet“, lobte ich und klatsche in die Hände, „so muss man losstürmen, nicht wie Roboter, denen man Beruhigungsmittel verabreicht hat.“ (S. 124)
Natürlich sickerten Ihre Haltung und ihre Werte in ihren Sohn Schauli.
Kein Wunder, dass er sich freiwillig zu den Fallschirmjägern meldete.
Er will seiner Mutter, die sich von Schwäche angewidert abwendet, gefallen und ihr imponieren.
Yishai Sarid seziert und beschreibt den Charakter dieser im Grunde unempathischen Frau aufs Feinste. Er erfasst sie in ihrer ganzen Komplexität und Vielschichtigkeit.
„Siegerin“ ist das tiefgründige und gelungene Psychogramm einer persönlichkeitsakzentuierten Frau.
Es ist ein schonungsloses und aufwühlendes Buch mit einer hochinteressanten Thematik und befremdlichen, irritierenden und verstörenden Passagen.
Diese tragische, aber niemals melodramatische Geschichte, wird unsentimental, ruhig und glaubwürdig erzählt.
Sie hat eine archaische Wucht: Töten oder getötet werden!
Das Begriffspaar Tod oder Leben wird auch aufgegriffen, indem immer wieder Erotik und Sexualität neben Krieg und Vernichtung eine Rolle spielen.
„Siegerin“ geht nahe, wühlt auf und hallt nach. Und das alles, ohne dass der Autor jemals wertet oder urteilt. Der Leser kann sich sein eigenes Bild machen und Schlüsse ziehen, die in die eine oder andere Richtung gehen können.
Ich werde Abigail, ihren betagten Vater und ihren Sohn Schauli sicher nicht so schnell vergessen.
Für mich als Psychoanalytikerin war dieses Werk ein Highlight.
An dieser Stelle möchte ich noch kurz auf den Autor eingehen, weil er mich derart beeindruckt hat.
Der israelische Autor Yishai Sarid, wurde 1965 in Tel Aviv geboren. Er war sechs Jahre lang Soldat, dem Geheimdienst zugeteilt und als Nachrichtenoffizier in der israelischen Armee tätig, bevor er Jura studierte, als Staatsanwalt und später als Rechtsanwalt arbeitete.
Wie ich leider erst nach der Lektüre herausgefunden habe, knüpft sein neuer Roman "Siegerin" wohl unmittelbar an den erfolgreichen Vorgängerroman "Monster" an.
Tja, ich werde sicher nicht umhinkommen, auch dieses Werk zu lesen