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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 06.08.2021

Klug und spannend, doch nichts für Zartbesaitete

Wild Card
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Nach seiner Flucht vor 15 Jahren kehrt der Ich-Erzähler Weston Kogi aus London in sein westafrikanisches Heimatland Alcacia zurück, denn seine Tante ist gestorben. Nicht nur das Klima schlägt ihm heiß ...

Nach seiner Flucht vor 15 Jahren kehrt der Ich-Erzähler Weston Kogi aus London in sein westafrikanisches Heimatland Alcacia zurück, denn seine Tante ist gestorben. Nicht nur das Klima schlägt ihm heiß und feindlich entgegen. Ihn nervt dieses Land, in das man sich schon am Flughafen seinen Weg freikaufen muss, der Überlebenskampf in den staubigen Straßen, das Elend, die allgegenwärtige Gewalt. Er will schnell wieder weg, und ich als Lesende wollte das unbedingt auch.
Schon zu Beginn des Romans stürzt Tade Thompson sein Publikum so eloquent wie brachial aus der Komfortzone. Doch der subtile Humor, der dann während der Beerdigung anklingt, hat mich bleiben und neugierig werden lassen.

Dort trifft Weston, der sich in London als Wachmann durchschlägt, auf seinen einstigen Highschool-Widersacher Church, dem er weismacht, er arbeite als Detective bei der Metropolitan Police. Dumm gelaufen, denn noch bevor er Rückflug sagen kann, findet er sich zwischen den Fronten zweier Guerillatruppen wieder, die ihn beauftragen, den Mord an einem Konsenspolitiker aufzuklären bzw der jeweils anderen Seite in die Schuhe zu schieben.
Die Wild Card ist damit zugestellt, eine Flucht unmöglich, das Honorar berauschend hoch. Und außerdem ist da noch seine schöne Ex-Freundin Nana...

Was dann folgt, ist spannend, vielschichtig, authentisch und wendungsreich erzählt, doch nichts für Zartbesaitete. Obwohl Thompson klug reflektiert, tief schürft und Themen wie das koloniale Erbe, Rassismus und Korruption behandelt, lassen brutales Kidnapping, bluttriefende Morde, unverblümte Gewaltschilderungen einen nur schwer Atem holen.
Dafür wiederum sorgen geistreiche Dialoge und der selbstironische Erzählton unseres sympathischen Antihelden. Der muss einiges ertragen, bevor die alten Überlebensinstinkte in ihm erwachen und er recht clever beginnt, die Fäden in die Hand zu nehmen. Wird es ihm gelingen, den Fall aufzuklären und seine Peiniger gegeneinander auszuspielen? Und wer wird er selbst am Ende sein?
Dieses lässt Raum für eine Fortsetzung, doch ob ich ein zweites Ticket nach Alcacia löse, ist noch unklar.

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Veröffentlicht am 05.11.2022

Wichtiges Thema, mäßig umgesetzt

Tote ohne Namen
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Im südkalifornischen San Diego werden zwei übel zugerichtete Mädchenleichen entdeckt. Die Polizei geht von Zwangsprostitution und Menschenhandel aus und zieht die hartgesottene Privatdetektivin Alice ...


Im südkalifornischen San Diego werden zwei übel zugerichtete Mädchenleichen entdeckt. Die Polizei geht von Zwangsprostitution und Menschenhandel aus und zieht die hartgesottene Privatdetektivin Alice Vega hinzu, weil eines der Mädchen einen Zettel mit deren Namen umklammert hält. Schnell kommt die clevere Ermittlerin dahinter, dass es noch mindestens vier weitere Opfer geben muss, die es rechtzeitig zu finden gilt...Mit dem sensiblen Ex-Polizisten Max Caplan, den Vega aus einem früheren Fall kennt, ist das Team perfekt.
Ein ergreifender Einstieg, ein erschütternder Stoff, das ungleiche Duo - kein neues Setting, aber doch eines, das einen soliden Thriller verspricht. Vor allem, wenn schon das Cover die "knisternde Spannung" und "atemberaubende Lektüre" feiert. Doch leider wird das Versprechen nicht gehalten.
Die Handlung versandet schnell in kleinschrittiger Ermittlungsarbeit, die Protagonisten bleiben seltsam holzschnittartig, ihre Charaktere in Andeutungen gehüllt, die auch später nicht aufgelöst werden. Richtig schwierig wird das, als der Roman im letzten Drittel endlich Fahrt aufnimmt und mit der Spannung auch die Ungereimtheiten zunehmen. Planloser Haudrauf-Aktionismus, emotionale Ausbrüche, die eher auf Distanz gehen lassen, bis hin zum Dauereinsatz des Bolzenschneiders, mit dem sich die anfänglich so scharfsinnige Alice Vega zum Ende durchprügelt. Dieses kommt dann recht unvermittelt daher und hat mich so wenig überzeugt wie der Umgang mit dem Stoff selbst. Das Thema Mädchenhandel wird oberflächlich - als Einzelfall - abgehandelt und dient der Geschichte lediglich als Aufhänger.
Auch sprachlich bewegt sich der Roman oft außerhalb des Thriller-Registers. All die abgebrühten Kerle, vom Cop bis zum Kartellboss, "sausen", "flitzen" oder „kichern“ nur so durch die Handlung.-
Der Suhrkamp-Verlag steigt hier mit dem zweiten Vega-Band der New Yorker Autorin Louisa Luna in die Reihe ein. Ob das Unbehagen beim Lesen daraus resultiert, dass man etwas verpasst zu haben glaubt? Ich fürchte, ich werde auch bei Gelegenheit das Versäumte nicht nachholen. ⭐️⭐️⭐️/5









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Veröffentlicht am 01.09.2022

Auf Distanz geblieben

Intimitäten
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Eine junge Frau kommt aus New York als Dolmetscherin an den Internationalen Gerichtshof in Den Haag, um schließlich in einem Prozess gegen einen westafrikanischen Kriegsverbrecher eingesetzt ...

Eine junge Frau kommt aus New York als Dolmetscherin an den Internationalen Gerichtshof in Den Haag, um schließlich in einem Prozess gegen einen westafrikanischen Kriegsverbrecher eingesetzt zu werden. Kurz nach ihrer Ankunft lernt sie den Niederländer Adriaan kennen, mit dem sie eine vielfach ungeklärte Beziehung verbindet. Eines Tages verschwindet dieser zu seiner Exfrau nach Lissabon, angeblich, um sie um die Scheidung zu bitten, und lässt nichts mehr von sich hören. Die heimatlose Heldin droht den Boden unter ihren Füßen zu verlieren…

Um es vorweg zu nehmen: so ganz überzeugt hat mich dieser Roman nicht.
Alle Passagen, die sich um die Geschehnisse am Gerichtshof drehen, fand ich absolut fesselnd. Was macht es mit den Dolmetschern, wenn sie, den Opfern ihre Sprache leihend, in der Ich-Form furchtbare Gräueltaten bezeugen müssen? Wie lässt sich die ungewollte Intimität vermeiden, die entsteht, wenn man einem Verbrecher ins Ohr flüstern muss? Messerscharf lässt Kitamura ihr Hauptfigur Auftritt, Sprache und Gebaren aller Beteiligten analysieren, in der Wortwahl subtil, präzise und zurückgenommen. Überhaupt zeichnet sich der Roman durch eine hohe sprachliche Qualität aus; es ist wirkliche Literatur, die Übersetzerin Kathrin Razum ebenso perfekt kühl-verhalten ins Deutsche übertragen hat.

Ein eigentlich hochspannender Plot um das Thema Nähe, der im Gesamtwerk für mich dennoch nicht wirklich funktionierte. Das lag vor allem daran, dass ich weder mit der Protagonistin noch einer anderen Person je warm wurde.
Eine zutiefst einsame Ich -Erzählerin, die scharf beobachtet, und alles, was sie wahrnimmt - sich selbst und alle um sie herum - präzise analysiert, hinterfragt und durchaus klug reflektiert, stets begleitet von einer gewissen Bitterkeit. Es gibt keine Reaktion, die sie ratlos zurückließe, keine Stimmung, die sie nicht wahrnähme oder nicht interpretieren könnte, doch das rettet sie irgendwie nicht, denn sie lässt sich treiben und verharrt in Unschlüssigkeit, in purer Duldung. Ihre Liebesbeziehung wird nie so innig geschildert, dass es die Verzweiflung erklären könnte, die sich nach Adriaans Verschwinden und dem monatelangen Schweigen plötzlich breitmacht.
Es macht sie auch nicht sympathischer, wie sie alle(s) in Frage stellt, entlarvt und doch mit sich selbst nicht weiterkommt und bis zum Ende in vieler Hinsicht anonym bleibt, als Persönlichkeit nicht fassbar wird. Das liegt vielleicht auch daran, dass es wenige Informationen über ihr Leben vor dem Einsetzen der Romanhandlung gibt, wie beispielsweise die etwas ruhelose Kindheit, die aber nicht allein Grund für ihre innere Isolation sein kann. Auch die Arbeit am Gerichtshof verbindet sich nicht schlüssig mit ihrem Privatleben, detailliert geschilderte Episoden laufen ins Leere, als gäbe es zwei parallel verlaufende Erzählstränge.
Die beiden Entscheidungen am Ende des Buches, eine die Arbeit am Gerichtshof betreffend, die zweite ihre Beziehung zu Adriaan, trifft sie weniger aus einer inneren Stärke heraus als vielmehr der Umstände halber.
Und auch wenn der Roman nicht zu meinen Lieblingsbüchern zählen wird, so ist er als Hörbuch doch perfekt eingelesen. Katja Danowski versteht es meisterhaft, die melancholische Grundstimmung und die Verlorenheit ihrer Hauptfigur einzufangen, die sich eigentlich nur eines sehnlichst wünscht: irgendwo zu Hause zu sein.


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Veröffentlicht am 30.11.2021

Fundiert recherchiert mit Längen

Die Tränen der Welt
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Im Barcelona des Jahres 1901 geraten der aufstrebende Maler und Keramiker Dalmau Sala, seine Schwester Montsserat und seine große Liebe Emma in die Straßenkämpfe der beginnenden Revolution. Dann geschieht ...

Im Barcelona des Jahres 1901 geraten der aufstrebende Maler und Keramiker Dalmau Sala, seine Schwester Montsserat und seine große Liebe Emma in die Straßenkämpfe der beginnenden Revolution. Dann geschieht ein Unglück, und das Leben aller gerät aus den Fugen…
Eigentlich bin ich keine Liebhaberin historischer Schmöker, aber das Barcelona des beginnenden 20. Jahrhunderts und das Zeitalter des Modernisme als Setting haben mich sehr gereizt. Und tatsächlich liegt für mich, um das vorwegzunehmen, hier auch die große Stärke des Romans. Detailreiche, präzise und zugleich bildgewaltige Milieuschilderungen lassen nicht nur die legendären Bauwerke der bis heute das Stadtbild prägenden Architekten quasi vor unseren Augen entstehen.
Ildefonso Falcones, spätestens berühmt geworden mit „Die Kathedrale des Meeres“, schafft es ebenso eindringlich, uns das harte Leben der Arbeiterklasse und deren revolutionäres Aufbegehren vor Augen zu führen. Eine Szene, die ich für literarisch besonders gelungen halte, hat sich fest in mein Gedächtnis gebrannt, obwohl ich sie bereits vor längerer Zeit gelesen habe: In elitärem Kreise werden u.a. Dalmaus Zeichnungen des Straßenmädchens Maravillas und ihrer Gefährten ausgestellt. Der Autor lässt dabei vor Dalmaus innerem Auge das Bild der zerlumpten Kinder erstehen, während er sich die für damalige Verhältnisse unerhörtesten kulinarischen Köstlichkeiten des Künstlerempfangs im Munde zergehen lässt. Während die Sektperlen auf der Zunge zerplatzen, steht zugleich der Gestank der Gosse im Raum. Je klarer sich die Konturen der gesellschaftlichen Spaltung abzeichnen, um so nachdrücklicher wächst eine kalte Wut heran, gleichermaßen unter den Protagonisten wie den Lesenden. Dass Letztere emotional erreicht werden, steht außer Frage. Dennoch schlägt die Liebesgeschichte zwischen Emma und Dalmau für meinen Geschmack einige Volten zu viel. Auch die Zeichnung der Charaktere gerät mitunter etwas holzschnittartig. Nicht alle Handlungen, Gedanken und Gefühle der Protagonisten waren für mich nachvollziehbar, obgleich sie in überschaubarer Zahl gehalten sind und viel Raum für eine schlüssige Entwicklung gegeben ist. So wird dem intriganten Straßenmädchen Maravillas deutlich mehr Macht verliehen als glaubhaft wäre. Über ihren Hintergrund, ihr Leben außerhalb der sichtbaren Ränkespiele, erfahren wir dagegen so gut wie nichts.
Nach etwa der Hälfte der Lektüre bin ich aufs Hörbuch umgestiegen, und ich hatte den Eindruck, dass einige stilistische Schnitzer, die dem Lektorat der Buchfassung entgangen sind, hier geglättet wurden.
Für Liebhaber solide recherchierter historischer Romane mit opulenter Ausstattung ist das Buch sicher ein guter Griff.
Ich bin offenbar nur eine Liebhaberin Barcelonas und lasse den nächsten Falcones vermutlich liegen.



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