Eine blutige, symbolträchtige Parabel über Monster, Krieg und die Frage des Blickwinkels.
Und der Ozean war unser HimmelHandlung: "Nennt mich Bathseba", läutet die Geschichte einer jungen Walin ein, die zusammen mit ihrer Schiffscrew auf der Jagd nach einem legendären Walfänger ist: "Toby Wick." Schon mit dem ersten Satz ...
Handlung: "Nennt mich Bathseba", läutet die Geschichte einer jungen Walin ein, die zusammen mit ihrer Schiffscrew auf der Jagd nach einem legendären Walfänger ist: "Toby Wick." Schon mit dem ersten Satz wird somit klar, auf welchen Klassiker sich Patrick Ness mit seiner düsteren Parabel über Monster, Krieg und die Frage des Blickwinkels bezieht. Nacherzählungen in Form von Kinderbüchern gibt es eine Menge zu Herman Melvilles "Moby Dick", was Patrick Ness hier aber tut, ist in Form einer Gegenerzählung alle Rollen zu vertauschen und Jäger und Gejagte an der Wasseroberfläche zu spiegeln. Durch die gewählte Perspektive erscheinen viele Aspekte der Handlung zunächst wirr. In der Welt der Wale ist unser Himmel der "Abgrund", gegen dessen Anziehungskraft in Form des Auftriebs es anzuschwimmen gilt. Im Gegensatz dazu entsprechen die Tiefen des Ozeans dem Himmel (Verweis: Titel). Doch nicht nur oben und unten sind vertauscht. In Patrick Ness´ Version der Geschichte haben die Wale eine entwickelte Gesellschaft mit Technik, Sozialsystem, Sprache und Kultur und machen Jagd auf die Menschen, deren Leichen sie ernten. Es ist durchaus anspruchsvoll, sich auf diesen fremden Blickwinkel einzulassen und die dargestellte Handlung als kritischen Spiegel zu begreifen, der unser eigenes Handeln verurteilt. Trotz der vielen Parallelen, Andeutungen und Schnittstellen zu "Moby Dick" geht "Und der Ozean war unser Himmel" jedoch seinen eigenen Weg, weshalb es nicht zwingend notwendig ist, den Klassiker von Melville zu kennen.
Schreibstil: "Und der Ozean war unser Himmel" ist auf der reinen Handlungsebene ein blutiges Abenteuer, die Metaebene ist aber wie bei dem Autor gewohnt reichhaltig gefüllt mit bildreichen Metaphern, Symbolen und Andeutungen. Die viele Gewalt, Kämpfe, die ständige Jagd und der allgegenwärtige Tod zeichnen ein sehr düsteres Bild, zwischen Blutbädern und Begegnungen mit anderen Walschulen diskutieren unsere Figuren aber auch Prophezeiungen, Glaube, Monster und Krieg diskutiert. Dabei beschränkt sich diese düstere Fabel aber eher darauf, Fragen zu stellen, als diese dann auch zu beantworten. Wer sorgt dafür, dass eine Prophezeiung eintritt? Die Vorsehung, oder führt man sein Schicksal durch eine Vorhersage selbst in diese Richtung? Wie rechtfertigt man einen Krieg und kann man diesem Strudel aus Hass jemals entkommen? Was bedeutet Loyalität? Und warum machen wir aus dem Unbekanntem immer Monster? Genau wie in allen Geschichten von Patrick Ness ("A Monster Calls", "Chaos Walking") ist also auch wieder ein ordentlicher Hä-Effekt dabei und worauf die Geschichte eigentlich hinauswill bleibt am Ende eher nebulös umrissen und mit jeder Menge Raum für Interpretationen, Diskussionen und Projektion.
Figuren: Eine Walin zur Protagonistin machen - funktioniert das? Klar, in Kinderbüchern wird das ständig gemacht, doch wie steht es in einem blutigen Überlebensdrama? Ab wann wird dieses Vermenschlichungs-Experiment absurd? All das habe ich mich während der ersten Seiten der Geschichte gefragt. Doch trotz dass uns Lesern die Wale nicht gerade als Sympathieträger ans Herz wachsen, verschwimmen während der 160 Seiten der Geschichte die Grenzen zwischen Menschen und Walen, Fremd und Eigenperspektive zusehends und man findet sich ab und zu selbst in dem Taumel wieder, den Bathseba fühlt, wenn sie den Wasserspiegel durchbricht und die Welt für den Bruchteil einer Sekunde kippt. In diesen kurzen Momenten war dann ich der Wal und fürchtete und gierte gleichermaßen nach der Legende des bösartigen Teufels Toby Wick...
Illustrationen: Begleitet und unterstrichen wird die Geschichte durch die Illustrationen von Rovina Cai. Egal ob seitenfüllende, halbseitige oder nur angedeutete Motive am Seitenrand - durch kontrastreiche Blau-Schwarz-Zeichnungen mit blutroten Akzenten erhält die Geschichte einen düsteren, aber verträumten Beigeschmack, der ganz wunderbar zur Handlung passt. Alle wichtigen Szenen sind doppelseitig dargestellt, wobei die Bilder durch das Großformat des Buches im Stil eines Graphic Novels besonders gut zur Geltung kommen. Auch die 38 Kapitelanfänge sind durch kleine blaue Zeichnungen ausgestaltet. Sehr spannend ist, dass auch die Illustrationen mit den Motiven "oben und unten" und dem Spiegel spielen und somit der Himmel immer am unteren Seitenrand, der Ozean oben und der Wasserspiegel häufig mittig dargestellt ist.
Die Zitate
"Wir würden zu den Bergen gelangen. Wir würden unserem Schicksal ins Auge sehen. Aber war es eine Scheibe, dir unser Schicksal besiegelte? Oder die Hartnäckigkeit, mit der wir ihrer Botschaft folgten? Wird die Welt in Finsternis enden, weil es so vorhergesagt ist? Oder weil manche so fest daran glauben, dass sie es dadurch wahr machen? Voll der Angst, die sich stets in meinem Herzen zu verstecken versuche, frage ich mich, ob es da überhaupt einen Unterschied gibt."
"Wer den Teufel bekämpft, wird selbst zum Teufel."
"Vielleicht kann ja aber nur ein Teufel einen Teufel bekämpfen", sagte ich.
"Doch wenn dieser Kampf zu Ende ist, Bathseba", sagte er, "bleiben dann nur noch Teufel übrig?"
Und für einen Moment war im Meer nichts als Finsternis. Wir waren allein. Auch mit uns selbst. Und den Teufeln, die, ungesehen, irgendwo lauern."
Das Urteil:
Eine blutige, symbolträchtige Parabel über Monster, Krieg und die Frage des Blickwinkels. Patrick Ness hält uns hier mit einer Gegenerzählung zu Melvilles "Moby Dick" den Spiegel vor und lässt jede Menge Raum für eigene Interpretationen und Denkanstöße.