Zu langsam und zu wenig bunt, aber Addie bleibt trotzdem in Erinnerung
Das unsichtbare Leben der Addie LaRueDisclaimer: Ich würde gern das * zum Gendern nutzen, doch das sorgt für Formatierungsfehler hier in der Lesejury. Deshalb weiche ich ausnahmsweise auf das Binnen-I aus.
Mein erstes Buch von V. E. Schwab. ...
Disclaimer: Ich würde gern das * zum Gendern nutzen, doch das sorgt für Formatierungsfehler hier in der Lesejury. Deshalb weiche ich ausnahmsweise auf das Binnen-I aus.
Mein erstes Buch von V. E. Schwab. Eine direkte Empfehlung vom Verlag via Twitter. Fast 600 Seiten. What could go wrong?
Schon länger steht mit Die vier Farben der Magie ein anderes Buch von V. E. Schwab ungelesen in meinem Regal, weil gefühlt alle BloggerInnen über nichts anderes mehr gesprochen haben. Damals. Wie gesagt, ist schon etwas her. Inzwischen scheint der Name der Autorin fast so etwas wie ein Qualitätssiegel zu sein und als mir Das unsichtbare Leben der Addie LaRue vom Verlag empfohlen wurde, habe ich etwas genauer hingeschaut und schließlich nach einem Rezensionsexemplar gefragt. Denn die Idee gefällt mir ausgesprochen gut: Wie entwickelt sich ein Mensch, der ständig in Vergessenheit gerät? Eine spannende Frage, wie ich fand.
Eine Frau, an die sich niemand erinnert. Eine Geschichte, die man nie wieder vergisst.
Frankreich im Jahr 1714. Die junge Addie LaRue möchte nur eins: Den Beschränkungen der Provinz entkommen und ein selbstbestimmtes Leben führen. In einem Moment der Verzweiflung schließt sich einen Pakt mit dem Teufel, der ihr Freiheit und ewige Jugend verspricht. Doch der Preis ist hoch: Niemand, den sie trifft, wird sich an sie erinnern. Und so beginnt ihre Reise durch die Jahrhunderte, die Addie an die faszinierendsten Orte der europäischen Geschichte, aber auch an die Grenzen der Einsamkeit und Verzweiflung führt. Bis sie im Jahr 2014 in New York einen jungen Mann trifft, der sie nicht mehr vergessen kann … Quelle: Klappentext
Mein erster Eindruck bleibt auch rückblickend nach Beenden des Buches zutreffend: Die Geschichte ist faszinierend, aber sie ist mir nicht schnell und bunt genug. Was genau meine ich damit? Das erkläre ich euch.
Aufbau
Das Buch besteht aus sieben großen Teilen, deren Kapitel abwechselnd in der Gegenwart und in Addies Vergangenheit spielen. Meist sehen wir die Handlung aus Addies Perspektive, aber an einem gewissen Punkt taucht Henry auf. Er ist der Mann aus dem Klappentext, der sich an Addie erinnert. Seine Perspektive nehmen wir LeserInnen auch ab und zu ein. Zeit und Ort der Handlung sowie der Name der perspektivgebenden Figur stehen am Anfang jedes Kapitels.
Ich bin nicht ganz sicher, wie ich die Perspektivwechsel werte. Sie ergeben Sinn. Aber ich hätte lieber die ganze Geschichte aus Addies Sicht gelesen, glaube ich. Es ist nun einmal ihre Geschichte. Es ist ihr titelgebendes unsichtbares Leben.
Als schönes Detail befindet sich am Anfang jedes neuen Teils eine Beschreibung eines Kunstwerkes. Dieses spielt im jeweils folgenden Teil eine bestimmte Rolle und es zeigt sich, dass Addie im Lauf ihres Lebens auf unterschiedliche Weise als Inspiration für diese Kunstwerke gedient hat – Musik, Gemälde, Installationen, Schnitzerei. Ich habe nicht recherchiert, ob die beschriebene Kunst wirklich existiert, aber ich finde die Idee sehr passend für die erzählte Geschichte.
Der Pakt mit dem Teufel
Die Ausgangssituation ist folgende: Addie ist dreiundzwanzig, als sie verheiratet werden soll. Sie lebt im Jahr 1714 in einem kleinen Dorf in Frankreich und fühlt sich mit den Erwartungen, die an Frauen gestellt werden, sehr unwohl: Kinder kriegen, Haus und Hof pflegen, hübsch aussehen und jeden Sonntag in die Kirche gehen? Das ist nichts für Addie. Sie will lieber zeichnen, reisen, die Welt sehen.
Und als sie schon im Hochzeitskleid vor dem Haus steht und mit ihren Eltern in Richtung Kirche aufbrechen soll, ist es Addie schließlich genug: Unter einem Vorwand macht sie sich aus dem Staub und endet im nahegelegenen Wald, wo sie einen folgenschweren Fehler macht: Sie betet zu den alten Göttern – auch zu denen, die nach Einbruch der Nacht antworten.
Und so gerät Addie an einen namenlosen Schatten, der Ähnlichkeiten mit dem Teufel der christlichen Mythologie hat aber nicht dieser ist, wird durch einen Deal in die Lage versetzt, mitzuerleben, wie Geschichte geschrieben wird. Über drei Jahrhunderte. Sie kann die Welt sehen, ihre Freiheit leben, nach der sie sich so sehr gesehnt hat – doch die Sache hat einen Haken: Niemand erinnert sich an sie, sobald zwischen Addie und der anderen Person eine Tür zugefallen ist. Besitz ist dadurch schwer zu bekommen oder zu erhalten, Arbeit ist unmöglich und Geld ein konstantes Problem. Addie lernt mit der Zeit, dass Stehlen manchmal ihre einzige Möglichkeit ist. Und sie lernt auf die harte Tour, dass sie außerdem nicht sterben kann.
Dabei erlebt sie die französische Revolution, den Zweiten Weltkrieg, sie gerät in Gefangenschaft und prostituiert sich in einer Zeit der Verzweiflung. Addie lernt Kunst zu lieben, Malerei, Musik, Geschichten. Ein Satz wiederholt sich häufiger in Das unsichtbare Leben der Addie LaRue: „Ideen sind stärker als Erinnerungen“. Und dieses Detail macht sich Addie zunutze.
Kunst
Addie sucht sich bewusst KünstlerInnen in allen Jahrhunderten ihres Lebens, um sich verewigen zu lassen, da sie durch ihren Pakt selbst keine Spuren hinterlassen kann; wäre das der Fall, könnte sie ja ein Vergessen verhindern. Mal ist sie die Muse einer Malerin, mal schreibt jemand einen Song mit ihr und weil er sich nicht an sie erinnern kann, ist es schließlich sein Song – ohne, dass er wüsste, wie und warum er ihn geschrieben hat.
Mir gefällt, welchen Stellenwert Kunst und Inspiration in diesem Roman bekommen. Klar, die Autorin ist selbst in der Branche tätig, ein kleines bisschen Selbstbeweihräucherung ist also dabei. Aber hier ist nicht nur die Liebe zum Buch oder zur Schriftstellerei eingeschlossen, sondern die Kunst an sich und der Wert von Ideen, von Inspiration, das steht im Vordergrund. Gefühlt ist Addies Geschichte nur ein Rahmen, um die Wichtigkeit von Kreativität und Kunst zu betonen. Deshalb passt die Beschreibung des Verlags, dass dieses Buch „eine Hommage an die Kunst und die Inspiration“ sei, meiner Meinung nach perfekt.
Da wir gerade von Kunst sprechen habe ich noch eine Frage: Was stellt die Glaskugel im Gestell auf dem deutschen Cover dar? Sie gehört nicht zu den Kunstwerken, die Erwähnung finden. Übernommen vom Originalcover ist sie auch nicht. Dort sind passenderweise Vergissmeinnicht zu sehen, die einer Art (Zeit-?) Fluss folgen. Obwohl mir das deutsche Cover mit dem deutlich sichtbaren, beinahe mystischen Fantasy-Aspekt besser gefällt, finde ich das Originalcover passender für die Geschichte.
Spoiler: Beziehungen und Ende
Ich mag die „enemy to (kind of ) friends“-storyline von Addie und Luc, dem anfangs namenlosen Schatten. Den Namen hat Addie ihm gegeben. Dass man sich nicht ausstehen kann, sich gar eine vor dem anderen fürchtet, aber man durch mehrere Jahrhunderte die einzige Person füreinander ist, die sich erinnern kann, zu der man eine Beziehung aufbauen kann und diese Beziehung zwar als Feindschaft anfängt, mit der Zeit aber irgendwie freundschaftlich wird – das finde ich einleuchtend.
Es gefällt mir auch, dass die Beziehung zwischen den beiden nicht starr definiert ist, sondern sich mit der Zeit verändert. Es werden auf beiden Seiten Fehler gemacht und bereut, Entscheidungen getroffen, Erfahrungen gemacht. Und das Machtverhältnis zwischen Addie und Luc verschiebt sich nach und nach in verschiedene Richtungen. Diese Entwicklung zu verfolgen hat mir am letzten Drittel mit am besten gefallen.
Ich mag die Idee, dass Henry das Buch „geschrieben“ hat. Dass dieses Buch, Das unsichtbare Leben der Addie LaRue, im Buch selbst unter demselben Titel existiert. Es ist ein bisschen meta und sowas mag ich sehr, wenn es gut gemacht ist. Aber ich finde, dann hätte auf dem Cover nicht der Name der Autorin V. E. Schwab stehen, sondern, wie es in der Geschichte beschrieben wird, das Buch keinen offensichtlich erkennbaren Autor haben dürfen.
Es ist plotrelevant, dass kein Autor genannt wird, dass die Menschen spekulieren. Wer ist Addie LaRue, hat es sie wirklich gegeben, wer hat das Buch geschrieben, schau mal, da steht wirklich kein/e AutorIn, und so weiter. Klar, das Buch verkauft sich dann wahrscheinlich nicht so gut, wie wenn der Name einer Bestsellerautorin dick auf dem Cover steht. Trotzdem, wenn schon meta, dann richtig. Mir hätte dieses Detail jedenfalls gefallen.
SPOILER ENDE
Slow pace und nicht genug Vielfalt
Sehr schade finde ich den Fakt, dass Das unsichtbare Leben der Addie LaRue so eurozentristisch und westlich-weiß ist. „Schade“ ist eigentlich nicht der richtige Ausdruck: es enttäuscht mich und direkt nach dem Lesen habe ich mich sogar ziemlich geärgert. Addie hat die einzigartige Möglichkeit, die ganze Welt zu sehen. Das ist auch ihre ursprüngliche Motivation, um überhaupt diesen Pakt zu schließen. Und dann ist sie nur in Europa und im Osten der USA unterwegs? Ich hätte zumindest in den Rückblicken kurze Kapitel in Asien, Australien, Südamerika oder Afrika erwartet, vielleicht sogar in Polarregionen.
Es gibt eine Szene, in der Addie im Rahmen einer Ausstellung einen lebendigen Löwen in Frankreich sieht, im 18. oder 19. Jahrhundert, und total fasziniert davon ist. Dass es sie später, als es ihr möglich ist, per Schiff oder Flugzeug zu reisen, nicht in die hintersten Ecken der Welt verschlägt, um diese Faszination für das bisher Unbekannte aufleben zu lassen; das verstehe ich nicht.
Wie schon beschrieben sind Geld und Besitz für Addie nicht leicht zu händeln, sich auf einem Schiff der in einem Flugzeug zu befinden und immer wieder erklären zu müssen, wie man dorthin kam (falls sie kein Ticket gekauft und damit einen Nachweis über ihre Erlaubnis hat, sich dort aufhalten zu dürfen), ist sicherlich nicht leicht. Aber sie ist ja auch irgendwie von Frankreich nach Nordamerika gekommen. Also hätte sie Möglichkeiten gehabt, hat schon anderes geschafft. Durch Bedingungen der Geschichte selbst wurden solche Reisen oder auch Kunstwerke aus dem nicht-westlichen Raum also nicht verhindert.
Vielleicht hat die Autorin sich bewusst dagegen entschieden, über etwas zu schreiben, dass sie selbst nicht erlebt hat oder kennt. (Disclaimer: Das ist reine Spekulation meinerseits.) Kulturelle Aneignung und so weiter. Aber ganz ehrlich, für genau solche Fälle gibt es inzwischen sensitivity reading. Es hätte Möglichkeiten gegeben, um Addies Geschichte bunter und kulturell diverser zu gestalten, da bin ich sicher. So, wie sie jetzt ist, finde ich die Geschichte okay, aber es gibt sehr viel Luft nach oben. Und leider ungenutztes Potenzial, um diese Luft zu füllen.
Noch etwas, das mich beim Lesen sehr gestört hat: Leider kommt die Geschichte einfach nicht in die Gänge. Ich habe mich schwergetan mit beispielsweise Tolkien oder Reihen wie Die Zwerge. Für meinen Geschmack geht es dabei nicht schnell genug voran. Und auch Addies Geschichte hat einen slow pace: es dauert gute 120 Seiten, bis die Handlung überhaupt ein bisschen in Schwung kommt, und durch die vielen Unterbrechungen mit den Rückblicken fiel es mir wirklich schwer, mehrere Kapitel am Stück zu lesen.
Etwa vier Wochen lag das Buch bei mir, bevor ich es komplett gelesen hatte. Dabei beträgt die reine Lesezeit nur zwei, vielleicht drei Tage. Ich habe Das unsichtbare Leben der Addie LaRue einfach zu oft weglegen müssen, um nicht die Lust am Buch zu verlieren, obwohl mich die Entwicklungen der Handlung und das Ende ja interessierten.
Fazit
Hier haben wir einen Fall von „spannende Geschichte, nicht gut genug erzählt„, um es kurzzufassen: Die Idee ist faszinierend, die Umsetzung gefällt mir nicht so gut. Und trotzdem ist Das unsichtbare Leben der Addie LaRue besonders genug, um mir wohl noch einige Zeit in Erinnerung zu bleiben. Ob ich aber so schnell weitere Bücher der Autorin lesen werde, weiß ich nicht. Man hat mir bestätigt, dass ihre Bücher wohl alle etwas langsamer funktionieren, als mir lieb ist.