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Veröffentlicht am 01.09.2021

Gefangen auf dem Todesschiff

Der Tod und das dunkle Meer
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Wann immer man ein Buch, eine Geschichte oder wohl auch nur irgendetwas Geschriebenes von Stuart Turton in die Finger bekommt, kann man sich sicher sein, etwas Spannendes, Fiktiv-phantastisches und definitiv ...

Wann immer man ein Buch, eine Geschichte oder wohl auch nur irgendetwas Geschriebenes von Stuart Turton in die Finger bekommt, kann man sich sicher sein, etwas Spannendes, Fiktiv-phantastisches und definitiv Einzigartiges zu lesen.

Seine beiden großen Romane (“Die sieben Tode der Evelyn Hardcastle” 2019), je mit mehr als 600 Seiten, lassen sich nie eindeutig in ein Genre pressen, sie changieren zwischen mehreren und sind doch ganz eigen.

Mit “Der Tod und das dunkle Meer” begeben wir uns in die Vergangenheit, in eine Zeit, als die Niederlande den Welthandel über die Schifffahrt fest im Griff hatte. 1634 kamen Güter aus fernen Ländern über gefährliche, monatelange Seerouten nach Amsterdam. Die Besitzer der Ostindien-Kompanie zählten sich wohl zurecht zu den reichsten Menschen der Welt.

Das Schiff “Saardam” macht sich auf den Weg von Batavia in die niederländische Hauptstadt. An Bord sind neben wertvollem und mysteriösem Frachtgut sowie Soldaten und Schiffspersonal auch einige ganz besondere Passagiere: Samuel Pipps und Arent Hayes (ein Detektiv und sein Beschützer) sowie der Generalgouverneur der Kompanie, Jan Haan, samt Frau, Geliebter, Tochter, Kammerherr und Leibwache.

Dass die Reise alles andere als plangemäß und friedlich verlaufen wird, ist schon ab Kapitel 1 klar und bald geschehen an Bord merkwürdige Dinge. Die Anwesenden hören Stimmen, finden grausige Zeichen und die Stimmung schlägt um. Können die Passagiere herausfinden, wer dafür verantwortlich ist bevor Menschen oder Schiff zu Schaden kommen?

Damit alle Details und Wendungen sowie Charaktere und die Atmosphäres der Geschichte stimmig sind - so wie Stuart Turton sie plant - mussten ein paar historische Fehler und Ungenauigkeiten in Kauf genommen werden (so erklärt sich der Autor selbst im Buch). Wer einfach nur die Spannung genießt und sich selbst nicht wahnsinnig genau mit der damaligen Epoche auseinandersetzt, dem wird so etwas entweder nicht auffallen oder wenn, dann nicht allzu negativ.

Die Arbeit und Recherche die in jedem Fall hinter den so speziellen Charakteren und dem gesamten Setting steckt, muss enorm gewesen sein. Aufgrund der vielen Namen (es gibt eine Übersicht zu Beginn des Buches) und der ungewohnten Umgebung (der Großteil der Geschichte spielt auf dem Schiff der Kompanie) braucht man ein wenig um gut in die Handlung hineinzukommen.

Es ist wie immer bei Stuart Turton: Man lässt sich von der abenteuerliche Handlung mitreißen, rätselt und bangt, vermutet und hofft - und kann sich doch nicht (obwohl man manchmal ein bisschen mehr weiß als die Protagonisten) auf die Wendungen und Überraschungen vorbereiten, die einen hinterrücks überfallen.

Veröffentlicht am 25.08.2021

Kriminell ehrlich

Harlem Shuffle
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“Wo hast du dich da hineinmanövriert, Raymond?” Niemand nennt Ray Carney bei seinem vollen Namen, außer seine überkritischen, gut situierten Schwiegereltern. Als Leser möchte man das auch manchmal, um ...

“Wo hast du dich da hineinmanövriert, Raymond?” Niemand nennt Ray Carney bei seinem vollen Namen, außer seine überkritischen, gut situierten Schwiegereltern. Als Leser möchte man das auch manchmal, um Ray darauf aufmerksam zu machen, dass seine Taten böse Konsequenzen haben könnten.

Ray, Besitzer eines Möbelgeschäfts im New York der Sechzigerjahre, hat Ehrgeiz und sein Herz am rechten Fleck. Doch er kann auch nicht komplett aus seiner Haut und der Situation, die sein Viertel, seine Stadt und sein Land bis heute prägt. Für die meisten Weißen und viele besser gestellte Afroamerikaner ist er nur der Möbelhändler. Und die Tatsache dass sein Laden gut läuft, hängt ohnehin nur damit zusammen, dass er krummer Dinger dreht.

Die Geschichte seines Vaters Michael und seines Cousins Freddie, beide nicht immer ganz legal unterwegs, zusammen mit den tief verwurzelten Vorurteilen und Rassenproblemen, drängt ihr letztlich ebenso langsam und schleichend in ein Eck, in dem er sich früher nie gesehen hätte. Die ehrliche und die kriminelle Seite teilen sich fortan ihren Platz in Ray Carney und je nach Tagesform geht er mal besser und mal schlechter damit um.

1964 erlebt der fiktive Ray den nur allzu realen Aufstand in Harlem mit. Als Reaktion auf den Tod des Afroamerikanischen Jugendlichen James Powell, der von einem weißen Polizisten erschossen wird, demonstrieren hunderte Menschen über mehrere Tage. Gauner und Plünderer nützen die allgemeine Empörung auch für Sachbeschädigungen und Schlimmeres.

“Harlem Shuffle” als “Nachhilfe in Sachen ‘Black lives matter’” zu bezeichnen, wäre etwas zu plakativ gesagt, aber viele der historischen Tatsachen aus dem Roman haben immer noch Gültigkeit, noch viel Bedeutung und sind noch immer noch gelöst. Um zu verstehen, warum ein Land oder eine Stadt so ist wie sie ist, muss man sich mit der Vergangenheit beschäftigen.

Colson Whitehead schafft es mit seinem prägnanten Stil, die “Geschichtsstunde” und vieles mehr in eine spannende, historisch realistische Geschichte zu verpacken und ohne den mahnenden Fingen haben zu müssen, führt er uns an den Kern des Problems und zeigt, wie sehr wir letztlich alle von unserer Umwelt mitbestimmt werden. Damals wie heute. In Europa, Asien oder Amerika. Unabhängig von Religion oder Hautfarbe.

Veröffentlicht am 18.08.2021

Killer mit Skrupel und Herz

Das Vermächtnis der Orphans
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Amerikas sympathischster Ex-Profikiller ist wieder in Los Angeles unterwegs. Evan Smoak ist Mitte dreißig, Wodka-Connaisseur, und wurde als Kind für das geheime Orphan-Projekt rekrutiert und ausgebildet. ...

Amerikas sympathischster Ex-Profikiller ist wieder in Los Angeles unterwegs. Evan Smoak ist Mitte dreißig, Wodka-Connaisseur, und wurde als Kind für das geheime Orphan-Projekt rekrutiert und ausgebildet. Er kann mit allerhand Waffen umgehen, muss sich um Geld keine Sorgen machen und tötete früher auf Befehl seines Landes.

Doch damit hat er abgeschlossen und setzt seine Fähigkeiten umsonst für Arme und Schwache ein und hilft ihnen actionreich und munitionslastig aus der Patsche. Er hat so seine Probleme mit dem normalen Alltagsleben, da er ja seine wahre Identität immer geheimhalten muss.

Aber Evan hat ein gutes Herz und tatsächlich Skrupel, wenn Unbeteiligte zu Schaden kommen. In “Das Vermächtnis der Orphans” hilft er Max, dessen Cousin in gefährliche Geschäfte verwickelt ist und ihn da hineingezogen hat.

Mithilfe seiner wenigen aber effektiven Kontakte taucht Evan in die Welt derer ab, die hinter Max her sind, analysiert seine Gegner und ist dank seiner meistens optimalen Vorbereitung und Kreativität den Widersachern überlegen.

Für seine sehr erfolgreiche Serie bringt Gregg Hurwitz enormes Detailwissen in vielen Bereichen aufs Papier. Rechtliches Wissen, aber auch alles rund um die spezialisierte Ausrüstung die Evan benutzt sowie Nahkampftechniken, PC- und IT-Spezialkenntnisse, Hackervorgänge und vieles mehr destilliert er wieder einmal zu einem kompakten, fesselnden Thriller.

Die Bücher sind natürlich unabhängig lesbar, der volle (Wodka-) Genuss entfaltet sich aber auf jeden Fall, wenn man sie alle kennt. Wem das zu viel ist, sei aber empfohlen, Band 1 (Orphan X) zuerst zu lesen oder auch nach dem aktuellen - für mehr Hintergrundinformation zu Evan und warum er gerade dort ist wo er ist.



Die Reihe um Evan Smoak:

Orphan X
Projekt Orphan
Rache der Orphans
Die Spur der Orphans
Das Vermächtnis der Orphans

Veröffentlicht am 11.08.2021

Hinter den Taten

In allen Punkten
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Dieses Buch, das 30 Fälle und mehr als ebenso viele Schicksale umfasst, gibt einen Einblick in die Arbeit eines Strafrichters. Der Grazer Helmut Wlasak hat ganz unterschiedliche Beispiele gewählt. Egal, ...

Dieses Buch, das 30 Fälle und mehr als ebenso viele Schicksale umfasst, gibt einen Einblick in die Arbeit eines Strafrichters. Der Grazer Helmut Wlasak hat ganz unterschiedliche Beispiele gewählt. Egal, ob es eine Affekttat einer vollkommen unbescholtenen Person oder organisierter Schmuggel ist, seine täglichen Erlebnisse zeigen ganz gut, dass vor Gericht nicht ausschließlich die “Monster” oder die “Ausländer” sitzen. Es kann - unter bestimmten Umständen - jeden treffen.

Natürlich wiegen nicht alle Taten gleich schwer, dennoch gebührt jeder Person Respekt. Bisweilen werden Geduld und Lachmuskeln erheblich strapaziert und es gibt auch gefährlichere Tage vor Gericht.

Auf die Konsequenzen geht Wlasak nicht immer ganz genau ein, im Fokus stehen vielmehr die Lebensgeschichte der Angeklagten und die Umstände, die zu ihren Taten geführt haben. Manche Episoden sind witzig, aber nie wird jemand bloßgestellt.

Der vor allem zu Beginn etwas “sprödere” Erzählstil nimmt den lustigen, traurigen oder schockierenden Ereignissen ein wenig die Schärfe und lässt dem Leser den Blick auf das Wesentliche offen: die Menschen hinter den Tätern.

Veröffentlicht am 07.08.2021

Entführung auf Distanz

Eskalation
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Was für ein Pageturner! Die originelle Grundidee und die vielen sehr kurzen Kapitel mit Uhrzeitangaben lassen die 315 Seiten nur so vorbeifliegen. Der Thriller entwickelt sich dadurch fast in Echtzeit, ...

Was für ein Pageturner! Die originelle Grundidee und die vielen sehr kurzen Kapitel mit Uhrzeitangaben lassen die 315 Seiten nur so vorbeifliegen. Der Thriller entwickelt sich dadurch fast in Echtzeit, man springt zwischen Opfer, Täter, Polizei und anderen involvierten Personen schnell hin und her.

Die Handlung spielt in einem Zeitraum von rund dreieinhalb Tagen irgendwo in Deutschland an der A1 (einziger Hinweis dazu: die Herrencreme). Der Ort selbst ist aber nicht wichtig, die Verbrechen könnten beinahe überall so stattfinden.

Viele kleinere Firmen und Selbstständige werben auch heute noch (prä-Internet war das noch wichtiger) auf ihren Autos mit ihrem Logo und einer Kontaktmöglichkeit. Heutzutage kann man da eine Web- oder Mailadresse oder social media angeben, früher blieb nur die Telefonnummer.

Das Firmentelefon ist dann natürlich idealerweise auch immer im Auto mit, damit potenzielle Kunden gleich jemanden erreichen. Und man ist dann auch sehr verleitet, immer abzuheben, egal wie spät es ist. Genau das wird Protagonistin Dina zum Verhängnis. Ein Unbekannter ruft sie an und gibt ihr Anweisungen, wohin sie fahren soll.

Entführt, alleine im eigenen Auto? Geht das? Mithilfe vieler kleiner Wendungen (manche absehbar, manche nicht) gelingt es Nora Benrath, aus dieser leicht schrägen Idee eine packende Erzählung über die menschliche Psyche zu machen. Neben dem Täter-Opfer-Spiel und den Polizeiermittlungen widmet die Autorin vor allem der Presse viel Raum, wohl auch weil sie selbst Journalistin ist und diesen Teil authentisch formulieren kann.

Ein kleiner Wermutstropfen waren für mich die genutzten Klischees die zwischendurch und bei der Aufklärung vorkommen. Sie dienen genauso als falsche Fährten wie auch als Erklärung der Geschichte.