Ein anrührendes Stück Zeitgeschichte
Sam (Samuel) ist ein glückliches Kind, lebt mit seinen Eltern Jack (Jean-Luc) und Charlie (Charlotte) in den USA, als eines Morgens sein Vater abgeholt wird. Kindesentführung wird ihm zur Last gelegt. ...
Sam (Samuel) ist ein glückliches Kind, lebt mit seinen Eltern Jack (Jean-Luc) und Charlie (Charlotte) in den USA, als eines Morgens sein Vater abgeholt wird. Kindesentführung wird ihm zur Last gelegt. Damals, 1944 in Frankreich was er, Jean-Luc, Gleisarbeiter und musste die Judentransporte mit ansehen. Eine Frau mit Baby kam auf ihn zu, sie hatte nur noch wenig Zeit, wurde weitergepeitscht: „Wer sind Sie? Sie sind kein Gefangener… Bitte nehmen Sie mein Baby mit! Sein Name ist Samuel.“
Um das Schicksal des 9jährigen Samuel rankt sich dieses so emotionale Buch. Wir durchleben seine Geburt, das kurze Babyglück von Sarah und David, Sams leibliche Eltern und die schwerste Entscheidung, die sie zum Wohle ihres Kindes treffen mussten, ihn in die Obhut eines Fremden zu geben und darauf zu vertrauen, das Richtige getan zu haben. Dann die gefährliche Flucht von Jean-Luc und Charlotte mit Samuel, ihr Angekommen-sein in Santa Cruz, bis die Behörden tätig werden, um Jean-Luc anzuklagen. Und Sarah und David in Frankreich, grad mal so dem KZ entkommen, hatten währenddessen nichts unversucht gelassen, ihren Sohn wiederzufinden.
Aus Sicht der Zieheltern, die Sam als seine wirklichen Eltern ansieht, mit ihnen glücklich ist und aus der Perspektive seiner leiblichen Eltern Sarah und David sieht sich der Leser mit der Tatsache konfrontiert, dass nicht immer das Wohl des Kindes berücksichtigt wird. Verständlich sind beide Seiten, nur sollte Sam im Vordergrund stehen, vorher überlegt werden, wie schnell eine Kinderseele kaputt gemacht werden kann.
Mich hat Sams Geschichte sehr mitgenommen, so viel Leid wäre ihm und auch allen Beteiligten erspart geblieben, wenn die Erwachsenen nicht nur sich gesehen hätten, ihren Willen um jeden Preis durchsetzen wollten. In der ersten Hälfte lernen wir Sam und sein Umfeld in Santa Cruz kennen, er ist ein zufriedener Junge, der seine Eltern liebt, Freunde hat, gut zurechtkommt. Später dann sind wir mehr bei Sarah in Paris, deren unstillbare Sehnsucht nach ihrem Kind durchaus nachvollziehbar ist.
Wie hätte ich gehandelt? Wessen Standpunkt ist nachvollziehbar, wie sollte man umgehen mit dieser so schwierigen, schier ausweglosen Situation? Das Wohl des Kindes darf nicht zugunsten eigener Sehnsüchte geopfert werden - was ist richtig, was falsch? Ist das, was rechtens ist, auch moralisch vertretbar? Dazu kommt die Judenfrage, die im Jahre 1944 alles überschattet. Und – kann und darf ein 9jähriger selber entscheiden, wo er leben möchte?
Behutsam und sehr anrührend beschreibt die Autorin Samuels Weg. Bald war ich so tief drin im Geschehen, dem ich mich das ganze Buch über nicht mehr entziehen konnte. War in Paris 1944 bei den Gleisarbeitern, die genau wussten, wohin all diese überfüllten Güterzüge führten, das unendliche Leid der halb verhungerten Juden im Konzentrationslager, die Flucht über die Pyrenäen – all dies war so authentisch geschildert, so überzeugend dargelegt, als ob man als Leser direkt dabei wäre.
Die Charaktere haben mich beeindruckt, andere mich wütend gemacht. Sie waren glaubwürdig, hatten Ecken und Kanten, waren ungerecht und selbstherrlich, aber auch sehr human und selbstlos. Eine schicksalhafte Geschichte, die aufwühlt, die mitreißt. Das Leben ist nicht immer so, wie man es wünscht, es nimmt zuweilen unangenehme Abzweigungen und manches Mal möchte man ob des als ungerecht empfundenen Schicksals verzweifeln.
Ich bin sehr angetan von der Erzählkunst Ruth Durants. „Ein neue Morgen für Samuel“ ist mitreißend erzählt, ein erschütterndes und zugleich anrührendes Stück Zeitgeschichte. Gerne empfehle ich dieses Buch weiter.