Schillerndes Portrait einer starken Frau, ein Fest für die Sinne im tropischen Regenwald und geschäftigen Amsterdam um 1700
Was für ein faszinierender Stoff! Auf den Spuren der emanzipierten Malerin und Naturforscherin Maria Sibylla Merian (*1647 in Frankfurt am Main; † 1717 in Amsterdam) nimmt die Autorin Ruth Kornberger die ...
Was für ein faszinierender Stoff! Auf den Spuren der emanzipierten Malerin und Naturforscherin Maria Sibylla Merian (*1647 in Frankfurt am Main; † 1717 in Amsterdam) nimmt die Autorin Ruth Kornberger die Lesenden mit auf eine Reise voller Freigeist und Sinneseindrücke in den tropischen Regenwald von Südamerika und ins geschäftige Leben von Amsterdam um 1700.
Die Romanbiografie „Frau Merian und die Wunder der Welt“ hebt sich auf erfrischende Weise ab von dem Einerlei der Sagas rund um Familienunternehmen oder die Identitätssuche in der Familiengeschichte, die sich zurzeit auf dem Buchmarkt tummeln. Denn so ungewöhnlich wie das Leben der echten Maria Sibylla Merian war – sie war die erste Frau auf Naturforschungsreise in den Tropen, noch vor Alexander von Humboldt –, so merkenswert ist auch der Inhalt dieses historischen Romans, der sich dicht an der Biografie von Merian orientiert. Hierbei hat die Autorin vorzügliche Recherchearbeit geleistet, sich aber auch einige dichterische Freiheiten bezüglich der Liebesgeschichte genommen, beides tut dem Roman gut.
Handlung und mein Leseerlebnis
Aufbau: Prolog: Surinam 1700. -- Erster Teil: Niederlande, Amsterdam 1691. -- Zweiter Teil: Surinam 1699. -- Dritter Teil: Amsterdam 1702.
Der Roman erzählt die aufregendste Zeit in Maria Merians Leben (im Alter von 38 bis 55 Jahren).
Prolog: Um das Warten auf die Tropen zu verkürzen, steigt die Autorin geschickterweise direkt mit einer schillernden Vorschau-Szene ein, in der ich als Leserin Maria durch den Regenwald von Surinam begleite und die Pracht der Schmetterlinge bestaune, ein Fest für alle Sinne.
Erster Teil: Die Handlung setzt ein, nachdem die 38-jährige Maria ihren Ehemann verlassen und mit ihren beiden Töchtern Unterschlupf in der Gemeinschaft der Labadisten im niederländischen Friesland gefunden hat. Dort verliebt sie sich in den geheimnisvollen Jan de Jong, einen Schmuggler und Freibeuter, der in den nächsten Jahren immer wieder ihren Weg kreuzen und ihr Geliebter werden wird. Um ihren Traum von einer Forschungsreise in die Tropen zu verwirklichen, siedelt Maria einige Jahre später nach Amsterdam über, wo sie den Lebensunterhalt für sich und ihre Töchter als Mallehrerin und mit dem Verkauf ihrer Aquarelle verdient. Als Leserin erlebe ich Amsterdam intensiv und verfolge gespannt den Besuch des russischen Zaren Peter der Große. Wird Maria es schaffen, den Zaren als Sponsor zu gewinnen?
Zweiter Teil: Das Herzstück des Romans ist Marias Aufenthalt in Surinam (niederländische Kolonie in Südamerika), dort lebt sie bei den Labadisten und macht Forschungsexkursionen in den Regenwald. Die Lebensverhältnisse auf den dortigen Zuckerrohrplantagen werden realistisch und eindrücklich beschrieben. Die Autorin bettet die Erkenntnisse der historischen Maria Merian über das ökologische Gleichgewicht und natürliche Schädlingsbekämpfung auf unterhaltsame Weise in die Handlung ein – ebenso Merians Kritik an den profitgierigen Plantagenbesitzern und deren menschenunwürdigem Umgang mit den afrikanischen Sklaven und Indigenen. Als Leserin finde ich hierbei hochaktuelle Bezüge zu Umweltsünden und Ausbeutung der Menschen der dritten Welt durch die Industrienationen.
Dritter Teil: Zurück in Amsterdam. Nach ihrer Reise veröffentlicht Maria Merian ihr Hauptwerk „Metamorphosis insectorum Surinamensium“, das sie als Künstlerin berühmt macht. Die Liebesgeschichte mit Jan de Jong wird zu einem schlüssigen Abschluss geführt, der mich beim Lesen sehr berührt hat.
Erzählweise und Stil des Romans
Kornberger schreibt durchgängig als personale Erzählerin durch die Augen der Protagonistin Maria Merian. Der Wortschatz ist vielfältig, die Sprache modern, nur in den Dialogen werden für den historischen Flair altmodische Formulierungen eingestreut (z. B.: „Eile dich“). Stilistisch: schnörkellos, ohne schwülstige Verzierungen, was zu der geradlinigen Persönlichkeit von Maria passt. Gerade die analytischen Naturbeobachtungen – beschreibend, ohne zu werten – sind das Markenzeichen der echten Merian. Die Autorin verwebt Wissenswertes über damalige Drucktechniken und Malweisen – z. B. Aquarellieren und Merians Erfindung des Abdrucks vom Abdruck – in dynamische Szenen.
Pluspunkte
Eine reife Heldin für Romantik: Ich finde es erfrischend, endlich mal einen Roman zu lesen, in dem auch eine Frau mit Ende 40 ein prickelndes Liebesleben hat. Ein paar Rezensentinnen auf Amazon kritisieren, die Autorin gebe der frei erfundenen Liebesgeschichte zu viel Raum. Ich sehe dies jedoch positiv, denn die Autorin nutzt die Freiräume der Fiktion, um Romantik und Spannung in den Handlungsbogen zu bringen und für die Protagonistin eine Balance zu schaffen zwischen beruflichem Erfolg und privatem Glück. Das macht die Figur anschlussfähig für die heutige Lebenswelt einer Frau, die Beruf, Muttersein und Liebesleben jongliert. Im Roman verfolgt Maria hartnäckig ihren Traum, ist eine clevere Strategin mit kühlem Kopf, aber investiert auch Herzblut und Leidenschaft. Der Roman besticht durch seine sympathische und vielseitige Hauptfigur. Der Freibeuter Jan de Jong ist eine charismatische Figur. Die Anziehungskraft zwischen den beiden ist glaubwürdig. Es gibt einige knisternde Szenen mit erotischen Anbahnungen, die von der Leserin in der Fantasie weiter ausgestaltet werden dürfen. Originell an den Liebesszenen ist, dass sie zu dem künstlerischen und unkonventionellen Naturell von Maria passen.
Die Handlung ist durchgängig fesselnd, wird getragen von der Protagonistin und den reichhaltigen Schauplätzen, die von der Autorin mit vielen gut recherchierten Details (als Amsterdam-Kennerin konnte ich noch Neues erfahren) ausgestattet werden. Kornberger verpackt die Wissensfülle gekonnt szenisch, was ein leichtgängigen Lesevergnügen bewirkt.
Meine Kritikpunkte
Maria Merians beiden Töchter bleiben als Romanfiguren leider beim Lesen (für mich) blass, dabei bietet ihre Biografie Anknüpfungspunkte, denn insbesondere mit der jüngeren Tochter verband Merian eine enge künstlerische Zusammenarbeit. Im Roman wirkt das Verhältnis der Mutter zu ihren Töchtern oft emotional distanziert. Sie ist eine fürsorgliche Erzieherin und berät ihre Älteste besonnen bei deren Eheschließung, aber sie vertraut ihren Töchtern nichts über ihre Liebe zu Jan an. Beim Lesen habe ich mir eine tiefergehende Ausgestaltung der Mutter-Töchter-Beziehungen gewünscht.
Zudem war ich enttäuscht, dass die Indigene Aderi nur durchs Bild huschte. Historisch belegt ist, dass Merian eine pflanzenkundige Indigene aus Surinam mit nach Amsterdam brachte – nicht etwa als Sklavin, sondern als ebenbürtige Expertin und Beraterin bei ihrer Buchveröffentlichung. Ich hätte gerne mehr über Aderi und die Freundschaft der beiden Frauen erfahren.
Fazit
Der Roman entfaltet ein lebendiges und facettenreiches Portrait von Maria Sibylla Merian: Sie ist ganz taffe Strategin und Forscherin, feinsinnige Künstlerin und gleichzeitig ganz feminine und leidenschaftliche Frau. Was an Merians Blick auf die Insektenwelt damals innovativ war – nämlich die Schönheit wertzuschätzen, die biologischen Funktionsweisen zu erforschen und die Balance der Natur zu respektieren – hat heute im Zeitalter der Umweltkrisen mehr Aktualität denn je.