Tolles Setting, schwache Charaktere und unbefriedigendes Ende
Die Welt ist 2100 nicht mehr die gleiche: schwere Naturkatastrophen sorgen für erschwerte Lebensbedingungen. Menschen leben in Städten in sogenannten Sub-Levels. Ganz unten? Das Gesocks. Die Verstoßenen. ...
Die Welt ist 2100 nicht mehr die gleiche: schwere Naturkatastrophen sorgen für erschwerte Lebensbedingungen. Menschen leben in Städten in sogenannten Sub-Levels. Ganz unten? Das Gesocks. Die Verstoßenen. Die, die scheinbar keinem “Hive-Mind” zugeordnet werden können.
Ganz oben? Die Reichen, Schönen und Erfolgreichen. Hier finden sich Konzernbosse, einflussreiche Persönlichkeiten und die hohen Tiere dieser geschundenen Welt.
Dazwischen? Atlas Lawson aka Oracle.
Tagsüber arbeitet sie für den größten Hive-Entwickler als Programmiererin, nachts verdient sie sich als Schmugglerin für Gedanken und Erinnerungen unter dem Decknamen Oracle etwas dazu.
Als auf einen Schlag ein ganzer Hive ausgelöscht wird - eine technische Unmöglichkeit - und ihr ein neuer Klient eine horrende Summe bietet, um den Täter zu schnappen, wird es für Atlas plötzlich sehr heikel…
Willkommen bei “Der dunkle Schwarm”.
Das neuste Werk von Marie Grasshoff hat mich mit gemischten Gefühlen zurückgelassen. Ich versuche sie in gewohnter Manier etwas zu ordnen. Natürlich wird diese Rezension einmal mehr SPOILER enthalten. Wer diese nicht lesen möchte darf gerne zum FAZIT springen!
Fangen wir mit dem Positiven an:
Akt 1: Der Schreibstil
Himmel, kann Marie Grasshoff schreiben! Die Seiten fliegen nur so dahin, Sätze verschmelzen ineinander und werden zu einer Szene hinter deinen Augen! Es gibt keine unnötigen Wanderungen in irgendwelche nebensächlichen Zweige. Alles hat irgendwie mit der Welt und ihren Handlungen zu tun! Man wird von Seite 1 an mitgerissen und nicht mehr losgelassen! Ich habe selten ein Buch gelesen welches so flüssig von der Hand geht, hands down!
Akt 2: Spannungsgrad
Die Geschichte rund um Atlas Ermittlungen ist durchweg spannend. Immer passiert etwas, die Action ist ständig auf dem höchsten Grad und die Ermittlungen reißen nicht ab. Zwischendurch gibt es kurz Phasen in denen der Leser einmal Luft holen darf, bevor es dann direkt weiter geht. Am Ende fast jedes Kapitels wollte ich sofort wissen wie es mit Atlas und Konsorten weiter geht! Der Spannungsbogen baut sich dabei in der ersten Hälfte sachte auf. Man wird an die Gesamtsituation herangeführt bis es in der zweiten Hälfte exponentiell ansteigt!
Akt 3: Das Setting
Machen wir uns nichts vor: Marie Grasshoff hat einfach ein Händchen dafür Welten zu erschaffen in die man als Leser hineingezogen wird. Mit ihrer “Neon Birds” Reihe hat sie es vor gemacht und mit “Der dunkle Schwarm” fortgeführt. Die Welt in der Atlas lebt wird mir als Leser lebendig näher gebracht. Überall passiert etwas. Die Stadt selber und auch gerade das ganze Setting später im äußeren Umkreis mit den Sateliten und dem Dyson Swarm war so atmosphärisch und hat so unfassbar gut zum Gesamtbild gepasst.
Kurz um: “Der dunkle Schwarm” ist spannend, atmosphärisch und geht beim Lesen so gut von der Hand. Doch auch wenn das alles gestimmt und gepasst hat, fand ich mich doch nicht so gut in der Geschichte ein, wie ich Anfangs die Vermutung/Hoffnung hatte.
Akt 4: Das Worldbuilding
Hier möchte ich ein Plus, wie auch ein Minus vorsetzen. Lasst es mich aber bitte erklären:
Die Welt in der “Der dunkle Schwarm” spielt wirkt belebt und auch unfassbar gut durchdacht. Das Problem ist für mich nur, dass ich als Leserin davon nicht wirklich das Maß gesehen habe, was man sich vielleicht gewünscht oder vorgestellt hat. Und das hat ein großes Problem:
Viele Informationen, Erklärungen, Details wurden auf der Instagramseite der Autorin bereits erklärt. Und so wie es scheint, haben es diese “Zusatzinformationen” nicht wirklich mit ins Buch geschafft. Und für mich stellt das als Leserin ein Problem da. Denn es gibt tatsächlich - man mag es glauben - Leser*innen die kein Instagram nutzen und es sich wegen so etwas auch nicht extra holen wollen. Das Buch sollte für sich sprechen und ich als Leser sollte nicht dazu angehalten werden, nach Vorabinformationen oder Erklärungsvideos/-posts der Autorin zu suchen, damit ich die Story zu 100% verstehe.
Ich habe mich beim Lesen oft genug erwischt, wie ich zurück geblättert habe, in dem Glauben etwas überlesen zu haben. In den meisten Fällen habe ich nach minutenlangen Blättern aufgegeben, nur um im Nachhinein zu erfahren, dass ich diese Information nicht dem Buch entnehmen konnte.
Ich habe also nichts von einer so gut durchdachten Welt, wenn ich mir diese Informationen erst anderweitig beschaffen muss - zumal ich erst nach dem Lesen von der Existenz dieser Informationen erfahre.
Akt 5: Die Charaktere
Das wird nun ein wenig schwieriger. Ich gebe mein Bestes.
Die Geschichte hat durchaus interessante Protagonisten.
Das Buch wird prinzipiell aus der Sicht von Atlas/Oracle geschrieben. Wir erleben ihre Sicht der Dinge und begleiten sie durch die Story. Atlas als Protagonistin ist spannend. Sie wird und als eine sehr vorsichtige Person vorgestellt, die sehr verschlossen und egoistisch sein soll. Natürlich nur zu ihrem eigenen Schutz. Diese Charakterzüge empfinde im im Kontext zu der Welt in der sie lebt als absolut nachvollziehbar. Mich hätte es anders sehr gewundert.
Und am Ende war ich dann doch sehr verwundert.
Denn das eine ist es, was Atlas sagt, das andere ist was Atlas getan hat. Es wurde mehr oder weniger künstlich eine Charakterentwicklung vorgegaukelt die so nicht stattgefunden hat. Gerade die übervorsichtige Ader von Atlas kam überhaupt nicht durch. Sie nimmt den Auftrag von Noah an und findet es später dann zu riskant und gefährlich weiter an dem Fall zu ermitteln. Dennoch lässt sie davon nicht ab sondern macht weiter. Sie riskiert ihr eigenes Wohl so selbstverständlich und oft, dass ich mich Frage wo sie denn so “egoistisch” sein soll. Ich habe kein andere Seite von Atlas kennen gelernt als diese.
Dazu kommt noch, dass ich zu ihr im Verlauf der Geschichte keine Bindung aufbauen konnte. Denn auf der einen Seite war sie ganz anders als beschrieben und auf der anderen stand das ganze Buch eine Distanz zwischen ihr und mir, die ich nicht überbrücken konnte. Auch wenn ich ihre Handlungen teilweise nachempfinden konnte, so wirkte sie auf mich einfach unterkühlt und unnahbar - weder positive noch negative Emotionen schimmerten wirklich durch. So wurde auch unter anderem das Finale weniger dramatisch, als es vielleicht sein sollte.
Neben Atlas gibt es dann noch Julien, den ich als einen sehr angenehmen Charakter aufgefasst habe. Julien ist ein Android, welcher Atlas damals, als sie kleiner war, auf der Straße in den unteren Sub-Levels gefunden hat und aufgenommen hatte. Er ist für sie so etwas wie ein Vater und ein Beschützer. Wann immer Atlas in Gefahr schwebte, konnte man sich als Leser sicher sein, dass Julien nicht weit war. Als Android war er auch so etwas wie der Analytiker in der Gruppe. Alle, oder zumindestens die meisten Informationen wanderten durch ihn hindurch. Fluchtwege wurden berechnet, Gefahren analysiert, Strategien ausgearbeitet. Dabei hatte er auch immer das Wohl von Noah und gerade von Atlas immer sehr im Fokus und redete den beiden immer gut zu und auch gerne mal ins Gewissen. Julien zählte wirklich zu meinen Lieblingscharakteren mit seiner ruhigen Art und seiner absoluten Verlässlichkeit.
Dann hätten wir da noch Noah. Noah ist das kleine Naivchen in der Runde. Er weiß von Anfang an nicht wirklich auf was er sich da eingelassen hat. Das merkt er auch sehr schnell. Was ich ihm an dieser Stelle aber wirklich zu gute halten muss, ist sein Durchhaltevermögen! Er lässt sich nicht so leicht abschütteln und redet Atlas immer wieder ins Gewissen. Ist der Plan noch so gefährlich, auf Noah ist verlass und er ist definitiv immer mit dabei. Immer wenn es sich einrichten lässt. Und auch wenn ich sein Durchhaltevermögen wirklich bewundere, so hätte ich mir an der einen oder anderen Stelle ein bisschen weniger Elan gewünscht, denn zeitweise wurde es wirklich anstrengend, wie er von Atlas und Julien immer mitgeschliffen wurde und am Ende dann der war, der unter anderem gerettet werden musste.
Noah war mir aber so weit ganz sympathisch. Die Szenen mit ihm standen in einem schönen Kontrast zu denen alleine mit Atlas und er hat der düsteren Welt mit seinem hoffnungslosen Optimismus.
Und auch soweit funktionieren die drei als Trio wirklich ganz gut. Die Dynamik zwischen ihnen passt und auch die Dialoge sind stimmig!
Akt 6: Der Storyverlauf
“Der dunkle Schwarm” lässt sich eigentlich sehr gut in zwei Hälften aufteilen.
Akt 6.1: Die erste Hälfte
In der ersten Hälfte wird mir als Leser die Welt etwas näher gebracht. Ich lerne die Bedingungen kennen unter denen die Charaktere agieren werden und werde sanft an die Geschichte heran geführt. In diesem Fall war das alles sehr entschleunigt. Die Ermittlungen haben ihren Lauf genommen und es passierte, rückblickend, sogar ziemlich wenig. Für den Einstieg in die Geschichte war das alles aber sehr gut!
Man wurde “sanft” an alles heran geführt und hatte die Chance die Charaktere in Ruhe kennen zu lernen. Die Einstiegsszene zählt für mich sogar zu einem meiner Lieblingseinstiege, da man zwar direkt in die Action geworfen, aber nicht sofort überrannt wird. Dennoch wird es, gerade zum Ende der ersten Hälfte hin, etwas dröge. Klar, es passiert noch immer etwas und wir sind auch noch Teil der Ermittlungen, dennoch merkt man deutlich wie das Tempo nachlässt. Ich würde es ja gerne “die Ruhe vor dem Sturm” nennen, aber das wäre noch untertrieben…
Akt 6.2. Die zweite Hälfte
Die zweite Hälfte ist wohl das, was meine Meinung dann doch noch umgestoßen hat.
Erinnert ihr euch noch an die Sternchen aus “Akt 2”? Um die geht es jetzt.
Denn nachdem es in der ersten Hälfte immer ruhiger wird, wird alle Action die erst gefehlt hat nun hier reingequetscht. Und das meine ich wirklich so wie es hier steht. Es passiert so unfassbar viel in so unfassbar kurzer Zeit, dass ich zwischenzeitlich nicht wusste wo ich mich nun befinde, wer nun involviert war und worum es überhaupt ging.
Das war in einem Kapitel besonders schlimm:
in der einen Sekunde waren wir noch auf dem Satelliten (?) mit Julien, Noah und Atlas, dann wurden sie überwältigt und bewusstlos geschlagen, Atlas erwachte in einem Verhörraum (?) und wurde von einem Androiden von dem wir davor nie was gehört haben und danach auch nie wieder hören werden, an einem Ort den wir nicht deuten können für 10 Minuten verhört, bevor auch dieser Raum von der Polizei gestürmt wurde. Atlas wurde halb eskortiert, halb gezerrt, landete dann bei der Polizei, nur um dann in einer weiteren chaotischen Rettungsaktion da raus geholt zu werden nur um dann daheim auf den nächsten Schock zu treffen.
Wirklich Zeit zum verarbeiten von dem was da passiert ist wird uns nicht gegeben. Action folgt auf Action. Es werden Charaktere am laufenden Band vorgestellt, Namen fallen, ohne das man einen wirklichen Zusammenhang aufbauen konnte. Gegen Ende haben wir zwei Charaktere von denen ich nichts weiter als den Namen hatte.
Und Atlas selber wirkt auch auf einmal übermächtig. Klar merkt man ihr an, dass sie Anstrengungen hat sich auf gewisse Sachen zu konzentrieren, dennoch scheint ihr alles von der Hand zu gehen und nichts ist unmöglich geworden. Auch wirkt der Fakt, dass sie sich in einen- nein DEN- Supercomputer der Menschheit gehackt hat nicht so, als würde sie irgendwelche Konsequenzen davontragen. Jedenfalls hat es innerhalb des Buches keine.
An sich gibt es in der zweiten Hälfte von allem zu viel, außer von einer Sache:
Erklärungen.
Die Welt. Atlas Fähigkeiten und Handlungen. Alles wirkt nicht ganz rund, teilweise zu einfach und überzeugte mich nicht zu 100%. Kurz um: too much.
Was es für mich dann doch ganz gekillt hat war das Ende.
Akt 7: Das Finale
Als Leser ist man es gewohnt, dass Autoren gerne mal Leserlieblinge töten. Das macht die Geschichte spannend und sorgt für Wendungen.
Aber dieses Ende hat den Plottwist - die Vergangenheit von Atlas - komplett in den Schatten gestellt. Denn nicht nur wird ein Leserliebling einfach nur getötet, sondern das auch noch auf die unbefriedigendste Art und Weise.
Achtung: Heavy Spoiler Ahead!
Während ihrer finalen Aktion brechen sie einmal mehr in den Hypermind-Computer ein und werden dabei von Syndikats Mitgliedern verfolgt. Während also Atlas dort im Raum hockt und sich in den Suptercomputer hackt verliert sie das Bewusstsein. Als sie erwacht sind alle um sie herum Tod. Warum ausgerechnet sie nicht erschossen wurde, wo es doch anscheinend jeden anderen getroffen hat ignorieren wir an dieser Stelle einfach mal. Auf jeden fall hat es Noah erwischt. Er liegt im sterben und es gibt eigentlich keine Hoffnung mehr für ihn.
Was macht Atlas also? Richtig, sie löscht Julien und kopiert Noahs Bewusstsein in das von Julien rüber.
Dazu ein paar Fragen:
Konnte sie das schon immer? Denn es wirkt nicht so, als wäre das für sie etwas schwieriges gewesen. Es wirkte sogar ziemlich leicht.
Wäre es nicht möglich gewesen einen anderen Androiden, der auf diesem Satelieten(?) war her zu holen und ihn einfach da rein zu kopieren?
Oder Noahs Bewusstsein einfach irgendwo zwischenzuspeichern? Riesige Mengen an Daten zu transferieren scheint ja jetzt nicht wirklich Atlas schwäche zu sein?
Und zu guter letzt: Wie kommt man bitte auf die glorreiche Idee seinen eigenen Vater (denn das ist es, was Julien für Atlas gewesen ist) umzubringen, für einen Kerl den man wie lange kannte? Wenige Tage?!
Atlas hat anscheinend Gefühle für Noah entwickelt - was man aufgrund ihrer emotionalen Distanz dem Leser und den anderen Charakteren nicht wirklich fühlen kann. Es macht dieses ganze Finale bloß absolut nicht besser und rechtfertigt es in meinen Augen auch nicht, dass Bewusstsein eines Menschen durch das eines anderen zu ersetzen- welcher dem nicht einmal ausdrücklich zugestimmt hat.
Dementsprechend hat Atlas nicht nur Julien getötet sondern auch Noahs Leben künstlich verlängert. Einfach so.
Fazit:
“Der Dunkle Schwarm” macht in meinen Augen sehr vieles richtig, aber auch sehr vieles falsch. Während der Anfang einen gut in die Story reinführt und in der Mitte die Geschichte etwas an Fahrt verliert ist es zum Ende hin einfach alles over the Top. Dazu wurde ich mit den Charakteren nicht so warm wie ich es mir gewünscht hätte und zum Ende hin wurden zu viele Fragen ungeklärt gelassen. Alles in allem eine sehr solide Sci-Fi-Geschichte, die in meinen Augen aber definitiv mehr Schliff gebraucht hätte.
Damit kriegt “Der dunkle Schwarm” von mir 5 von 10 möglichen Sternen und eine Leseempfehlung für alle die gerne ein bisschen Sci-Fi für zwischendurch haben wollen.