Mehr Kentucky als Krimi
"Unbarmherziges Land" ist mehr Kentucky als Krimi, eher eine Charakterstudie einer Region und ihrer Bevölkerung als tatsächlich eine spannende Ermittlung.
Das wird schon dadurch deutlich, dass die eigentliche ...
"Unbarmherziges Land" ist mehr Kentucky als Krimi, eher eine Charakterstudie einer Region und ihrer Bevölkerung als tatsächlich eine spannende Ermittlung.
Das wird schon dadurch deutlich, dass die eigentliche Ermittlerin, Linda Hardin, im Klappentext angepriesen als "erster weiblicher Sheriff des Countys", den Fall niemals ohne ihren Bruder Mick hätte lösen können und die ganze Zeit nur darauf warten muss, dass dieser ihr Ermittlungshäppchen vor die Füße schmeißt, damit sie dann jemanden offiziell vernehmen oder verhaften kann. Ich habe es von Anfang an befürchtet und die Befürchtung hat sich sehr schnell bestätigt.
Linda wendet sich überhaupt erst an ihren Bruder, weil sie als erster weiblicher Sheriff sowohl bei den Vorgesetzten als auch bei der alteingesessenen Bevölkerung aneckt - das, obwohl sie selbst in der Region geboren und aufgewachsen ist. Ihr Bruder hat dagegen vom Militär her Erfahrung in der Ermittlungsarbeit und als Mann einen anderen Draht zu den Menschen, also kann er ein bisschen aushelfen. Insofern erwartet man aber von dem Buch, dass Linda eine mindestens genauso wichtige Rolle spielt wie Mick und dass sie sich am Ende gegen alle Feinde durchsetzt, den Fall löst und mehr respektiert wird. Es wird jedoch schnell klar, dass der eigentliche Protagonist des Buches Mick ist. Mick und seine Fast-Alkoholsucht, Mick und seine kaputte Ehe, Mick und sein Fortbleiben vom Militärdienst. Mick und seine wahnsinnig coolen Survival- und Kampf-Skills, mit denen sich niemand messen kann. Zum Ende des Buches hin gerät sogar der Mord, um den es eigentlich geht, gänzlich in den Hintergrund. Die Auflösung hat mich absolut unbefriedigt zurückgelassen und auch die Auflösung des Ehekonfliktes schien mir einfach nur seltsam. Aber kann eine Ermittlung überhaupt noch spannend sein, wenn der Held nach der Hälfte des ohnehin nicht sehr langen Buches und ohne jegliche Möglichkeit für die Leser, bei dem Fall mitzurätseln, verkündet: "Ist okay, ich weiß wer's war"?
Dazu muss ich aber sagen, dass das Buch eine fantastische Cover-Gestaltung hat, wenn man von dem üblichen Unding des Tropen-Verlags absieht, den Strichcode auch vorne auf das Buch zu drucken. Es fängt genau die Atmosphäre der Geschichte ein, das wilde Kentucky, dunkler Wald, strahlender Nachthimmel. Alle Naturbeschreibungen habe ich sehr genossen. Die Einblicke in das Leben in Kentucky waren auch gelungen und spannend. Mir hat die Ausgestaltung der Figuren gefallen, sowohl ihre Beschreibung als auch die wörtliche Rede. An dem Schreibstil des Autors kann ich nichts aussetzen, technisch liest sich das Buch hervorragend. Ein kleines Extra waren hin und wieder eingestreute Einblicke in das Innere der Figuren, nachdem Mick, aus dessen Sicht überwiegend erzählt wird, bereits nicht mehr (oder noch nicht) mit ihnen interagiert hat. Sie haben das Porträt der Region abgerundet. Aber was sagt es über den Respekt des Autors für seine zweite Hauptfigur (Linda) aus, dass sie nicht nur zur Nebenfigur degradiert wurde, sondern auch noch die uninteressanteste von allen ist? Ich habe sogar das rückwärts gehende Huhn, das mittendrin einen charmanten Gastauftritt hat, wärmer und präsenter in Erinnerung als die angebliche Ermittlerin in diesem Mordfall.
Ich wollte eigentlich vier Sterne geben, weil die Lektüre Spaß gemacht hat, auch wenn das Buch nicht so war, wie ich es erwartet hatte. Das Ende hat mir die Geschichte aber noch einmal richtig versaut. Ich habe das Gefühl, dass man eine Fortsetzung erwarten kann, aber ich glaube nicht, dass ich die lesen möchte. Empfehlenswert ist "Unbarmherziges Land" aber irgendwie dennoch, für die Einblicke in eine Ecke der USA, die sonst nicht so viel in der Literatur vorkommt und für mal eine andere Art von Nostalgie.