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Veröffentlicht am 30.06.2021

Ein klassischer Noll: unterhaltsam, bitterböse und sehr lesenswert

Kein Feuer kann brennen so heiß
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„Kein Feuer, keine Kohle, kann brennen so heiß, als heimliche Liebe, von der niemand nichts weiß.“

Lorina ist nicht gerade eine leichtfüßige Schönheit, von ihrer Familie wird sie wegen ihrer Tollpatschigkeit ...

„Kein Feuer, keine Kohle, kann brennen so heiß, als heimliche Liebe, von der niemand nichts weiß.“

Lorina ist nicht gerade eine leichtfüßige Schönheit, von ihrer Familie wird sie wegen ihrer Tollpatschigkeit auch „Plumplori“ genannt. Die Männer stehen daher nicht gerade Schlange bei der Altenpflegerin. Doch als sie die Stelle der Privatpflegerin in der Villa Alsfelder annimmt, sammelt sie im Geheimen ganz unerwartet neue Erfahrungen in Sachen Liebe. Und auch sonst kommt es in der Villa zu einigen überraschenden, nicht immer ganz legalen Zwischenfällen…

Ingrid Noll erzählt klar und sehr direkt aus Lorinas Sicht in Ich-Form und lässt dabei stets ihren typischen Humor durchblitzen. Bitterböse Sätze wie „Schon früh musste ich mir die Rolle einer Prinzessin abschminken. Man wäre sowieso nie auf die Idee gekommen, mich in rosa Tüllröckchen zu stecken, denn man hätte mich am Ende für einen kleinen Transvestiten halten können.“ machen Ingrid Nolls individuellen, unterhaltsamen Schreibstil aus.

Lorina ist eine klassische „Noll-Heldin“. Unauffällig, nicht besonders attraktiv und anfangs ohne Selbstbewusstsein. So erklärt sie zu Beginn „Am liebsten wollte ich etwas mit Menschen zu tun haben, denen mein Aussehen egal war, zum Beispiel Blinde, Kleinkinder oder demente Greise.“ Im Laufe der Handlung macht Lorina eine erstaunliche Entwicklung durch. Nicht zuletzt Männer wie Boris, der mehr als rücksichtslos, egoistisch und unsensibel agiert, bewirken Lorinas Veränderung. Lorina hat gewaltiges Potential, in ihr steckt viel mehr, als sie selbst und die Leser ahnen. Wieder einmal gelingt es der Erfolgsautorin auf beeindruckende Weise, die Leser für ihre Figuren einzunehmen, das ist Nolls große Stärke. Obwohl Lorina mitunter vom „Pfad der Tugend“ abweicht und unzweifelhaft falsch handelt, hoffte ich sehr, dass sie damit „durchkommen“ wird und „verschont“ bleibt.

Ingrid Nolls neuester Roman macht wieder einmal deutlich: Kriminelle Energien lauern überall, im banalen Alltag, in den Vorstellungen der Menschen, in ihren Reaktionen und Handlungen. Sie entfalten sich oft ganz spontan und ohne Plan. Vor allem der Durst nach Rache lässt Nolls Figuren wiederholt Grenzen überschreiten.
Niemand schreibt wie Ingrid Noll, ihre Romane gehören für mich zu einem ganz eigenen Genre, das sie auch hier wieder bedient: literarische Krimikomödien, bitterböse, mit unerwarteten Wendungen und ganz besonderen Protagonisten, die mitreißen. Auch mit weit über 80 Jahren hat Noll den klaren Blick aufs Leben, den Sinn für menschliche Abgründe, den Bezug zur Aktualität und zum Zeitgeist nicht verloren. „Kein Feuer kann brennen so heiß“ ist für mich nicht ihr bester, aber ein sehr guter, lesenswerter Roman. Ingrid Noll kann es definitiv immer noch und ich hoffe, sie macht noch lange mit dem Schreiben weiter.

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Veröffentlicht am 29.06.2021

Gelungene Fortsetzung, die den Zeitgeist 60er Jahre wunderbar einfängt

Die Wunderfrauen
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„Was Helga alles leistete, dachte Luise. So eine Wunderfrau.“

Die Wunderfrauen sind zurück: Anfang der 1960er Jahre ist Luise Dahlmanns Lebensmittelladen mittlerweile aus Starnberg nicht mehr wegzudenken. ...

„Was Helga alles leistete, dachte Luise. So eine Wunderfrau.“

Die Wunderfrauen sind zurück: Anfang der 1960er Jahre ist Luise Dahlmanns Lebensmittelladen mittlerweile aus Starnberg nicht mehr wegzudenken. Luise bietet ihren Kunden stets besonderen Service, hat zuverlässig raffinierte und praktische Rezepttipps parat. Doch sie muss immer am Ball bleiben, um den Anforderungen ihrer Kundschaft gerecht zu werden, denn die Konkurrenz schläft nicht. Nach einem schlimmen Streit hat Luise mit ihrer ehemaligen Freundin Helga kein Wort mehr gesprochen. Doch plötzlich ist Helga wieder da. Arztgattin Annabel erleidet einen Schicksalsschlag, der die Beziehung zu ihrem Mann Konstantin auf eine harte Probe stellt. Und Luises Schwägerin Marie ist mittlerweile mehrfache Mutter, was die Arbeit auf dem Hof nicht leichter und die Beziehung zu ihrem Mann Martin nicht unkomplizierter macht.

Stefanie Schuster versetzt sich abwechselnd in ihre vier Protagonistinnen hinein und schreibt flüssig, klar und schnörkellos aus deren Sicht. Zwischen den Kapiteln sind Auszüge aus „Luises Ladenkunden-Album“ abgedruckt, ein bunt gemischtes Sammelsurium aus Listen, praktischen Tipps oder Anekdoten. Diese wirken sehr authentisch und sind amüsant zu lesen.

Die „Wunderfrauen“ sind vier grundverschiedene Frauen, die mitten im Leben stehen. Luise lebt für ihren Laden, packt zu, weiß immer Rat. Ihr neues Hobby „Tanzen“ bringt sie nun ganz schön in die Bredouille. Als Helga wieder auftaucht, kommen bei Luise schlimme Erinnerungen an die Vergangenheit wieder hoch. Helga hat es endlich geschafft: Sie ist nun Ärztin. Die Patienten sind ihr sehr wichtig, für sie riskiert sie einiges. Marie ist mit Luises Bruder Martin verheiratet. Sie trägt große Verantwortung für eine große Familie, muss immer funktionieren. Dabei geht sie selbst ein wenig verloren und dann sucht ihr Mann Martin auch immer häufiger Ablenkung im Alkohol. Arztgattin Annabel ist am Ziel ihrer Wünsche, sie wird zum zweiten Mal Mutter, doch es kommt nicht so, wie sie sich das vorgestellt hat. Ihr Mann Konstantin geht auf Distanz und Annabel möchte endlich wieder arbeiten, statt sich nur um die Kinder zu kümmern.
Dass die Charaktere so vielfältig sind, macht ihren Reiz aus. Man erfährt anhand der Figuren, wie Frauen aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten damals lebten. Männer kommen dabei nur mäßig gut weg. Richtige Sympathieträger sind die männlichen Figuren oft nicht, aber es stehen ja auch „Die Wunderfrauen“ im Fokus.

Während die Frauen ihre ganz persönlichen Schicksalsschläge erleiden, erfasst die Autoren auch auf ganz unkomplizierte, unaufgeregte Art den damals herrschenden Zeitgeist. Wichtige Ereignisse wie die Debatte um Abtreibungen, der Contergan-Skandal oder die Entwicklung zur Massentierhaltung werden angesprochen. Heraus kommt dabei ein leichter, unterhaltsamer Roman, der wie ein buntes Farbfoto das Besondere der 60er Jahre einfängt. Ein Stück interessante Zeitgeschichte, kurzweilig verpackt. Nach dem spannenden Cliffhanger von „Die Wunderfrauen- Von allem nur das Beste“ bin ich schon sehr neugierig, was die 70er Jahre für die vier Hauptfiguren bringen werden.

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Veröffentlicht am 28.06.2021

Eine verwunschene Insel und eine spannende Reise in die Vergangenheit

Die Roseninsel
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„Das ist… wunderbar“, sagt sie. „Es ist doch eine merkwürdige Vorstellung - ein Mensch, der vor so langer Zeit das Muster einritzte und hier bin ich und sehe und fühle es genauso.“ Sie sah auf. „Das ist, ...

„Das ist… wunderbar“, sagt sie. „Es ist doch eine merkwürdige Vorstellung - ein Mensch, der vor so langer Zeit das Muster einritzte und hier bin ich und sehe und fühle es genauso.“ Sie sah auf. „Das ist, als würde es uns verbinden.“

Liv Dahl arbeitet als Ärztin an der Berliner Charité. Die Arbeit ist anstrengend und psychisch belastend. Nach einem dramatischen Ereignis braucht Liv eine Pause und übernimmt vertretungsweise die Stelle als Verwalterin auf der Roseninsel im Starnberger See. Dort findet sie das Tagebuch der früheren Bewohnerin Magdalena, Tochter des einst als verrückt geltenden Bayrischen Königs Otto. Liv begibt sich auf Spurensuche und taucht in das Leben der geheimnisvollen Königstochter ein. Schmerzhaft muss sie feststellen, dass sie vor ihren eigenen Problemen allerdings nicht davonlaufen kann. Zum Glück gibt es Segellehrer Johannes, der Liv nicht nur mit Lebensmitteln versorgt, sondern sich auch für sie zu interessieren scheint.

Anna Reitners einfacher, flüssiger Sprachstil macht es ihren Lesern leicht, sich sofort in Livs Geschichte hineinzuversetzen. Auch die Passagen, die sich auf Magdalenas Leben beziehen, sind unkompliziert und gut verständlich formuliert.

Zwei Frauen. Zwei Hauptfiguren, die auf der Roseninsel zeitweise von der Außenwelt abgeschottet sind und mehr als genug Zeit haben, sich mit sich und ihren Gedanken zu beschäftigen. Für Liv ist der Aufenthalt auf der Roseninsel eine Flucht aus ihrem Alltag, doch eigentlich ist ihr eines sehr wohl bewusst: „Wem machte sie etwas vor? Man konnte nicht fliehen vor dem, was man war.“ Die sensible, verletzliche Frau kämpft mit Schuldgefühlen und glaubt, versagt zu haben und Glück nicht zu verdienen. Magdalenas Geschichte wird für sie zum Sog in die Vergangenheit : „Oh, oh Liv“ bemerkt sie „langsam lebst Du wirklich mehr in diesem alten Buch als in der Wirklichkeit.“
Magdalena wünscht sich hingegen nichts mehr als von der Insel, auf der sie von ihrer penetranten Aufpasserin Baronin von Zeiss streng überwacht wird und sich wie eine Gefangene fühlt, und aus ihrem eintönigen Leben fliehen zu können. Beide Frauen warten auf ihre „Erlösung“. Vielleicht in Gestalt des verständnisvollen „Richtigen“?

Eine sehr interessante und spannende Spurensuche erlebt Liv. Die Geschichte des real existierenden Königs Otto und seiner fiktiven Tochter Magdalena fesselt nicht nur Liv, sondern auch mich als Leserin. Magdalena selbst fühlt sich ebenso mit der Vergangenheit verbunden, liest archäologische Bücher, beschäftigt sich mit Heinrich Schliemann und möchte wissen, was in der Vergangenheit auf der Insel geschah.
Unbedingt wollte ich zudem erfahren, welches Trauma Liv selbst zu bewältigen hat. Die beiden Handlungsstränge - Gegenwart und Vergangenheit - sind geschickt miteinander verwoben, lesen sich fast wie von selbst und das Ende sorgt durchaus noch für Überraschungen, zumindest Magdalenas. Ein locker-leichter, kurzweiliger Roman über Neuanfänge und ganz besondere Verbindungen zur Vergangenheit, der Lust macht, die verwunschene „Roseninsel“ mit ihrer faszinierenden Geschichte selbst einmal zu besuchen. Ein Buch ideal für eine Auszeit mit unterhaltsamen Lesestunden zu Hause oder noch besser im Liegestuhl mit Blick auf den Starnberger See.

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Veröffentlicht am 28.06.2021

Ein poetisches Buch zum Bestaunen und Nachdenken

Der Baum und der Vogel
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Im Dschungel wächst ein hoher Baum. Während der Trockenzeit suchen viele Tiere darin Schutz, auch ein kleiner Vogel, für den der Baum Heimat ist. Als die Regenzeit kommt, verlassen die Tiere den Baum. ...

Im Dschungel wächst ein hoher Baum. Während der Trockenzeit suchen viele Tiere darin Schutz, auch ein kleiner Vogel, für den der Baum Heimat ist. Als die Regenzeit kommt, verlassen die Tiere den Baum. Der Vogel aber macht sich Sorgen: Wer wird beim Baum bleiben? Er beobachtet, dass sich nachts ganz verschiedene Tiere wie Affen oder Schmetterlinge am Baum aufhalten, die viel von der Welt erzählen können. Allmählich begreift der Vogel, dass es auch für ihn Zeit wird, loszulassen.

Coralie Bickford-Smith schreibt sehr bildhaft, fast poetisch, manchmal klar und direkt, aber mitunter sind die Worte nur im übertragenen Sinne zu verstehen.
Wirklich besonders ist die Gestaltung des Buchs. Äußerlich recht unscheinbar, ein grün-blaues Cover in Leinen gebunden, aber was sich innen verbirgt, ist wirklich beeindruckend: Wunderschöne Bilder, die wie Drucke eines Linolschnitts wirken, auf wenig unterschiedliche Farben pro Seite beschränkt, aber gerade deshalb so intensiv und wirkungsvoll.
Die Geschichte ist auf Anhieb nicht ganz so einfach zu begreifen, selbst für Erwachsene nicht. Kleinere Kinder ab vier, fünf Jahren werden von der Gestaltung des Buchs fasziniert sein und mit Interesse den schön klingenden Sätzen lauschen. Um die Bedeutung des Textes zu erfassen, werden sie aber auf die Erklärung Erwachsener angewiesen sein. „Der Baum und der Vogel“ ist ein „Familienbuch“, die vom Verlag angegebene Altersempfehlung von 3 bis 99 Jahren hat daher durchaus seine Berechtigung.

Ein kleiner Vogel ist die Hauptfigur. Er wirkt wie ein Kind, das nicht viel von der Welt weiß und sich zu Hause geborgen fühlt. Mit dem Vogel können sich Kinder sicher identifizieren. Auch sie haben noch so viel zu lernen und zu entdecken.

„Der Baum und der Vogel“ ist ein poetisches, philosophisches Buch mit einer Botschaft, über die die Leser sicher nachdenken müssen. Der kleine ängstliche Vogel beobachtet genau und erkennt, dass es soviel gibt, das man auf den ersten Blick nicht sieht, wenn man „begrenzt“ und „ängstlich“ denkt. Der Baum ist immer voller Leben, was den Vogel dazu bringt, loszulassen. Es ist fundamental wichtig, Heimat und Wurzeln zu haben. Aber dennoch bietet das Leben soviel mehr. Jeder Leser mag sich seine eigene Botschaft aus der vermeintlich einfachen Geschichte herausziehen, jeder mag den Text ein wenig anders interpretieren. Zweifelsohne werden die besonderen Bilder aber alle Leser gleichermaßen ansprechen. Ein ungewöhnliches Buch zum gemeinsam Lesen, gemeinsam Deuten und Philosophieren und gemeinsam Genießen.

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Veröffentlicht am 18.06.2021

Ein sehr bewegtes und bewegendes Leben

Stay away from Gretchen
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„Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Gegenwart verstehen und die Zukunft gestalten.“

Tom Monderath ist ein bekannter, erfolgreicher Kölner Nachrichtenmoderator. In seinem Privatleben läuft es im ...

„Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Gegenwart verstehen und die Zukunft gestalten.“

Tom Monderath ist ein bekannter, erfolgreicher Kölner Nachrichtenmoderator. In seinem Privatleben läuft es im Gegensatz zum Berufsleben gerade nicht rund. Seine Mutter Greta wirkt zerstreut, kann sich an kürzlich Erlebtes nicht mehr erinnern und verliert immer wieder die Orientierung. Tom muss sich intensiver um sie kümmern. Dabei erfährt er immer mehr Details aus Gretas bewegter Vergangenheit. Ein ganz spezielles Foto und Gretas Reaktion darauf bringen Tom dazu, auf eigene Faust zu recherchieren und er lernt eine ganz andere Seite seiner Mutter kennen.


Autorin Susanne Abel erzählt klar und flüssig. Sie schildert im Präsens aus Toms und Gretas Sicht das aktuelle Geschehen, das im Juli 2015 beginnt. In Rückblenden beschreibt die Autorin immer wieder auch wichtige Momente aus Gretas Vergangenheit während des Zweiten Weltkriegs und der Besatzung.


Mit Greta hat Susanne Abel eine Protagonistin gewählt, die so viel erlebt hat, dass es kaum zu glauben ist. Aufgewachsen in Ostpreußen, muss sie nach dem Krieg ihre Heimat verlassen. Das Leben als Flüchtling setzt ihr und ihrer Familie hart zu: „Ich will kein Flüchtling mehr sein“, entgegnete Greta, die sich geschworen hatte, niemals wieder wie einer behandelt und ausgegrenzt zu werden.“
Als Greta in Heidelberg den GI Bob Cooper kennenlernt, verändert und prägt dieser ihr Leben nachhaltig. So heißt es „Greta dachte, dass Bob sie zum glücklichsten und unglücklichsten Menschen gleichzeitig machte.“
Gretas Schicksal bewegt definitiv, dennoch kam mir die Figur Greta manchmal nicht wirklich nahe, blieb mir in bestimmten Situationen fremd. Am Ende, nachdem ich ihre ganze Geschichte kannte, entwickelte ich einen intensiveren Bezug zu ihr. Greta ist zweifelsohne eine sehr vielschichtige, interessante Figur, die ihre Lebensumstände, ihr Schicksal zu dem gemacht haben, was sie ist. Oft blieb ihr nichts anderes übrig, als alles irgendwie hinzunehmen. In Greta stecken gleichermaßen „Greta“ und die junge Frau „Gretchen“: „Gretchen fühlt sich geborgen. Und sicher. Sie ist glücklich. Und Greta auch.“ Aktuell verliert sich Greta immer mehr: „Ich bin hier, ohne da zu sein“, bringt sie es auf den Punkt.

Ihrem Roman vorangestellt hat Susanne Abel ein Zitat Willy Brandts: „Geschichte, wie bitter sie auch sein mag, ist Realität, die täglich in unserer Gegenwart und die in unserer Zukunft fortwirkt.“
Wie sehr Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einander verursachen und bedingen, wird in „Stay away from Gretchen“ sehr anschaulich und deutlich dargestellt. Tom berichtet als Journalist immer wieder von der Flüchtlingswelle von 2015 und befasst sich privat mit der Flucht seiner Mutter aus Ostpreußen nach dem zweiten Weltkrieg. Zwangsläufig tauchen dabei enge Bezüge und Parallelen auf.
Der Roman macht auf spezielle historische Aspekte wie den „Brown Baby Plan“, der mir bis dato völlig unbekannt war, aufmerksam. Sehr informativ und gleichzeitig erschütternd mehr darüber zu lesen.
Auch das Thema „Demenz“ nimmt eine große Rolle in der Geschichte ein.
„Vielleicht ist Liebe gar nicht im Gehirn, sondern in der Seele gespeichert. Dann kann sie nicht durch Alzheimer zerstört werden.“ Nicht zuletzt ist der Roman eine Liebesgeschichte. Gretas Liebe zu Bob mag „unmöglich“ sein, aber sie ist dafür umso intensiver. Auch die tiefe Zuneigung zwischen Opa Ludwig und der Guste-Oma hat mich sehr beeindruckt.
Im Nachwort erklärt Susanne Abel, dass sie mit ihrem Roman den „Alten“ „Gehör verschaffen“ wollte. Denn auch wenn sich viele ältere Menschen in ihrem Erscheinungsbild gleichen mögen, sind sie doch genauso individuell wie junge Leute. Sie sind gleichzeitig „acht, achtzehn und achtzig“. Das ist naheliegend, wird aber immer wieder gerne vergessen.
„Stay away from Gretchen“ ist ein überaus vielschichtiger, prall gefüllter Roman, der von Leben, Geschichte, Krankheit, Verlust, Politik und vielem mehr erzählt. Gerade in aktuellen Zeiten, in denen Toleranz und Verständnis für andere immer mehr schwindet, eine lohnenswerte, wichtige Lektüre.

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