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Veröffentlicht am 08.03.2022

Ein deutsch-deutscher Schelmenroman

Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße
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Michael Hartung, Ex-Stellwerkarbeiter bei der ostdeutschen Bahn, später Stasi-Inhaftierter und nach der Wende in diversen Geschäften mehr oder minder erfolglos, hat in seiner mittlerweile mies laufenden ...

Michael Hartung, Ex-Stellwerkarbeiter bei der ostdeutschen Bahn, später Stasi-Inhaftierter und nach der Wende in diversen Geschäften mehr oder minder erfolglos, hat in seiner mittlerweile mies laufenden Videothek "Moviestar" zwar, wie bei ihm üblich, den Trend der Zeit verschlafen, aber lebt sein Leben genügsam und alten Erinnerungen nachhängend inmitten längst vergessener Filmklassiker und den gelegentlichen Feierabend-Bierflaschen. Als eines Tages ein Reporter bei ihm auftaucht und ein über 35 Jahre zurückliegendes Missgeschick als heldenhafte DDR-Fluchthilfe neu interpretiert, gerät Hartung als Retter wider Willen ins gleißend helle Licht einer medialen Öffentlichkeit auf der Suche nach neuer Beute. Ein irrer Trip beginnt ...

Maxim Leos "Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße" ist ein Stück neuer deutscher Literatur, das es sich mit unbeirrter Selbstsicherheit zwischen den sarkastischen Kalauer-Kladden auf den Bestsellerregalen der großen Buchhändler und der eher feinsinnigen Verschrobenheit eines Sven Regener gemütlich macht und seinen Antihelden Michael Hartung als moderne Kollage aus Münchhausen, Eulenspiegel und dem Simplicissimus anlegt. So wie die großen Vorbilder hält auch Hartung der deutsch-deutschen Wirklichkeit mit beißendem Spott einen Spiegel vor, demontiert die heutige Medienlandschaft ähnlich mitleidlos wie zuletzt Timur Vermes in "Er ist wieder da" und hat dabei einige sehr kluge Sätze zum Verhältnis der ehemals voneinander getrennten alten und neuen Bundesländer zu sagen. Letztendlich bleibt, abseits einer wirklich amüsanten Geschichte mit teils überzeichneten, aber (fast) immer sympathischen Figuren, die Erkenntnis eines gewollten Missverständnisses, mit dem sich die Öffentlichkeit ihr eigenes Bild von den Mentalitäten im geteilten Deutschland zurechtbastelt. Leo wird dieses Bild nicht geraderücken können, aber er lüpft gekonnt den Vorhang und legt den Finger auf alte Wunden, nostalgische Verklärung und verallgemeinerte Feindbilder gleichermaßen. Hüben wie drüben: Nicht alles war schlimm. Manches war schlimmer. Und einiges besser. Aber alles war anders.

Derzeitiger Top-Tipp für Leser unterhaltsamer deutscher Gegenwartsliteratur. Maxim Leo hat's drauf!

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Veröffentlicht am 21.09.2021

Ein amerikanisches Epos

Die vier Winde
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Elsa wächst in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts im Norden von Texas auf und ist das Aschenputtel ihrer Familie, der man nicht zutraut, jemals einen Mann zu finden oder eine Familie zu gründen. ...

Elsa wächst in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts im Norden von Texas auf und ist das Aschenputtel ihrer Familie, der man nicht zutraut, jemals einen Mann zu finden oder eine Familie zu gründen. Als sie sich in den jüngeren Italo-Amerikaner Raf verliebt, schwanger wird und ihre Familie sie verstößt, beginnt ein hartes Leben in einer neuen Familie für sie. Jahre später hat sie sich mit ihrem Schicksal arrangiert, doch die große Depression und die fürchterlichen Sandstürme des mittleren Westens haben das Land fest im Griff. Elsa und ihre Familie nehmen all ihren Mut zusammen, lassen ihre Verzweiflung hinter sich und ziehen westwärts. Eine gefährliche und abenteuerliche Reise beginnt ...

Kristin Hannah, unter den großen US-Gegenwartsautoren bereits eine der etablierten, hat mit "Die vier Winde" ihre eigene Version der "Great American Novel" realisiert. Atmosphärisch dicht und in ihrer ausladenden erzählerischen Vision irgendwo zwischen John Steinbeck und Colleen McCullough angesiedelt, schildert Hannah die epische Geschichte von der Realisierung des persönlichen amerikanischen Traums mit dem wissenden Blick einer Erzählerin, die schon alles gesehen hat. Im besten Sinne des Wortes ein klassischer Lebens- und Entwicklungsroman, fernab von den abenteuerlichen Histo-Schmökern für Frauen, die sonst so in den letzten Jahren den Markt überschwemmt haben. Hat das Zeug zum modernen Klassiker - unbedingt lesen!

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Veröffentlicht am 23.08.2021

Dystopisch-aktuelles Drama

Heimatsterben
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Als ihre Großmutter im Sterben liegt, kehrt Hanna Ahrens aus New York zurück nach Deutschland und gerät dort schnell in einen politischen Strudel, bei dem ihre Familie - besonders ihr Schwager Felix als ...

Als ihre Großmutter im Sterben liegt, kehrt Hanna Ahrens aus New York zurück nach Deutschland und gerät dort schnell in einen politischen Strudel, bei dem ihre Familie - besonders ihr Schwager Felix als Kopf einer rechtsnationalen Volkspartei - in den Mittelpunkt radikaler politischer Änderungen im Land rückt.

Was man bei Sarah Höflichs faszinierendem Debütroman gleich zu Anfang hervorheben muss, ist die optische Aufmachung des Buchs. Lob an den dtv-Verlag, denn "Heimatsterben" glänzt mit einem prägnanten und doch noch subtilen Cover, einer gelungenen Farbgebung und kommt als ungewöhnlich handliches Hardcover daher, das sich haptisch sehr angenehm anfühlt. Damit ist dem Werk bei der Präsentation im Buchhandel vermutlich schon eine grundsätzliche Aufmerksamkeit sicher.

Davon abgesehen liest sich "Heimatsterben" trotz seiner düster-komplexen Thematik grandios flüssig, denn Sarah Höflich verpackt ihren dystopischen Politthriller in eine dramatische Familiensaga und verleiht ihren zahlreichen Charakteren einen tiefreichenden Hintergrund, der ihre Geschichte personalisiert und gleichzeitig erdet. Hierbei erweist sich der im Innencover liebevoll platzierte Stammbaum vor allem zu Beginn, wenn sich die Vergangenheit einiger Figuren in einem prall erzählten Rückblick auf die Jahre seit dem Kriegsende entfaltet, als hilfreiche Übersicht innerfamiliärer Verbindungen.

Der Roman selbst verläuft dann mit einer strukturell fast zu erwartenden Dynamik auf die jeweiligen Höhepunkte zu und zieht dabei die Spannungsschraube fester: Natürlich gipfelt der bedrohlich populistische Wahlkampf in einem Erfolg für Felix, natürlich gerät Hanna dabei in den Dunstkreis ihres eher ungeliebten Schwagers und natürlich steuert Deutschland auf dunkle Stunden zu. Das ist die logische Konsequenz, nicht nur aus der im Roman erzählten Geschichte selbst, sondern auch aus der Übersetzung und Verdichtung der derzeit tatsächlich aktuellen Zustände in der deutschen Gesellschaft, die mehr denn je einen Diskurs um unsere politische und moralische Zukunft erfordern. Insofern schildert "Heimatsterben" fast schon erschreckend realistisch ein Was-wäre-wenn-Szenario, das momentan, kurz vor den Wahlen im Herbst, brisanter nicht sein könnte. Ein durch und durch lesbarer, wichtiger und vor allem extrem spannender Near-Future-Roman, den man so schnell nicht aus der Hand legen wird - und ein fulminanter Start in den kommenden Bücherherbst. Unbedingt lesen!

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Veröffentlicht am 23.07.2021

3 Frauen - 3 Generationen

Wildtriebe
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Ein kleines Dorf, in dem man sich seit Ewigkeiten kennt. Mittendrin der Bethches-Hof, auf dem drei Generationen die Geschicke lenken. Lisbeth und Karl, die Großeltern. Ihr Sohn Konrad und Marlies, die ...

Ein kleines Dorf, in dem man sich seit Ewigkeiten kennt. Mittendrin der Bethches-Hof, auf dem drei Generationen die Geschicke lenken. Lisbeth und Karl, die Großeltern. Ihr Sohn Konrad und Marlies, die zugezogene Städterin, die sich leidlich Mühe gibt, es ihrer strengen Schwiegermutter recht zu tun. Und Joanna, die Gymnasiastin, die hochfliegende Träume hat und von den alten Traditionen nicht viel hält. Sie ist die Erste, die es in die Ferne zieht - für ein Jahr nach Afrika, weit weg vom Hof und ihrer Familie. Für die Zurückbleibenden ist es ein Anlass, ihre eigene Geschichte zu reflektieren ...

Kaum zu glauben, dass Ute Mank nach einer langen beruflichen Karriere im Gesundheitswesen hiermit ihr literarisches Debüt feiert. Das poetische Generationendrama "Wildtriebe" ist ein bäuerlicher Landroman, robust und zart zugleich, voller Leben und trotzdem einer gewissen Melancholie ergeben, die alle Seiten der Geschichte durchdringt. "Wildtriebe" ist keine oberflächliche Feel-Good-Unterhaltung, die heutzutage allzuoft die Spiegel-Bestsellerlisten dominiert, sondern schildert in präzisem Detail den oft harten Alltag einer traditionellen dörflichen Gesellschaft, deren starre Normen der vergangenen Tage sich langsam dem progressiveren Gedankengut des Hier und Jetzt öffnet. Jeder muss sich dieser Wandlung selbst auf individuelle Art und Weise stellen, und Ute Mank gelingt es hier gänzlich unaufgeregt, jeden einzelnen Charakter zu einer Veränderung zu bringen, die dennoch keinen Verrat an den eigenen, über ein Leben lang erworbenen Traditionen und Werten begeht. Damit baut sie ein tiefes Verständnis zwischen Leser*innen und Figuren auf, das sich über den Lauf der Handlung zu tiefer Zuneigung verdichtet. Für die störrische Lisbeth, für die der Hof an erster Stelle steht und Familie Pflichterfüllung und Tradition bedeutet. Für Marlies, die sich ein Leben lang angepasst hat und manchen Traum hat ziehen lassen. Und für Joanna, die jung ist und lebensfroh, und für die persönliche Freiheit an erster Stelle steht.

"Wildtriebe" ist ein großartig geschriebenes Romandebüt für anspruchsvolle Leser, die tief in den Seiten einer melancholischen Familiensaga versinken möchten, und gleichzeitig ein starkes Porträt dreier Frauengenerationen auf der Suche nach der Vereinbarkeit von Glück und ihrem persönlichen Platz in einer sich langsam verändernden Gesellschaft. Ein Volltreffer, der darauf hoffen lässt, schon bald mehr von Ute Mank zu lesen. Unbedingte Empfehlung!

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Veröffentlicht am 27.04.2021

So wild und farbig wie das Leben

Nora Joyce und die Liebe zu den Büchern
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"Du verstehst mich wie sonst niemand, Nora, aber meine Kunst interessiert dich einen Dreck, mein Schatz."

Ganz so ist es nicht, denn Nora Joyce brennt für ihren Mann und seine Leidenschaft, auch wenn ...

"Du verstehst mich wie sonst niemand, Nora, aber meine Kunst interessiert dich einen Dreck, mein Schatz."

Ganz so ist es nicht, denn Nora Joyce brennt für ihren Mann und seine Leidenschaft, auch wenn sie sich zeitlebens dagegen wehrt, den "Ulysses" zu lesen. Ansonsten hat sie alle Hände voll damit zu tun, die Familie über Wasser zu halten, ihre Kinder zu erziehen, sich an neue Orte gewöhnen zu müssen und James Joyce's verschwenderische Vergnügungssucht in erträgliche Bahnen zu lenken. Sie war nie die Intellektuelle, nie eine Diskussionspartnerin für den immer größer werdenden künstlerischen Bekanntenkreis ihres Mannes, aber Nora war stets das starke irische Mädchen, ein Starrkopf mit unerschütterlicher Zuversicht und der kaum beachtete Fels in der Brandung. Dies hier ist ihr Leben.

"Nora Joyce und die Liebe zu den Büchern" tut sich in der deutschen Ausgabe keinen Gefallen - Klappentext, Cover und der blumige Titel suggerieren einen dieser typischen Wohlfühl-Pseudohistorienschinken für gelangweilte Hausfrauen, in denen unrealistisch progressive Protagonistinnen den moralischen und gesellschaftlichen Standards ihrer jeweiligen Zeit mit anachronistisch modernem Charisma trotzen. Das könnte falscher nicht sein, und wahrscheinlich ist das der Grund, warum sich "Nora. A Love Story of Nora and James Joyce" (so der Originaltitel) hierzulande ein bisschen zwischen alle Stühle setzt und eine Zielgruppe bedient, die mit ganz anderen Erwartungen an derartige Lektüre herangeht. Das fordert irritierte Negativbewertungen natürlich geradezu heraus.

Nuala O'Connor ist eine durchaus renommierte und mehrfach ausgezeichnete irische Autorin, und ihre biographische Aufarbeitung des Lebens von Nora Joyce liest sich wie eine unglaublich authentische Eigenerfahrung, die über einen Zeitraum von fast einem halben Jahrhundert eng an ihrer Titelheldin bleibt und dadurch (und durch die selbst in Nebensächlichkeiten oft äußerst detailliert geschilderte tägliche Routine eines harten Lebens) auch problemlos als echte Autobiographie von Nora Joyce persönlich durchginge. Speziell die prallen und unbekümmerten Anfangsjahre des Paares werden in unverblümt direkter Sprache geschildert, die im Volk damals sicherlich ungezwungener war als in den literarischen Salons jener Zeit.

Für den unvorbereiteten Leser, der sich sonst eben mit den oben erwähnten und für eine bestimmte Zielgruppe entworfenen Histoschmökern die Zeit vertreibt, mag der teilweise der Gosse entlehnte Jargon und die sehr geerdete Struktur der Handlung dann doch etwas gewagt und bisweilen gewöhnungsbedürftig erscheinen, doch wer sich ernsthaft darauf einlässt (und idealerweise auch etwas Interesse am Leben und der Zeit von Nora und James Joyce hat), den erwartet die Geschichte einer außergewöhnlichen Beziehung und die atmosphärisch dichte Biographie einer Frau an der Seite eines Giganten zwischen Genie und Wahnsinn. Ein uneingeschränkt empfehlenswertes Buch!

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