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Veröffentlicht am 23.08.2021

Tanz auf dem Vulkan in Harlem

Harlem Shuffle
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Colson Whitehead hat bereits für zwei seiner Romane den Pulitzerpreis erhalten (The Underground Railroad 2017, The Nickel Boys 2020), Harlem Shuffle ist mein erster Roman von ihm.

Raymond Carney ist in ...

Colson Whitehead hat bereits für zwei seiner Romane den Pulitzerpreis erhalten (The Underground Railroad 2017, The Nickel Boys 2020), Harlem Shuffle ist mein erster Roman von ihm.

Raymond Carney ist in Harlem zuhause, einem Viertel in Manhattan, nördlich vom Central Park gelegen und Zentrum der afroamerikanischen Kultur. Ray hat einen hübschen Möbelladen und versucht sich und seine kleine Familie über Wasser zu halten - auf ehrliche Art. Allerdings gelingt das nur bedingt, denn nicht nur war sein Vater ein allgemein bekannter Krimineller, sondern auch sein leichtlebiger Cousin Freddie hat es eher mit den Gangstern. So jongliert Ray einerseits mit schicken Couchgarnituren und Nierentischchen und andererseits mit kleinen Dingen unbekannter Herkunft. Sein Tanz auf dem Vulkan wird immer schwieriger, denn die Rassenunruhen der 1960er Jahre gefährden seine Existenz ebenso wie seine Sorge um Freddie.

Wow, was für ein toller Roman. Whitehead läßt Harlem Stück für Stück, Straße für Straße lebendig werden. Gemeinsam mit Ray geht man die Wege entlang und immer mehr und neue Ecken des Viertels werden für die Leser lebendig und farbig. Die vielen kleinen Szenen machen einfach Spaß beim Lesen. Da steckt ganz viel spannende Stadt- und Kulturgeschichte in den Zeilen.

Ray ist ein sympathischer Protagonist, der versucht, sich ein kleines privates Glück zu schaffen und zu erhalten. Alles Unheil, das auf ihn einbricht, scheint er mit angeborener Gelassenheit und Zuversicht auf sich zu nehmen, in dem Vertrauen, dass es schon gut werden wird. So hat er nicht nur Leichen zu entsorgen, sondern auch die eigenen Schwiegereltern gegen sich, die auf ihn herabsehen, da er nicht so hellhäutig ist wie sie. Bemerkenswert ist der Job von Rays Frau Elizabeth, die in einem Reisebüro arbeitet, das Afroamerikanern sichere Reiserouten, Hotels und Restaurants bucht - in den USA!

Bei allem Ernst, den die Themen Rassentrennung, -unruhen, Polizeigewalt und Drogen vermitteln, empfinde ich den Schreibstil als sehr humorvoll. Die Einwürfe und Gedanken von Ray - an den unpassendstes Stellen - zu neuen Möbeln oder für einen Werbespruch sind echt witzig. Zahlreiche skurrile Gauner, alle mit einer eigenen Geschichte, bevölkern die Handlung. Da muss man manchmal schon aufpassen, dass man nicht die Übersicht verliert in dieser Geschichte, die sich über fünf Jahre erstreckt. Auch springt der Autor häufig in der Zeit zurück, um bestimmte Figuren, Beziehungen oder Szenen mit Hintergrundwissen zu unterfüttern

Der Roman hat mir sehr gut gefallen. Ein paar Seiten brauchte ich, bis ich mich in der Geschichte und in Harlem zurechtgefunden hatte, aber dann las sich die Geschichte wie von allein. Wie liebevoll und detailgenau hier Armseligkeit und kleines Glück beschrieben werden, ist wirklich groß. Ein Kaleidoskop voller Eindrücke, hervorragend in drei große Abschnitte mit passenden Überschriften eingeteilt. Vordergründig eine Story, die mich an "Der Clou" erinnert hat, mit einem überaus ernsten Hintergrund, von dem ich hier nur Teile nennen konnte. Für mich ein fünf-Sterne-Buch.

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Veröffentlicht am 14.08.2021

Großartiger Thriller mit Kettenreaktion

Die Nacht – Wirst du morgen noch leben?
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Mit der Entführung einer jungen Frau startet dieser starke Thriller die Handlung. Nachts in einem Wald, bei strömendem Regen hält man als Leser*in das einzige Licht natürlich sofort für unheilbringend; ...

Mit der Entführung einer jungen Frau startet dieser starke Thriller die Handlung. Nachts in einem Wald, bei strömendem Regen hält man als Leser*in das einzige Licht natürlich sofort für unheilbringend; nicht so Hanna, die zuversichtlich darauf zuläuft und dann verschwindet. Gleichzeitig hat die Europol-Mitarbeiterin Inga Björk ein Auge auf Christian Brand, Ex-Spezialeinheitsbeamter, der sich in Wien offenbar an einer Straftat beteiligt und in eine Fall der österreichischen Polizei zu tappen droht. Während Björk noch überlegt, Brand zu warnen (oder auch nicht), erwacht Hanna nach ihrer Entführung und entdeckt, dass sie nicht alleine ist und dass sie sich in einer mörderischen Konstruktion befindet, die allen Gefangenen das Leben kosten wird. Der Wettlauf gegen die Zeit beginnt.

Kurz nacheinander werden zahlreiche Erzählstränge in Gang gesetzt: Die gefangene Hanna, Inga Björk und Christian Brand (die nach anfänglichen Schwierigkeiten gemeinsam an dem Fall arbeiten), ein kleiner Junge namens Benjamin und der undurchsichtige Anwalt Eric Dornhoff treten auf die Bühne und sorgen für ein temporeiches Geschehen. Die kurzen Kapitel sorgen für Spannung durch den ganzen Thriller, zusätzlich angeheizt durch den Zeitdruck bei der Suche nach den Vermissten, dem nicht nur Björk und Brand, sondern auch die Leser ausgesetzt sind.

Den ersten Teil der Serie ("Das Spiel") muss man nicht gelesen haben, um sich hier zurechtzufinden. Die sympathischen Protagonisten mit Ecken und Kanten werden ausreichend vorgestellt, es bleiben aber auch Leerstellen, die Platz für weitere Teile dieser Reihe machen. Jan Beck schreibt sehr flott und versteht es, die immer wieder düsteren Stellen im Buch besonders eindringlich zu beschreiben und "zum Leben zu erwecken".

Der Thriller hat mir sehr gut gefallen. Interessante Charaktere, eine wirklich spannende und gut konstruierte Story mit überraschenden Wendungen und einer unerwarteten Auflösung. Das eindringliche Cover hält, was es verspricht: Thrillerunterhaltung vom feinsten. Fünf Sterne.

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Veröffentlicht am 10.08.2021

Moderner und liebenswerter "Taugenichts"

Offene See
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Schon die ersten Zeilen des ersten Kapitels von Myers Roman haben mich an Eichendorffs "Taugenichts" erinnert und dann entfaltet sich eine ähnliche und doch ganz andere wunderbare Geschichte:

Der 16-jährige ...

Schon die ersten Zeilen des ersten Kapitels von Myers Roman haben mich an Eichendorffs "Taugenichts" erinnert und dann entfaltet sich eine ähnliche und doch ganz andere wunderbare Geschichte:

Der 16-jährige Robert möchten das Leben jenseits seiner nordenglischen Heimat, einer grauen Stadt geprägt durch den Kohleabbau, kennenlernen. Er macht sich auf die Wanderschaft und bleibt schließlich bei der schon nicht mehr ganz so jungen Dulcie und ihrem Schäferhund Butler hängen. Mental und physisch ausgehungert, päppelt Dulcie den Jungen auf, ohne ihn zu bevormunden. Eine wunderbare Freundschaft entwickelt sich, mit Blick auf die offene See.

Die Geschichte beginnt mit Robert, der sich als alter Mann an seine Jugend erinnert. Diese kleine Rahmenhandlung umklammert die Geschichte am Anfang und am Ende.

Es gibt so viele Parallelen zu Eichendorffs bekanntem Werk. Im Zentrum stehen auch hier die Naturbetrachtungen, die sehr anrührend aus Roberts Sicht beschrieben werden, die Bürger-Künstler-Problematik und die Stellung der Frau. Neu ist die zeitliche Verortung direkt nach dem zweiten Weltkrieg, der die Menschen in Großbritannien immer noch im Griff hat. Die fehlenden Männer und anwesenden Kriegsversehrten, das rationierte Essen und die sich ändernde Gesellschaft sind nicht zu übersehen. Wie der Taugenichts der väterlichen Mühle entkommen möchte, flieht Robert vor der drohenden Arbeit unter Tage, die schon seit Generationen von den Männern seiner Familie ausgeübt wird.

Robert und Dulcie sind wunderbare Charaktere, die den Roman nahezu allein tragen. Robert geht unbekümmert und ein bisschen naiv in die Welt und hat viel vom Eichendorffschen Märchenhelden. Die Natur-, Landschafts- und Tierbeschreibungen sind sehr poetisch gelungen und es hat mir große Freude gemacht sie zu lesen. Die Geschichte hat mich sehr berührt und ich habe sie in kürzester Zeit durchgelesen. Die Frage, wie das Leben für Robert weitergeht, ob er seinen Vorfahren in den Kohleabbau folgen wird, hat durchaus für Spannung gesorgt. Und auch Dulcie trägt ein Geheimnis mit sich herum.



Ich kann das Buch sehr empfehlen. Es lebt von leisen Tönen, poetischen Beschreibungen, Gedanken über die Welt, Wünschen und Realitäten. Das schlichte Cover, das für mich die Weite symbolisiert, passt hervorragend zum Inhalt. Das Buch wurde nicht umsonst zum "Liebling des Unabhängigen Buchhandels 2020" gewählt. Von mir gibt es fünf Sterne.

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Veröffentlicht am 15.07.2021

Rasante Mördersuche

Todesmärchen
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Auch der dritte Teil der Serie von Andreas Gruber über das ungleiche Ermittlerpaar Nemez und Sneijder konnte überzeugen.

Sabine Nemez hat mittlerweile ihre Ausbildung bei BKA beendet. Als offizielles ...

Auch der dritte Teil der Serie von Andreas Gruber über das ungleiche Ermittlerpaar Nemez und Sneijder konnte überzeugen.

Sabine Nemez hat mittlerweile ihre Ausbildung bei BKA beendet. Als offizielles Ermittlerpaar wider Willen versucht sie gemeinsam mit ihrem ehemaligen Lehrer, dem Profiler Maarten S. Sneijder, eine Mordserie aufzuklären. Die grausam zugerichteten Leichen führen die beiden von einer Stadt in die nächste. Fast zeitgleich beginnt die junge Psychologin Hannah Norland ihre Praktikumsstelle in der Justizvollzugsanstalt Steinfels, einem abgeschieden gelegenen Ort auf der Insel Ostheversand nahe Flensburg. Berühmtester Insasse ist der Holländer Piet van Loon, der einst von Sneijder dingfest gemacht wurde. In diesem Gefängnis für "geistig abnorme Rechtsbrecher" bahnt sich schon bald etwas an - und das ist keine erfolgreiche Gruppentherapie.

Der Roman schließt nahtlos an den vorherigen Teil an, kann aber ohne Kenntnisse der Vorgeschichte gelesen werden. Gruber bedient sich hier des bewährten Konzeptes: Ein ganz fieser Mörder treibt sein Unwesen und hinterläßt grausam verstümmelte Leichen. Seine Beweggründe bleiben zunächst völlig unklar. Die Tätersuche erstreckt sich bis in die Schweiz. Sneijder überzeugt einmal mehr als intelligenter, aber ziemlich rüpelhafter niederländischer Zeitgenosse und Sabine Nemez versucht die Wogen zu glätten und hat oft den richtigen Riecher. Ein Buch spielt bei den Morden eine wichtige Rolle, diese Verbindung gab es in den ersten beiden Bänden auch. Es gibt wieder mehrere Handlungsstränge, deren Beziehung zu einander sich erst später erschließt.

Also im Grunde alles schon mal dagewesen. Dennoch habe ich auch diesen dritten Band verschlungen. Gruber schreibt sehr schnell und durch die verschiedenen Handlungsstränge gewinnt die Geschichte unheimlich an Fahrt und Spannung. Es gab einige Aha-Erlebnisse für mich, aber auch einige unlogische Stellen. Da schauen wir jetzt mal drüber hinweg.

Insgesamt hat mich "Todesmärchen" gut unterhalten, das liegt zum einen an der Spannung und zum anderen an den Charakteren. Marten S. Sneijder ist in seiner Missgelauntheit nicht zu übertreffen und die Sprüche, mit denen er seine Mitmenschen anfällt, sind teilweise köstlich.

Wer einen blutigen, spannenden und unterhaltsamen Thriller sucht, macht hier garantiert nichts falsch. Fünf Sterne.




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Veröffentlicht am 02.07.2021

Bewegend und großartig!

Von hier bis zum Anfang
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Was für eine bewegende Geschichte.
Chief Walker, Polizist im kalifornischen Städtchen Cape Haven, der mehr in der Vergangenheit als in der Gegenwart lebt, sorgt sich seit Jahren um Duchess und Robin Radley. ...

Was für eine bewegende Geschichte.
Chief Walker, Polizist im kalifornischen Städtchen Cape Haven, der mehr in der Vergangenheit als in der Gegenwart lebt, sorgt sich seit Jahren um Duchess und Robin Radley. Die Dreizehnjährige und ihr kleiner Bruder sind mehr oder weniger auf sich allein gestellt. Die Mutter hat vor 30 Jahren ihre Schwester Sissy verloren und kommt schon lange nicht mehr mit ihrem Leben zurecht. Duchess beschützt ihren Bruder wie eine Löwin vor dem Strudel aus Pillen, Alkohol, Depressionen, falschen Männern und schlichter Geldnot, der ihre Mutter umgibt. Walker hilft wo er kann, auch Vincent King, seinem besten Freund aus Kindertagen, der der Mörder von Sissy ist, steht er zur Seite. Er hat seine Strafe abgesessen und kommt zurück nach Cape Haven, dort wo vor 30 Jahren alles begann.

Chris Whitaker hat eine großartige Geschichte geschrieben, die von den ersten Seiten an zu fesseln vermag und die Lesenden bis zum Ende nicht losläßt. Sein Schreibstil vermag Atmosphäre zu schaffen und die Dialoge sind glaubwürdig. Der Roman lebt aber eindeutig von der Handlung und den Charakteren. Allen voran Outlaw Duchess Radley, die trotz aller Härte, die das Leben für sie bereithält, eine solche Zartheit beim Umgang mit ihrem Bruder zeigt und die eine unglaubliche Sympathieträgerin ist. Man leidet ganz furchtbar mit ihr und Robin mit. Dann Chief Walker, Walk, von dem nie der Vorname genannt wird. Sein Job bedeutet ihm alles. Er versucht die Stadt zusammenzuhalten und vor dem Ausverkauf zu retten, ebenso wie das Leben von Star und ihren Kindern gleich mit. Die Geschichte wird aus der Sicht dieser beiden Charaktere geschildert. Insgesamt wimmelt die Handlung von außergewöhnlichen Nebencharakteren. Sie alle spielen eine Rolle bei der Geschichte, die im hier und jetzt startet, und sich doch immer um Anfänge dreht. Für die vaterlose Duchess ist der Stammbaum, den sie für die Schule erstellen soll, symbolisch für ihr ganzes Leben. Der Roman wird mit "Der Gesang der Flusskrebse" verglichen. Whitakers Buch ist genauso fesselnd, spannend und bewegend, der Schreibstil ist jedoch nicht so poetisch und die weibliche Hauptfigur wirkt in ihrem Handeln aggressiver und teilweise fast verbittert. Auch hier gibt es Charakterstudien, Entwicklungsgeschichte, Gerichtsdrama und Kriminalfall in einem.

Mir hat das Buch wahnsinnig gut gefallen. Endlich mal wieder ein Roman, den ich nicht aus der Hand legen konnte. Das Cover zeigt den typischen mittleren Westen der USA, was ja zunächst nichts mit dem Küstenstädten Cape Haven in Kalifornien zu tun hat. Der Bezug wird aber hergestellt. Die warmen Farbe, die so heimelig wirken, aber ganz anders sind, als das Leben der kleinen Protagonisten.
Ich kann eine uneingeschränkte Leseempfehlung aussprechen. Fünf begeisterte Sterne!

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