Authentisch ist anders...
Rot wie das VergessenNach fast zwei Tagen finden die Polizisten Callie in ihrer alten Wohnung. Die Wände dicht an dicht beschrieben mit einem roten Filzstift. Callie selbst erinnert sich nicht daran, was in den letzten Tagen ...
Nach fast zwei Tagen finden die Polizisten Callie in ihrer alten Wohnung. Die Wände dicht an dicht beschrieben mit einem roten Filzstift. Callie selbst erinnert sich nicht daran, was in den letzten Tagen geschehen ist… den Tagen, in denen ihr Vater und Hannah Rynes spurlos verschwanden… den Tagen, in denen Callie jeden Zentimeter ihrer alten Wohnung beschrieb… mit den immer wiederkehrenden Worten: Ich habe ihn umgebracht…
So zweigeteilt wie nach diesem Buch war ich wirklich noch nie!
Kurz vor der Hälfte habe ich mir den Kopf zerbrochen, ob ich das Buch abbrechen soll… Dabei hat mir das ganze Buch eigentlich sehr gut gefallen…
Callie ist zu Beginn des Buches eine völlig verstörte Jugendliche. Sie steht unter Vormundschaft des Jugendamtes und lebt deshalb nun bei einer Pflegefamilie, den Hatchens.
In ihrem Leben hat sie nur noch zwei Anlaufpunkte, auf die sie sich verlassen kann: Ihre Pflegeschwester Lindsey und ihren besten Freund Elijah aus dem Heim. Andere Menschen lässt sie nur selten an sich heran, was unter anderem an dem Schreibzwang liegt, der sie seitdem verschwinden ihres Vaters verfolgt. Doch die Satzfetzen scheinen keinen Sinn zu ergeben…
Hinzu kommt Callies Angst, dass sie ihren Vater ermordet hat oder vielleicht sogar Hannah etwas angetan hat. Zudem fühlt sie sich ständig beobachtet, als würde ihr Vater sie immer im Blick haben.
Lindsey ist die typische verwöhnte Göre aus gutem Hause, die nicht wirklich zu schätzen weiß, was ihre Eltern ihr alles ermöglichen. Sie kifft, raucht, hat Sex und beschafft sich auf nicht ganz legalem Wege die Antibabypille. Trotzdem ist sie zu Beginn des Buches da für Callie, wie sonst niemand...
Elijah lässt sich nur mal blicken, wenn er lustig ist. Meist hat man beim Lesen das Gefühl, dass er nur das tut, was ihm in den Kram passt. Vielleicht liebt er Callie, vielleicht nicht. Seine Pflegeeltern halten ihn jedenfalls an einer viel kürzeren Leine, als die Hatchens Callie halten. Jeden Dienstag treffen sich Elijah und Callie über dem Café Landstreicher in Callies alter Wohnung. Manchmal sitzt Callie aber auch den halben oder sogar den ganzen Abend alleine dort…
Sasha Dawns Schreibstil spiegelt perfekt Callies inneres Kämpfen wieder. Beim Lesen entwickelte sich ein Lesefluss mit reißenden Fluten, die meinen Kopf unter Wasser zogen und erst mehrere Seiten weiter wieder freigaben. Die Seiten flogen dahin und ehe ich mich versah, hatte ich 100 Seiten weniger vor mir.
Die Geschichte ist überaus authentisch und großartig durchdacht. Sasha Dawn hat einen Plot erschaffen, den man so, wohl sonst nur in einem erwachsenen Thriller finden würde. Da ich hier aber ein Jugendbuch in den Händen hielt, fand ich es teilweise doch sehr strittig, ob die Umgangsweise richtig gewählt war.
Womit wir auch zu meinem großen Problem mit diesem Buch kommen:
Lest euch diesen dick gedruckten Abschnitt bitte in Ruhe durch und entscheidet, dann ob ihr weiterlesen möchtet, denn nach diesem dick gedruckten Abschnitt wird es nicht ganz Spoiler frei weitergehen.
Es gibt viele Kinder und Jugendliche, die selbst schon einmal Opfer von körperlicher, sexueller oder seelischer Gewalt wurden. Wenn ihr selbst zu einem dieser Opfer gehört, bitte ich euch inständig, dieses Buch nicht zu lesen, da es eine stark triggernde Wirkung haben könnte! Oder euch zumindest darüber im Klaren zu sein, was ihr da lesen werdet.
Da ich es anders nicht mit meinem Gewissen vereinbaren kann, werde ich nun im folgenden Abschnitt darauf eingehen, warum ich mit „Rot wie das Vergessen“ ein großes Problem hatte, und nach dem Lesen dachte, ich hätte es lieber abbrechen sollen, als ich noch nicht in der Sogwirkung drin war. Der nachfolgende Text wird allerdings auch eine der wichtigsten Wendungen des Buches vorwegnehmen.
*** Spoiler-Zone ***
Callies Vater Palmer Prescott ist Vorsteher einer großen Kirchengemeinde. Seine Mitglieder beten ihn an, verehren ihn und das schlimmste, sie vertrauen ihm. Dass er mehrere Frauen seelisch, körperlich und sexuell missbraucht, sieht niemand.
Doch wir als Leser werden durch Callies Erinnerungen mitten in dieses Geschehen hineingeworfen. Bekommen mit wie Palmer Frauen vergewaltigt, brutal schlägt und beinahe erwürgt. Teilweise ist die Umgangsweise von Sasha Dawn dabei nicht sehr sanft. Durch Callies Flashbacks werden wir urplötzlich mitten in eine für uns eindeutige Situation geworfen. Später stellen wir dann aber fest, dass diese gar nicht so stattgefunden hat. Callie selbst ist aber zu Beginn davon überzeugt und somit sind wir es als Leser auch.
Die Beschreibung von einigen Szenen könnte in so manchem Leser Erinnerungen wecken, die mit dem Buch an sich gar nichts zu tun haben. Dies passiert durch die sehr fordernde Geschichte. Als Leser muss man sich auf dieses Buch voll und ganz einlassen, da einem sonst wichtige Details beim Lesen entgehen. Dies führt aber dazu, dass man oft zu spät merkt, was da gerade in einem selbst vorgeht. Callie befindet sich durchgehend in der Opferrolle! Sie schafft es nicht einmal sich selbst gegen ihren Vater zu wehren! Sie kann niemandem helfen, am allerwenigsten sich selbst!
Ich sage ja, sehr authentisch…