Ungewöhnlich und vielversprechend
Ba ist gestorben. Dem Ritual folgend müssen die Geschwister Sam (11) und Lucy (12) dem Vater die Augen mit Silberdollars beschweren und ihn an einem Ort begraben, den man Zuhause nennt. Doch weil die Kinder ...
Ba ist gestorben. Dem Ritual folgend müssen die Geschwister Sam (11) und Lucy (12) dem Vater die Augen mit Silberdollars beschweren und ihn an einem Ort begraben, den man Zuhause nennt. Doch weil die Kinder aus der Bank gejagt werden, wo sie um das Silber auf Kredit baten und Sam daraufhin den Revolver zieht, sind die beiden chinesischen Waisenkinder nun auf der Flucht durch die Prärie. Mit dem gestohlenen Pferd des Lehrers und dem Leichnam des Vaters obendrauf lassen sie die Hügel voller Gold und Kohle und mit ihnen die zu Staub und Einsamkeit zerfallenen Träume der Eltern hinter sich. Auf der Suche nach einem Begräbnisplatz für den Vater und einem Ort, an dem sie endlich ankommen dürfen...
Im Nu entfaltet die Geschichte einen nahezu magischen Sog, der einen das Buch nicht mehr aus der Hand legen und - ich nehme es vorweg - aufgewühlt, betroffen und beschenkt zurück lässt.
Obwohl wir uns ganz offensichtlich in den Jahren des Goldrausches und des Eisenbahnbaus im nordkalifornischen Hügelland befinden, verzichtet C Pam Zhang auf eine eindeutige Verortung und hat einen Roman voller zeitloser "Geschichten gegen die Geschichtsbücher" (S.333) geschrieben. Dessen Wild-West-Setting dient vor allem der Entzauberung der noch immer glorifizierten "Zivilisierung" des amerikanischen Westens. Menschen wie Lucy und ihre Familie, die Blut, Schweiß und Leben dafür gaben, finden in den Chroniken keine oder sehr zweifelhafte Erwähnung. Da ist der Lehrer, der die intelligente Lucy, aus deren Perspektive der Roman überwiegend erzählt wird, als exotisch-"wildes" Forschungsobjekt für eine zweifelhafte Niederschrift missbraucht.
"Der Garten wird als Triumph gefeiert, aber die Pflanzen, die nicht anwachsen, sieht niemand." (S.277), resümiert Lucy am Ende bitter, als sie erkennt, dass selbst sie, die in den Hügeln geboren ist, in diesem Land gar keine Wurzeln schlagen soll. In diesem Land, wo sie unablässig angestarrt, aber nicht gesehen wird.
Doch in diesem Buch geht es um mehr als zerplatzte Träume und gescheiterte Integration. Es ist zugleich ein raffiniert komponierter Abenteuer-, Familien- und Entwicklungsroman, voll von Schuld und Verrat, Rivalität, Liebe und Enttäuschung, Selbstfindung, Aufopferung und überraschenden Wendungen.
Geschickt spielt C Pam Zhang dabei mit den Erwartungen der Lesenden, die mehr als einmal überrumpelt und verdutzt zurückblättern und sich hier und da bei allzu festgefügten Wertvorstellungen ertappt fühlen. Erst am Ende ist alles stimmig, liegt jedes Teil dieses großen und kunstvollen Panoramas an seinem Platz.
Dass die Geschichte ihren unwiderstehlichen Sog entfaltet, liegt nicht nur an der Story, ihren anrührenden jugendlichen Helden und dem abenteuerlichen Setting, sondern vor allem an der so präzise und wirkmächtig eingesetzten Sprache C Pam Zhangs: Kraftvoll und bildgewaltig, reduziert und verknappt, poetisch und magisch. Man fühlt die Hitze brennen, schmeckt Kohlestaub, riecht Hühnerdreck und Leichengestank, hört wie selbstverständlich Geister sprechen und sieht Tiger durch die Handlung streifen.
Wer einen Blick ins Original geworfen hat, weiß: Eva Reguls Übersetzung ist pures Leseglück; sie hat diese Sprachmagie exzellent eingefangen und ebenso gekonnt ins Deutsche übertragen. Ihr Name auf dem Cover dürfte ruhig größer sein.
Lange hat mich kein Buch so gefesselt, berührt und nachhaltig beschäftigt. Unbedingte Leseempfehlung! (Rezensionsexemplar)