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Veröffentlicht am 01.09.2021

Sprachlich zwar auf hohem Niveau fehlt dem Roman Spannung, Lebendigkeit und eine klare Struktur...

Das Gewicht der Worte
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"Das Gewicht der Worte" ist mein erster Roman von Pascal Mercier und hat als Geburtstagsgeschenk zu mir gefunden. Mit über einer Woche habe ich verhältnismäßig lange für diesen 576 Seiten langen Roman ...

"Das Gewicht der Worte" ist mein erster Roman von Pascal Mercier und hat als Geburtstagsgeschenk zu mir gefunden. Mit über einer Woche habe ich verhältnismäßig lange für diesen 576 Seiten langen Roman gebraucht, der zugleich Betrachtung eines Lebens, Studie von Sprache, Worten und Literatur und philosophische Diskussion ist. Dabei ist das Geschilderte vom ersten „Welcome home, Sir“ bis zum letzten „Welcome home, Sir“ zwar durchaus beeindruckend, interessant und anregend, aber leider ohne Spannung und eher ermüdend erzählt, weshalb ein gemischter Gesamteindruck zurückbleibt.

Die Gestaltung des Romans passt ganz hervorragend zu dieser stillen, zurückhaltenden, aber ausgefeilt hintersinnigen Geschichte. Zu sehen ist die Molo Audace in Triest, die eine wichtige Rolle im Roman spielt und ein energisch schreitender Mann im Anzug, der mit seinen grauen Haaren und dem nachdenklich gesenkten Kopf durchaus der Protagonist sein könnte. Auch der Titel passt hervorragend - geht es hier doch vor allem um die Möglichkeiten, die Nuancen und den Stellenwert von Sprache. Pascal Merciers Erzählung ist in 45 Kapitel aufgeteilt, welche zum Teil Briefe und Ausschnitte aus anderen Romanen enthalten, welche kursiv abgedruckt sind.


Erster Satz: "Welcome home, Sir", sagte der Beamte bei der Passkontrolle am Londoner Flughafen."


Wir steigen bei einem wichtigen Einschnitt im Leben von Simon Leyland, dem Hauptprotagonisten in den Roman ein. Nachdem er 11 Wochen mit einer grauenvollen Fehldiagnose gelebt und seine Angelegenheiten zum Abschluss gebracht hat, wagt er nach der erleichternden Nachricht einen Neuanfang und startet in einen neuen Lebensabschnitt. Dazu zieht er nach London in die Stadt seiner Kindheit, wo ihm sein Onkel ein Haus vererbt hat, und beginnt diese neu zu entdecken und dabei sein Leben Revue passieren zu lassen. Gut die erste Hälfte des Romans bringen wir so damit zu, Leylands Vergangenheit kennenzulernen und zu erforschen, wie er an diesem Punkt gelandet ist: alleine in London mit verkauftem Verlag, erwachsenen Kindern und einer überraschend großen Menge restlicher Lebenszeit zum Füllen. Dabei passiert auf der Handlungsebene erschreckend wenig. Im Grunde betrachten wir Leyland, der sein Leben reflektiert, über Übersetzungen brütet, über Nachgedachtes mit seinen Freunden und seiner Familie diskutiert, über Diskutiertes wiederum nachdenkt und seine Schlussfolgerungen dann in Form von Briefen an seine verstorbene Frau festhält. Diese Erzählweise hat zur Folge, dass es viele Wiederholungen gibt und praktisch alle Gedanken mehrmals am Leser vorbeiziehen.


"Es war ein Dunkel nach dem Ende eines Lebens, ein Dunkel, in dem die Zeit nicht mehr floss. Er würde nachher überall Licht machen und sie von neuem zum Fließen bringen. Aber nicht gleich. Er bestellte noch einmal Tee und etwas zu essen. Jetzt, da er wieder eine Zukunft hatte, wollte er verschwenderisch mit seiner Zeit umgehen. Spüren, wie sie verstrich, ohne dass er etwas tat. Spüren, dass er nicht mehr atemlos einem Ende zutrieb. Spüren, dass er Dinge aufschieben konnte, ohne es später zu bereuen."


Diese Reflexion des Kreises von Leylands Lebens hat durchaus seinen Reiz, wenn man zwischen den Seiten versunken ist, sobald man das Buch jedoch zur Seite legt, weiß man nicht so recht, weshalb man weiterlesen sollte. Es gibt keine drängenden Fragen, deren Antwort man erhalten will, keine großartigen Entwicklungen oder Geschehnisse werden in Aussicht gestellt und auch für seine packende Handlung ist Pascal Mercier alles andere als bekannt. Es ist also von Beginn an schlichtweg keine Spannung vorhanden! Während man in der ersten Hälfte des Romans durch aufschlussreiche Rückblicke auf vergangene Geschehnisse wie Leylands Fehldiagnose, seine Kindheit oder seine verstorbene Frau bei Stange gehalten wird und ständig neue Informationen erhält, die das Gesamtbild runder machen, leidet die zweite Hälfte des Romans stärker unter dem Fehlen jeglicher Spannung. Man lässt sich auf das Lesen ein, lässt sich die ein oder andere Formulierung auf der Zunge zergehen und wartet, wohin die Geschichte hinführt. Bis etwa 130 Seiten nach Beginn hat mir das auch gereicht, doch ab dort drängte sich die Frage auf: wohin führt das Ganze?


"Alles, was für ihn jemals gezählt hatte, waren Worte. Etwas existierte erst wirklich, wenn es benannt und besprochen wurde. Er hatte sich das nicht ausgesucht, es war ihm zugestoßen und war von Anfang an so gewesen. Oft hatte er sich gewünscht, ohne Worte bei den Sachen zu sein, bei den Sachen und den Menschen und den Gefühlen und den Träumen - und dann waren ihm doch wieder die Worte dazwischengekommen."


Und die Antwort ist leider: nirgendwohin! Es kommt ein Punkt in der Geschichte, ab wo beinahe alle Geheimnisse gelüftet und viele der kleinen Spannungsbögen ihren Höhepunkt erreicht haben und nur noch schrittweise Neues passiert. Ab hier wird das Buch deutlich schwächer, büßt Lebendigkeit und Antrieb ein. Auch die Wiederholungen, die durch den besonderen Erzählstil mit bedingt sind, werden ab diesem Punkt nochmal mehr, sodass sich das letzte Drittel recht zäh liest. Dazu kommt, dass wir recht ziellos durch die Handlung steuern und ich bald das Gefühl, ich hätte noch 200 Seiten mehr über Simon Leyland lesen können, oder auch 200 Seiten weniger und das hätte keinen großen Unterschied gemacht. Ich habe die zweite Hälfte und auch das Ende also als eher willkürlich gewählt empfunden. Es fehlte mir hier eine klare Struktur, ein erkennbares Ziel, ein Schlusspunkt - so ist die gesamte Gestaltung der Handlung eher unbefriedigend.


"Wir leben ja mit dem Gefühl, in enger, nahtloser Verbindung mit unserer Vergangenheit zu stehen und den Faden unseres Lebens ohne Riss und Unterbruch von Tag zu Tag fortzuspinnen. Es wäre unerträglich, dieses Gefühl zu verlieren. Doch die Wahrheit ist es nicht: Unser Leben ist eine lange, verschlungene Kette von schwimmenden Inseln der Erinnerung umspült von Vergessen, wir springen von der einen zur anderen, hin und zurück, und wir sind Virtuosen darin, die Brüche mit Geschichten zu übertünchen, die den anderen und uns selbst ausgreifend und erfinderisch vorgaukeln, wir stünden auf einem festen Grund durchgängigen Erinnerns."


Doch bewegen wir uns mal von der zweitrangigen Handlungsebene weg und betrachten den Inhalt genauer. Um ehrlich zu sein: rückblickend fällt es mir schwer, genau zu sagen, worum es hier überhaupt ging: um alles und nichts eben. Pascal Mercier unternimmt hier eine Reise durch die Sprachen des Mittelmeerraums, durch die Literatur und stellt einige Fragen zu Tod, Freiheit, dem Wert des Lebens, dem Wesen der Zeit und der Substanz der Poesie. Dabei bleibt er jedoch an eine einzelne Perspektive, ein einzelnes Leben gebunden, das von Hoffnung, Schmerz, Orientierungslosigkeit und intensiven Begegnungen geprägt ist, weshalb die Auseinandersetzung mit den wichtigsten Themen eher einseitig erfolgt und die Reflexion nicht wirklich ins Philosophieren übergeht. Auf einigen Aspekten wie das Recht auf Selbstbestimmung des eigenen Ende werden dabei immer und immer wieder wiederholt, während anderes, was mir selbst zum Thema Freiheit einfallen würde, gar nicht erst zur Sprache kommt.


"Es ist etwas Großes, Gewaltiges, wenn man vor jemanden hintritt und ihn fragt, wie seine eigene, seine ganze besondere Stimme klinge, in der Art, wie seine Worte kämen, und der Art, wie die Bilder seiner Fantasie sich formten. Diese Frage ist geeignet, jemanden aus der Fassung zu bringen"


Einige interessante Anstöße und Gedanken werden hier zwar eingearbeitet, vieles bleibt aber sehr lebensfern und wenig greifbar, sodass ich mit einigem nicht viel anfangen konnte. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass die Hauptfigur in einer Blase lebt, in der Geld keine Rolle spielt, stundenlang über Sprachen und Worte philosophiert werden kann und alles Gewöhnliche eine außergewöhnliche Bedeutung hat. Er pendelt zwar zwischen den beiden Städten Triest und London, fährt Tube, sitzt an der Molo Audace, schreitet Straßen entlang und besucht Sehenswürdigkeiten, die ich selbst schon gesehen habe, scheint aber doch auf einem ganz anderen Planeten zu leben als ich. Pascal Leyland gibt uns tiefe Einblicke in die Gefühls- und Gedankenwelt seiner Hauptfigur, jedoch ohne wirkliche Nähe zu ihm entstehen zu lassen. Egal ob während der direkten Beschreibung des Geschehens, in Dialogen oder in Briefen - hier spricht nie die Person direkt, sondern da ist immer noch eine trennende Erzählinstanz zwischen Leser und Figur, die somit eher ein spannendes, abstraktes Untersuchungsobjekt blieb und wenig zu Bezügen zur eigenen Person einlud. Grundsätzlich finde ich es wahnsinnig spannend, die Welt aus anderen Augen zu betrachten, aber hier kann man als Leser kaum Spuren seines eigenen Lebens in der Geschichte wiederfinden und bleibt somit über die gesamten 572 Seiten hinweg ein mittelmäßig motivierter Zuhörer.


"Manchmal nimmt das Wort einer Sache den Schrecken, und es ist eine Befreiung, es auszusprechen. Doc manchmal spüren wir: Das Wort würde den Schrecken noch größer machen. Dann halten wir es unter Verschluss. Und manchmal verwechseln wir die beiden Fälle."


Zum Eindruck dieser scheinweltlichen Blase tragen auch die hier auftauchenden Figuren bei. Grundsätzlich hat mir die Gestaltung der Nebenfiguren gut gefallen. Pascal Mercier unterläuft nur ein einziger Fehler: sie sind alle vieeeel zu ähnlich. Von seinen Kindern über seinen Nachbar in London, seine ehemaligen Verlagsmitarbeiter bis hin zu befreundeten Autoren haben wir es hier ausschließlich mit feinsinnigen, aufrichtigen Gutmenschen zu tun, die sich in ihrer Tiefgründigkeit sehr gefallen, ein Geheimnis aus ihren erlebten Abgründen machen, Problemen haben sich zu öffnen und mit einem unübersehbaren Bedürfnis nach Halt und Hilfe der Hauptfigur die Möglichkeit geben, als Held aufzutreten. Entwicklungen finden hier nur statt, wenn sie der Profilierung von Leyland nutzen, alle scheinen immer einer Meinung mit ihm zu sein und bald verschwimmt der englische Apotheker Kenneth Burke mit dem russischen Ex-Häftling Andrej und selbst der vermeintlich etwas einfachere Kellner Pat entpuppt sich schnell als feingeistiger Intellektueller. Eine zupackende, andersdenkende Kontrastfigur, die Leyland aus seiner Blase ab und zu mal heraus holt, hätte der Geschichte also definitiv gut getan.


"Aus verborgenem, verschwiegenem Wissen war ausdrückliches, in Worte fassbares Wissen geworden. Es war kein abstraktes Wissen, es wirkte in das Erleben hinein. Es war wie ein Aufwachen, ein unaufhaltsames Aufwachen, das ich mit den ersten Phantasien und den ersten Sätzen in Gang gesetzt hatte, und ich war am Ende nicht mehr dieselbe wie vorher."


Ich halte also fest: kaum vorhandene Spannung, spannende Anstöße aber fehlende Greifbarkeit und Figuren, die zunehmend zu einem Einheitsbrei verschwimmen - das klingt alles andere als der Stoff, aus dem ein Stück Weltliteratur gemacht ist. Weshalb würde ich "Das Gewicht der Worte" also dennoch als lesenswert einstufen? Das hängt vor allem mit der Sprache des Autors zusammen, die hier ganz dem thematischen Fokus entsprechend leise, zurückhaltend, reflektiert und ausgefeilt ist. Vor allem die vielen Einbezüge anderer Sprachen, vor allem französisch, englisch und italienisch, machen die Erzählung vielschichtig und komplex und durch die wenige Handlung hat der Autor viel Raum, Nicht-Stoffliches in Worte zu kleiden. Dabei ist aber auch nicht die Erzählweise über jede Kritik erhaben. Negativ aufgefallen ist mir, dass man zwar deutlich merkt, wie sehr der Autor an jedem Wort gefeilt hat, aber trotzdem oder gerade deswegen nicht alles natürlich schien. "Das Gewicht der Worte" ist ohne Zweifel sehr schön und feinsinnig geschrieben, an manchen Stellen fast poetisch, aber leider hatten auch viele Worte einen angeberischen Beigeschmack und fügten sich nicht mühelos in die Erzählung ein. Pascal Mercier hat hier viele gewichtige Worte gefunden, wirklich zu berühren und mitzureißen verstehen diese jedoch nicht. Das Lesen bleibt Arbeit und man spürt das Gewicht dieser Worte mit jeder Seite.


"Die Phantasie - das spüre ich so deutlich in diesen Tagen - ist der eigentliche Ort der Freiheit."





Fazit:


Pascal Mercier erzählt leise, zurückhaltend und reflektiert von Wendungen des Lebens, der Gegenwärtigkeit der Poesie, dem Wesen der Zeit und vor allem von Sprache, Wörtern und Literatur. Sprachlich zwar auf hohem Niveau fehlt "Das Gewicht der Worte" aber Spannung, Lebendigkeit und eine klare Struktur.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 01.09.2021

Sprachlich zwar auf hohem Niveau fehlt dem Roman Spannung, Lebendigkeit und eine klare Struktur...

Das Gewicht der Worte
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"Das Gewicht der Worte" ist mein erster Roman von Pascal Mercier und hat als Geburtstagsgeschenk zu mir gefunden. Mit über einer Woche habe ich verhältnismäßig lange für diesen 576 Seiten langen Roman ...

"Das Gewicht der Worte" ist mein erster Roman von Pascal Mercier und hat als Geburtstagsgeschenk zu mir gefunden. Mit über einer Woche habe ich verhältnismäßig lange für diesen 576 Seiten langen Roman gebraucht, der zugleich Betrachtung eines Lebens, Studie von Sprache, Worten und Literatur und philosophische Diskussion ist. Dabei ist das Geschilderte vom ersten „Welcome home, Sir“ bis zum letzten „Welcome home, Sir“ zwar durchaus beeindruckend, interessant und anregend, aber leider ohne Spannung und eher ermüdend erzählt, weshalb ein gemischter Gesamteindruck zurückbleibt.

Die Gestaltung des Romans passt ganz hervorragend zu dieser stillen, zurückhaltenden, aber ausgefeilt hintersinnigen Geschichte. Zu sehen ist die Molo Audace in Triest, die eine wichtige Rolle im Roman spielt und ein energisch schreitender Mann im Anzug, der mit seinen grauen Haaren und dem nachdenklich gesenkten Kopf durchaus der Protagonist sein könnte. Auch der Titel passt hervorragend - geht es hier doch vor allem um die Möglichkeiten, die Nuancen und den Stellenwert von Sprache. Pascal Merciers Erzählung ist in 45 Kapitel aufgeteilt, welche zum Teil Briefe und Ausschnitte aus anderen Romanen enthalten, welche kursiv abgedruckt sind.


Erster Satz: "Welcome home, Sir", sagte der Beamte bei der Passkontrolle am Londoner Flughafen."


Wir steigen bei einem wichtigen Einschnitt im Leben von Simon Leyland, dem Hauptprotagonisten in den Roman ein. Nachdem er 11 Wochen mit einer grauenvollen Fehldiagnose gelebt und seine Angelegenheiten zum Abschluss gebracht hat, wagt er nach der erleichternden Nachricht einen Neuanfang und startet in einen neuen Lebensabschnitt. Dazu zieht er nach London in die Stadt seiner Kindheit, wo ihm sein Onkel ein Haus vererbt hat, und beginnt diese neu zu entdecken und dabei sein Leben Revue passieren zu lassen. Gut die erste Hälfte des Romans bringen wir so damit zu, Leylands Vergangenheit kennenzulernen und zu erforschen, wie er an diesem Punkt gelandet ist: alleine in London mit verkauftem Verlag, erwachsenen Kindern und einer überraschend großen Menge restlicher Lebenszeit zum Füllen. Dabei passiert auf der Handlungsebene erschreckend wenig. Im Grunde betrachten wir Leyland, der sein Leben reflektiert, über Übersetzungen brütet, über Nachgedachtes mit seinen Freunden und seiner Familie diskutiert, über Diskutiertes wiederum nachdenkt und seine Schlussfolgerungen dann in Form von Briefen an seine verstorbene Frau festhält. Diese Erzählweise hat zur Folge, dass es viele Wiederholungen gibt und praktisch alle Gedanken mehrmals am Leser vorbeiziehen.


"Es war ein Dunkel nach dem Ende eines Lebens, ein Dunkel, in dem die Zeit nicht mehr floss. Er würde nachher überall Licht machen und sie von neuem zum Fließen bringen. Aber nicht gleich. Er bestellte noch einmal Tee und etwas zu essen. Jetzt, da er wieder eine Zukunft hatte, wollte er verschwenderisch mit seiner Zeit umgehen. Spüren, wie sie verstrich, ohne dass er etwas tat. Spüren, dass er nicht mehr atemlos einem Ende zutrieb. Spüren, dass er Dinge aufschieben konnte, ohne es später zu bereuen."


Diese Reflexion des Kreises von Leylands Lebens hat durchaus seinen Reiz, wenn man zwischen den Seiten versunken ist, sobald man das Buch jedoch zur Seite legt, weiß man nicht so recht, weshalb man weiterlesen sollte. Es gibt keine drängenden Fragen, deren Antwort man erhalten will, keine großartigen Entwicklungen oder Geschehnisse werden in Aussicht gestellt und auch für seine packende Handlung ist Pascal Mercier alles andere als bekannt. Es ist also von Beginn an schlichtweg keine Spannung vorhanden! Während man in der ersten Hälfte des Romans durch aufschlussreiche Rückblicke auf vergangene Geschehnisse wie Leylands Fehldiagnose, seine Kindheit oder seine verstorbene Frau bei Stange gehalten wird und ständig neue Informationen erhält, die das Gesamtbild runder machen, leidet die zweite Hälfte des Romans stärker unter dem Fehlen jeglicher Spannung. Man lässt sich auf das Lesen ein, lässt sich die ein oder andere Formulierung auf der Zunge zergehen und wartet, wohin die Geschichte hinführt. Bis etwa 130 Seiten nach Beginn hat mir das auch gereicht, doch ab dort drängte sich die Frage auf: wohin führt das Ganze?


"Alles, was für ihn jemals gezählt hatte, waren Worte. Etwas existierte erst wirklich, wenn es benannt und besprochen wurde. Er hatte sich das nicht ausgesucht, es war ihm zugestoßen und war von Anfang an so gewesen. Oft hatte er sich gewünscht, ohne Worte bei den Sachen zu sein, bei den Sachen und den Menschen und den Gefühlen und den Träumen - und dann waren ihm doch wieder die Worte dazwischengekommen."


Und die Antwort ist leider: nirgendwohin! Es kommt ein Punkt in der Geschichte, ab wo beinahe alle Geheimnisse gelüftet und viele der kleinen Spannungsbögen ihren Höhepunkt erreicht haben und nur noch schrittweise Neues passiert. Ab hier wird das Buch deutlich schwächer, büßt Lebendigkeit und Antrieb ein. Auch die Wiederholungen, die durch den besonderen Erzählstil mit bedingt sind, werden ab diesem Punkt nochmal mehr, sodass sich das letzte Drittel recht zäh liest. Dazu kommt, dass wir recht ziellos durch die Handlung steuern und ich bald das Gefühl, ich hätte noch 200 Seiten mehr über Simon Leyland lesen können, oder auch 200 Seiten weniger und das hätte keinen großen Unterschied gemacht. Ich habe die zweite Hälfte und auch das Ende also als eher willkürlich gewählt empfunden. Es fehlte mir hier eine klare Struktur, ein erkennbares Ziel, ein Schlusspunkt - so ist die gesamte Gestaltung der Handlung eher unbefriedigend.


"Wir leben ja mit dem Gefühl, in enger, nahtloser Verbindung mit unserer Vergangenheit zu stehen und den Faden unseres Lebens ohne Riss und Unterbruch von Tag zu Tag fortzuspinnen. Es wäre unerträglich, dieses Gefühl zu verlieren. Doch die Wahrheit ist es nicht: Unser Leben ist eine lange, verschlungene Kette von schwimmenden Inseln der Erinnerung umspült von Vergessen, wir springen von der einen zur anderen, hin und zurück, und wir sind Virtuosen darin, die Brüche mit Geschichten zu übertünchen, die den anderen und uns selbst ausgreifend und erfinderisch vorgaukeln, wir stünden auf einem festen Grund durchgängigen Erinnerns."


Doch bewegen wir uns mal von der zweitrangigen Handlungsebene weg und betrachten den Inhalt genauer. Um ehrlich zu sein: rückblickend fällt es mir schwer, genau zu sagen, worum es hier überhaupt ging: um alles und nichts eben. Pascal Mercier unternimmt hier eine Reise durch die Sprachen des Mittelmeerraums, durch die Literatur und stellt einige Fragen zu Tod, Freiheit, dem Wert des Lebens, dem Wesen der Zeit und der Substanz der Poesie. Dabei bleibt er jedoch an eine einzelne Perspektive, ein einzelnes Leben gebunden, das von Hoffnung, Schmerz, Orientierungslosigkeit und intensiven Begegnungen geprägt ist, weshalb die Auseinandersetzung mit den wichtigsten Themen eher einseitig erfolgt und die Reflexion nicht wirklich ins Philosophieren übergeht. Auf einigen Aspekten wie das Recht auf Selbstbestimmung des eigenen Ende werden dabei immer und immer wieder wiederholt, während anderes, was mir selbst zum Thema Freiheit einfallen würde, gar nicht erst zur Sprache kommt.


"Es ist etwas Großes, Gewaltiges, wenn man vor jemanden hintritt und ihn fragt, wie seine eigene, seine ganze besondere Stimme klinge, in der Art, wie seine Worte kämen, und der Art, wie die Bilder seiner Fantasie sich formten. Diese Frage ist geeignet, jemanden aus der Fassung zu bringen"


Einige interessante Anstöße und Gedanken werden hier zwar eingearbeitet, vieles bleibt aber sehr lebensfern und wenig greifbar, sodass ich mit einigem nicht viel anfangen konnte. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass die Hauptfigur in einer Blase lebt, in der Geld keine Rolle spielt, stundenlang über Sprachen und Worte philosophiert werden kann und alles Gewöhnliche eine außergewöhnliche Bedeutung hat. Er pendelt zwar zwischen den beiden Städten Triest und London, fährt Tube, sitzt an der Molo Audace, schreitet Straßen entlang und besucht Sehenswürdigkeiten, die ich selbst schon gesehen habe, scheint aber doch auf einem ganz anderen Planeten zu leben als ich. Pascal Leyland gibt uns tiefe Einblicke in die Gefühls- und Gedankenwelt seiner Hauptfigur, jedoch ohne wirkliche Nähe zu ihm entstehen zu lassen. Egal ob während der direkten Beschreibung des Geschehens, in Dialogen oder in Briefen - hier spricht nie die Person direkt, sondern da ist immer noch eine trennende Erzählinstanz zwischen Leser und Figur, die somit eher ein spannendes, abstraktes Untersuchungsobjekt blieb und wenig zu Bezügen zur eigenen Person einlud. Grundsätzlich finde ich es wahnsinnig spannend, die Welt aus anderen Augen zu betrachten, aber hier kann man als Leser kaum Spuren seines eigenen Lebens in der Geschichte wiederfinden und bleibt somit über die gesamten 572 Seiten hinweg ein mittelmäßig motivierter Zuhörer.


"Manchmal nimmt das Wort einer Sache den Schrecken, und es ist eine Befreiung, es auszusprechen. Doc manchmal spüren wir: Das Wort würde den Schrecken noch größer machen. Dann halten wir es unter Verschluss. Und manchmal verwechseln wir die beiden Fälle."


Zum Eindruck dieser scheinweltlichen Blase tragen auch die hier auftauchenden Figuren bei. Grundsätzlich hat mir die Gestaltung der Nebenfiguren gut gefallen. Pascal Mercier unterläuft nur ein einziger Fehler: sie sind alle vieeeel zu ähnlich. Von seinen Kindern über seinen Nachbar in London, seine ehemaligen Verlagsmitarbeiter bis hin zu befreundeten Autoren haben wir es hier ausschließlich mit feinsinnigen, aufrichtigen Gutmenschen zu tun, die sich in ihrer Tiefgründigkeit sehr gefallen, ein Geheimnis aus ihren erlebten Abgründen machen, Problemen haben sich zu öffnen und mit einem unübersehbaren Bedürfnis nach Halt und Hilfe der Hauptfigur die Möglichkeit geben, als Held aufzutreten. Entwicklungen finden hier nur statt, wenn sie der Profilierung von Leyland nutzen, alle scheinen immer einer Meinung mit ihm zu sein und bald verschwimmt der englische Apotheker Kenneth Burke mit dem russischen Ex-Häftling Andrej und selbst der vermeintlich etwas einfachere Kellner Pat entpuppt sich schnell als feingeistiger Intellektueller. Eine zupackende, andersdenkende Kontrastfigur, die Leyland aus seiner Blase ab und zu mal heraus holt, hätte der Geschichte also definitiv gut getan.


"Aus verborgenem, verschwiegenem Wissen war ausdrückliches, in Worte fassbares Wissen geworden. Es war kein abstraktes Wissen, es wirkte in das Erleben hinein. Es war wie ein Aufwachen, ein unaufhaltsames Aufwachen, das ich mit den ersten Phantasien und den ersten Sätzen in Gang gesetzt hatte, und ich war am Ende nicht mehr dieselbe wie vorher."


Ich halte also fest: kaum vorhandene Spannung, spannende Anstöße aber fehlende Greifbarkeit und Figuren, die zunehmend zu einem Einheitsbrei verschwimmen - das klingt alles andere als der Stoff, aus dem ein Stück Weltliteratur gemacht ist. Weshalb würde ich "Das Gewicht der Worte" also dennoch als lesenswert einstufen? Das hängt vor allem mit der Sprache des Autors zusammen, die hier ganz dem thematischen Fokus entsprechend leise, zurückhaltend, reflektiert und ausgefeilt ist. Vor allem die vielen Einbezüge anderer Sprachen, vor allem französisch, englisch und italienisch, machen die Erzählung vielschichtig und komplex und durch die wenige Handlung hat der Autor viel Raum, Nicht-Stoffliches in Worte zu kleiden. Dabei ist aber auch nicht die Erzählweise über jede Kritik erhaben. Negativ aufgefallen ist mir, dass man zwar deutlich merkt, wie sehr der Autor an jedem Wort gefeilt hat, aber trotzdem oder gerade deswegen nicht alles natürlich schien. "Das Gewicht der Worte" ist ohne Zweifel sehr schön und feinsinnig geschrieben, an manchen Stellen fast poetisch, aber leider hatten auch viele Worte einen angeberischen Beigeschmack und fügten sich nicht mühelos in die Erzählung ein. Pascal Mercier hat hier viele gewichtige Worte gefunden, wirklich zu berühren und mitzureißen verstehen diese jedoch nicht. Das Lesen bleibt Arbeit und man spürt das Gewicht dieser Worte mit jeder Seite.


"Die Phantasie - das spüre ich so deutlich in diesen Tagen - ist der eigentliche Ort der Freiheit."





Fazit:


Pascal Mercier erzählt leise, zurückhaltend und reflektiert von Wendungen des Lebens, der Gegenwärtigkeit der Poesie, dem Wesen der Zeit und vor allem von Sprache, Wörtern und Literatur. Sprachlich zwar auf hohem Niveau fehlt "Das Gewicht der Worte" aber Spannung, Lebendigkeit und eine klare Struktur.

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  • Charaktere
Veröffentlicht am 22.08.2021

Im Spannungsfeld zwischen schön und schrecklich...

Boston Belles - Hunter
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Nachdem mich im letzten Dezember "All Saints High" in seinen Bann gezogen hat, habe ich gespannt auf Nachschub von L. J. Shen gewartet. "Boston Belles - Hunter" ist nun der Auftakt einer neuen vierbändigen ...

Nachdem mich im letzten Dezember "All Saints High" in seinen Bann gezogen hat, habe ich gespannt auf Nachschub von L. J. Shen gewartet. "Boston Belles - Hunter" ist nun der Auftakt einer neuen vierbändigen Reihe, welcher mit Hunter einen Charakter aus der "All Saints High"-Reihe aufgreift und mit Sailor der Tochter der Protagonisten aus ihrem Stand-Alone-Roman "Sparrow" eine Stimme verleiht. Auch wenn mich hier wieder einige Dinge gestört haben, entwickelt auch "Boston Belles - Hunter" einen atemberaubenden Sog, dem man nicht mehr entkommt. L. J. Shen tanzt hier mal wieder auf der schmalen Linie zwischen Liebe und Hass und kostet alle Facetten beider Emotionen so ausführlich auch, dass manche Stellen fast lyrisch schön sind und man andere wiederum man am liebsten überspringen würde. Hoffnungslos gefangen irgendwo zwischen "Wow" und "Igitt" - das beschreibt auch meine Erfahrung mit diesem Buch ganz gut.

Das Cover könnte meiner Meinung nach leider nicht schlechter passen (außer vielleicht es wären noch Herzchen und Einhörner zu sehen), auch wenn es wunderschön anzusehen ist. Denn "Boston Belles" ist meilenweit entfernt von einer stimmungsvollen High-School-Romanze, welche durch die zarten rosa Rosen und den hellen glitzer-Hintergrund und den großen, leuchtenden Titel impliziert wird. Hier geht es nicht süß, unschuldig oder gar romantisch zu - diese Geschichte ist explizit, rücksichtslos und hart und hätte daher in meinen Augen eher einen schwarz-roten Vamp-Look verdient gehabt. Dies war also einer der Momente, in denen ich die wunderschönen, aber nichtssagenden LYX-Cover verflucht habe. Denn so (und ohne zuvor etwas von L. J. Shen gelesen zu haben) sind ahnungslose Leser komplett unvorbereitet auf die von negativen Gefühlen durchtränkte Atmosphäre, die hier auf uns zukommt.


Erster Satz: "Es war einmal ein verwunschenes Schloss, in dem alles verwelkte, nur die Seele eines Jungen nicht."


Nach einem märchenhaften Prolog wirft uns die Autorin übergangslos in eine der unangenehmen, verstörenden Szenen, die eines ihrer Markenzeichen sind. Welche Autorin würde uns den männlichen Love Interest nackt und mit diversen Körperflüssigkeiten bedeckt auf dem Boden liegend vorstellen, nachdem er eine wilde Orgie gefeiert hat, die auch noch gefilmt wurde und im Internet gelandet ist? Tja, das bekommt auch nur L. J. Shen fertig. Und auch nur sie schafft es, dass man sich zu Beginn zwar ganz sicher ist, dass man den verwöhnten, nutzlosen und skandalös über die Stränge schlagenden Hunter Fitzpatrick niemals mögen könnte, seine eigene Einschätzung einige Seiten später aber nochmal revidieren muss. Dazu trägt auch vor allem die zweite Protagonistin und zweite Ich-Erzählerin Sailor Brennan bei, die wir als kämpferisch Athletin mit dem hohen Ziel der Olympischen Spiele und kaum vorhandenem Privatleben kennenlernen. Während wir uns mit ihr sofort identifizieren können, hat man es mit Hunter zunächst sehr schwer. Das bedeutet jedoch nicht, dass ihr Zusammenleben nicht unterhaltsam zu lesen wäre. Im Gegenteil: Durch ein Arrangement, das ihre beiden Väter für sie getroffen haben, soll Hunter endlich auf den Boden der Realität zurückfinden und Sailor etwas aus ihrer Comfort Zone herauskommen. Doch als Hunter die Jagd auf die unerfahrene Sailor eröffnet, rechnet er nicht damit, dass sie zurückschlägt...


Sailor: "Ich glaube, wir werden eine gute Lektion füreinander sein, Sailor. Du weißt nicht, wie man lebt, und ich kann nichts anderes, als hedonistisch zu leben." Als er das sagte, wurde mir klar, dass ich mich niemals sterblicher gefühlt hatte. Aber sterblich zu sein, bedeutet lebendig zu sein. Ich hatte so viel zu verlieren. So viel zu gewinnen. So viel zu fühlen."


Da Hunter weder ein Drogenproblem hat noch zu Gewaltausbrüchen oder Grausamkeit neigt (immerhin etwas) und es um Sailors geistige und emotionale Gesundheit recht gut steht (zumindest für L.J. Shen-Verhältnisse), ist "Boston Belles" etwas weniger hart zu lesen als "All Saints High". Dennoch - und das kann man bei den Büchern der Autorin nicht oft genug betonen - ist die Geschichte sehr derb und explizit geschrieben, bringt in die ein oder andere verstörende Situation, bereitet Unwohlsein und bricht das Herz und lullt die Leser in alles andere als eine romantische Wohlfühlatmosphäre ein. "Boston Belles" ist weit davon entfernt, eine typische Haters-to-Lovers-Geschichte zu sein. Ja, die Geschichte war intensiv und leidenschaftlich, wie im New Adult Genre erwünscht, aber sie ging auch an die Grenze der Menschlichkeit ihrer gebrochenen Protagonisten, ... und ab und zu darüber hinaus. On top gab es hier wieder eine reichhaltige Metaphorik, die vor allem auf die Jagd und somit auf ein Wortspiel mit Hunters Namen abzielt und benutzt wird, um die Atmosphäre mit noch mehr Düsternis anzureichern. Neben diesen Kunstmotiven verdunkeln vor allem Gefühle wie Begehren, Rache, Hass und Verachtung die Atmosphäre, die nur ab und zu von positiveren Anklängen abgelöst werden. Die Autorin bedient sich der ganzen Gefühlspalette, um ihre Figuren leiden, taumeln und fallen zu lassen, nur um sie danach liebevoll wieder aufzurichten.


Hunter: "Ich bin so nie einem Mädchen begegne, das gleichzeitig so kalt und so feurig war. In einem Moment denke ich, dass du mit Sicherheit in Ohnmacht fällst, wenn ich deine Hand berühre, und im nächsten Moment bin ich mir sicher, dass du mich im Schlaf umbringen wirst. Du bist echt ´ne komische Nummer, KK."


Grundsätzlich bin ich absolut kein Fan von Dark Romance mit toxischen Beziehungen, intriganten Manipulationen, hartem Mobbing und romantisierter Gewalt und bevorzuge eher "harmlose" Liebesgeschichten. Auch wenn alles, was L. J. Shen schreibt, definitiv Anklänge von Dark Romance hat, gefällt mir bei ihren Geschichten, dass ihre Figuren sich den Grenzen, die sie überschreiten bewusst, dass Richtig und Falsch immer klar getrennt und Fehlverhalten und Missstände nicht romantisiert werden. Auf diese Art kann man sich in einem sicheren Raum der Düsternis, Wildheit, Abhängigkeit und Zügellosigkeit der Geschichte stellen, die auch negative Gefühle voll ausschöpft und wird nicht von ständigen Cringe-Attacken überfallen, wie oft bei anderen Büchern des Genres. Denn mit der ganzen Düsternis kommt auch eine krankhafte Faszination, die ich gar nicht leugnen will. Diese drückt sich nicht nur durch die zwiespältigen Handlungen der Protagonisten im Buch aus, sondern überträgt sich auch auf den Leser. Die Autorin offenbart menschliche Abgründe und man selbst ist zu mitgerissen, um wegsehen zu können.


Sailor: "Ich wusste nicht, wie so was möglich war, aber mit den Wunden und Schrammen sah er noch besser aus. Wie ein brandneues Auto mit dem ersten Kratzer, der es von irgendeinem Auto in dein Auto verwandelte - mit einer gemeinsamen Geschichte, Erinnerungen und Gepäck. In diesem Augenblick wünschte ich mir, ich hätte niemals einen Blick auf Hunter Fitzpatrick geworden, denn ich wusste mit absoluter Sicherheit, dass er trotz seines verwöhnten, schlechten Benehmens und seiner Vergnügungssucht von Natur aus gut, loyal und mutig war. Diese Dinge machten ihn für mich sehr gefährlich. Gefährlich attraktiv."


Als sich in der zweiten Hälfte dann zartere Gefühle hinter der toxischen Dynamik der beiden offenbaren, kommen dafür deutlich handfestere Probleme auf den Tisch, die das Weiterlesen ihrerseits wiederum schwer machen. Man sollte die vorangestellte Triggerwarnung also unbedingt beachten: Diese Geschichte bietet nämlich auch ernsten Stoff zum Nachdenken und befasst sich mit einem sensiblen Thema. Hier beweist die Autorin abermals, dass sie auch anders kann. Denn wenn man an der derben Sprache ihrer Figuren und ihren unschönen Masken vorbeisieht, ist die Geschichte einfach herzzerreißend schön und kunstvoll gemacht mit beinahe lyrischen Szenen und einer Intensität, die ich auch gerne mal in Originalsprache genießen würde.


Sailor: "Er war ein einsamer Prinz - unberührbar und dennoch voller Sehnsucht nach einer Umarmung. Brilliant, aber völlig missverstanden. Auf einem Thron aus unerfüllten Erwartungen und Enttäuschung. Ich fragte mich, ob er überhaupt wusste, dass er klug und tapfer war und ein gutes Herz hatte. Ich fragte mich, ob ich das törichte Mädchen sein würde, die ihm dieses Geheimnis eröffnete. Ich erkannte, dass er recht hatte: Ich war zwar die Bogenschützin, aber der wahre Jäger war er."


Neben der mitreißenden Atmosphäre und dem Spannungsfeld zwischen schön und schrecklich ist die Handlung aber leider recht dürftig. Außer der Tatsache, dass Hunter und Sailor zusammenleben, er im Familienunternehmen Royal Pipelines arbeitet und sie neben ihrem Training ab und zu mit ihren Freundinnen ausgeht, passiert nicht besonders viel, was zu vielen sehr kurzen Szenen mit unregelmäßigen Zeitsprüngen dazwischen führt. Einige Vorrezensenten haben kritisiert, dass ihnen hier ein roter Faden fehlen würde. Das würde ich nicht unbedingt so sagen, da durch einige offene Fragen und zusätzliche Rätsel durchaus so etwas wie ein größerer Rahmen neben dem Hauptkonflikt zwischen Hunter und Sailor aufgespannt wurde. Die beiden Hauptfragen - was genau für das schlechte Verhältnis von Hunter zu seiner Familie gesorgt hat und was es mit Sailors verbissener Rivalität mit der Bogenschützin Lana auf sich hat - werden jedoch leider viel zu lange vor der Geschichte hergeschoben, künstlich in die Länge gezogen und am Ende nicht wirklich zufriedenstellen (sprich realistisch) aufgelöst. Auch die geheimnisvollen Intrigen von Hunters Arbeitskollege Syllie soll wohl zusätzlich den Spannungsbogen aufpeppen, verläuft sich dann aber leider etwas in der Bedeutungslosigkeit. Ich würde also nicht das Fehlen, sondern eher die mangelhafte Umsetzung des roten Fadens kritisieren.


Sailor: "Du kannst es überleben", flüsterte er in meinen Mund. "Es?", fragte ich mürrisch. "Uns. Ich habe eine Seele aus Glas, Baby. Schön anzusehen, aber sie zerbricht leicht. Sie bringt dich zum Bluten und niemand kann sie festhalten."


Leider sind mir noch andere Dinge eher negativ aufgefallen. Die beiden Figuren waren mal wieder sehr jung, was zu gleich ihr manchmal etwas unreifes Verhalten erklärt, aber in Diskrepanz mit manch anderen Teilen der Handlung steht. Als Beispiel würde ich den dreistelligen Frauenverschleiß Hunters anführen, welcher mir bei seinen neunzehn Jahren reichlich übertrieben erschien. Auch einige Entwicklungen der Figuren waren nicht wie sonst sorgfältig vorbereitet, sondern kamen gegen Ende recht flott. Dazu kommen dann noch ein paar Schlaglöcher in der Übersetzung, die leider über ein, zwei Tippfehler hinausgehen. Neben der Tatsache, dass Hunter wohl im Original so deftig im Fernsehen flucht, dass ihn die Moderatorin zur Ordnung verweist, mir in der Übersetzung aber keine Formulierung aufgefallen ist, an der sie hätte Anstoß nehmen können, sind mir auch mehrere "Fitzgeralds" ins Auge gefallen, die angesichts der Tatsache, dass die Familie FITZPATRICK heißt, dort nichts zu suchen hatten.


Hunter: "Wir redeten nicht darüber, was wir waren. Oder was wir nicht waren. Wir existierten nur: ein Schmetterling und ein Mann, der schöne Dinge zu schätzen wusste. Nebeneinander im Auge eines Sturms, in den man uns geworden hatte."


Dennoch: jetzt bin ich sehr gespannt auf die Geschichte von Hunters großen Bruder Cillian, der wohl in "Boston Belles - Villian" auf Persephone, eine von Sailors besten Freundinnen trifft. Im dritten Teil wird es dann um Hunters süße, kleine Schwester Aisling gehen, die sich wider Erwarten von Sailors Bruder Sam, der ein übler Gangster... - nein, natürlich ein "ehrlicher Geschäftsmann, solange niemand das Gegenteil beweist" - ist. Dann bleibt im vierten Band nur noch die Geschichte von Sailors anderer besten Freundin Belle zu erzählen, die bestimmt auch noch einen (mir bislang noch unbekannten) Love Interest erhält, der es ganz schön in sich hat. Ich bin gespannt!



Fazit:


"Boston Belles - Hunter" hat die typische mitreißende Atmosphäre eines L.J. Shen Romans und spannt mit Figuren, Schreibstil und Handlung mal wieder ein Spannungsfeld zwischen schön und schrecklich auf. Leider konnten mich das Ende, einige Entwicklungen und Nebenhandlungsstränge nicht wie gehofft überzeugen.

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Veröffentlicht am 22.08.2021

Im Spannungsfeld zwischen schön und schrecklich...

Boston Belles - Hunter
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Nachdem mich im letzten Dezember "All Saints High" in seinen Bann gezogen hat, habe ich gespannt auf Nachschub von L. J. Shen gewartet. "Boston Belles - Hunter" ist nun der Auftakt einer neuen vierbändigen ...

Nachdem mich im letzten Dezember "All Saints High" in seinen Bann gezogen hat, habe ich gespannt auf Nachschub von L. J. Shen gewartet. "Boston Belles - Hunter" ist nun der Auftakt einer neuen vierbändigen Reihe, welcher mit Hunter einen Charakter aus der "All Saints High"-Reihe aufgreift und mit Sailor der Tochter der Protagonisten aus ihrem Stand-Alone-Roman "Sparrow" eine Stimme verleiht. Auch wenn mich hier wieder einige Dinge gestört haben, entwickelt auch "Boston Belles - Hunter" einen atemberaubenden Sog, dem man nicht mehr entkommt. L. J. Shen tanzt hier mal wieder auf der schmalen Linie zwischen Liebe und Hass und kostet alle Facetten beider Emotionen so ausführlich auch, dass manche Stellen fast lyrisch schön sind und man andere wiederum man am liebsten überspringen würde. Hoffnungslos gefangen irgendwo zwischen "Wow" und "Igitt" - das beschreibt auch meine Erfahrung mit diesem Buch ganz gut.

Das Cover könnte meiner Meinung nach leider nicht schlechter passen (außer vielleicht es wären noch Herzchen und Einhörner zu sehen), auch wenn es wunderschön anzusehen ist. Denn "Boston Belles" ist meilenweit entfernt von einer stimmungsvollen High-School-Romanze, welche durch die zarten rosa Rosen und den hellen glitzer-Hintergrund und den großen, leuchtenden Titel impliziert wird. Hier geht es nicht süß, unschuldig oder gar romantisch zu - diese Geschichte ist explizit, rücksichtslos und hart und hätte daher in meinen Augen eher einen schwarz-roten Vamp-Look verdient gehabt. Dies war also einer der Momente, in denen ich die wunderschönen, aber nichtssagenden LYX-Cover verflucht habe. Denn so (und ohne zuvor etwas von L. J. Shen gelesen zu haben) sind ahnungslose Leser komplett unvorbereitet auf die von negativen Gefühlen durchtränkte Atmosphäre, die hier auf uns zukommt.


Erster Satz: "Es war einmal ein verwunschenes Schloss, in dem alles verwelkte, nur die Seele eines Jungen nicht."


Nach einem märchenhaften Prolog wirft uns die Autorin übergangslos in eine der unangenehmen, verstörenden Szenen, die eines ihrer Markenzeichen sind. Welche Autorin würde uns den männlichen Love Interest nackt und mit diversen Körperflüssigkeiten bedeckt auf dem Boden liegend vorstellen, nachdem er eine wilde Orgie gefeiert hat, die auch noch gefilmt wurde und im Internet gelandet ist? Tja, das bekommt auch nur L. J. Shen fertig. Und auch nur sie schafft es, dass man sich zu Beginn zwar ganz sicher ist, dass man den verwöhnten, nutzlosen und skandalös über die Stränge schlagenden Hunter Fitzpatrick niemals mögen könnte, seine eigene Einschätzung einige Seiten später aber nochmal revidieren muss. Dazu trägt auch vor allem die zweite Protagonistin und zweite Ich-Erzählerin Sailor Brennan bei, die wir als kämpferisch Athletin mit dem hohen Ziel der Olympischen Spiele und kaum vorhandenem Privatleben kennenlernen. Während wir uns mit ihr sofort identifizieren können, hat man es mit Hunter zunächst sehr schwer. Das bedeutet jedoch nicht, dass ihr Zusammenleben nicht unterhaltsam zu lesen wäre. Im Gegenteil: Durch ein Arrangement, das ihre beiden Väter für sie getroffen haben, soll Hunter endlich auf den Boden der Realität zurückfinden und Sailor etwas aus ihrer Comfort Zone herauskommen. Doch als Hunter die Jagd auf die unerfahrene Sailor eröffnet, rechnet er nicht damit, dass sie zurückschlägt...


Sailor: "Ich glaube, wir werden eine gute Lektion füreinander sein, Sailor. Du weißt nicht, wie man lebt, und ich kann nichts anderes, als hedonistisch zu leben." Als er das sagte, wurde mir klar, dass ich mich niemals sterblicher gefühlt hatte. Aber sterblich zu sein, bedeutet lebendig zu sein. Ich hatte so viel zu verlieren. So viel zu gewinnen. So viel zu fühlen."


Da Hunter weder ein Drogenproblem hat noch zu Gewaltausbrüchen oder Grausamkeit neigt (immerhin etwas) und es um Sailors geistige und emotionale Gesundheit recht gut steht (zumindest für L.J. Shen-Verhältnisse), ist "Boston Belles" etwas weniger hart zu lesen als "All Saints High". Dennoch - und das kann man bei den Büchern der Autorin nicht oft genug betonen - ist die Geschichte sehr derb und explizit geschrieben, bringt in die ein oder andere verstörende Situation, bereitet Unwohlsein und bricht das Herz und lullt die Leser in alles andere als eine romantische Wohlfühlatmosphäre ein. "Boston Belles" ist weit davon entfernt, eine typische Haters-to-Lovers-Geschichte zu sein. Ja, die Geschichte war intensiv und leidenschaftlich, wie im New Adult Genre erwünscht, aber sie ging auch an die Grenze der Menschlichkeit ihrer gebrochenen Protagonisten, ... und ab und zu darüber hinaus. On top gab es hier wieder eine reichhaltige Metaphorik, die vor allem auf die Jagd und somit auf ein Wortspiel mit Hunters Namen abzielt und benutzt wird, um die Atmosphäre mit noch mehr Düsternis anzureichern. Neben diesen Kunstmotiven verdunkeln vor allem Gefühle wie Begehren, Rache, Hass und Verachtung die Atmosphäre, die nur ab und zu von positiveren Anklängen abgelöst werden. Die Autorin bedient sich der ganzen Gefühlspalette, um ihre Figuren leiden, taumeln und fallen zu lassen, nur um sie danach liebevoll wieder aufzurichten.


Hunter: "Ich bin so nie einem Mädchen begegne, das gleichzeitig so kalt und so feurig war. In einem Moment denke ich, dass du mit Sicherheit in Ohnmacht fällst, wenn ich deine Hand berühre, und im nächsten Moment bin ich mir sicher, dass du mich im Schlaf umbringen wirst. Du bist echt ´ne komische Nummer, KK."


Grundsätzlich bin ich absolut kein Fan von Dark Romance mit toxischen Beziehungen, intriganten Manipulationen, hartem Mobbing und romantisierter Gewalt und bevorzuge eher "harmlose" Liebesgeschichten. Auch wenn alles, was L. J. Shen schreibt, definitiv Anklänge von Dark Romance hat, gefällt mir bei ihren Geschichten, dass ihre Figuren sich den Grenzen, die sie überschreiten bewusst, dass Richtig und Falsch immer klar getrennt und Fehlverhalten und Missstände nicht romantisiert werden. Auf diese Art kann man sich in einem sicheren Raum der Düsternis, Wildheit, Abhängigkeit und Zügellosigkeit der Geschichte stellen, die auch negative Gefühle voll ausschöpft und wird nicht von ständigen Cringe-Attacken überfallen, wie oft bei anderen Büchern des Genres. Denn mit der ganzen Düsternis kommt auch eine krankhafte Faszination, die ich gar nicht leugnen will. Diese drückt sich nicht nur durch die zwiespältigen Handlungen der Protagonisten im Buch aus, sondern überträgt sich auch auf den Leser. Die Autorin offenbart menschliche Abgründe und man selbst ist zu mitgerissen, um wegsehen zu können.


Sailor: "Ich wusste nicht, wie so was möglich war, aber mit den Wunden und Schrammen sah er noch besser aus. Wie ein brandneues Auto mit dem ersten Kratzer, der es von irgendeinem Auto in dein Auto verwandelte - mit einer gemeinsamen Geschichte, Erinnerungen und Gepäck. In diesem Augenblick wünschte ich mir, ich hätte niemals einen Blick auf Hunter Fitzpatrick geworden, denn ich wusste mit absoluter Sicherheit, dass er trotz seines verwöhnten, schlechten Benehmens und seiner Vergnügungssucht von Natur aus gut, loyal und mutig war. Diese Dinge machten ihn für mich sehr gefährlich. Gefährlich attraktiv."


Als sich in der zweiten Hälfte dann zartere Gefühle hinter der toxischen Dynamik der beiden offenbaren, kommen dafür deutlich handfestere Probleme auf den Tisch, die das Weiterlesen ihrerseits wiederum schwer machen. Man sollte die vorangestellte Triggerwarnung also unbedingt beachten: Diese Geschichte bietet nämlich auch ernsten Stoff zum Nachdenken und befasst sich mit einem sensiblen Thema. Hier beweist die Autorin abermals, dass sie auch anders kann. Denn wenn man an der derben Sprache ihrer Figuren und ihren unschönen Masken vorbeisieht, ist die Geschichte einfach herzzerreißend schön und kunstvoll gemacht mit beinahe lyrischen Szenen und einer Intensität, die ich auch gerne mal in Originalsprache genießen würde.


Sailor: "Er war ein einsamer Prinz - unberührbar und dennoch voller Sehnsucht nach einer Umarmung. Brilliant, aber völlig missverstanden. Auf einem Thron aus unerfüllten Erwartungen und Enttäuschung. Ich fragte mich, ob er überhaupt wusste, dass er klug und tapfer war und ein gutes Herz hatte. Ich fragte mich, ob ich das törichte Mädchen sein würde, die ihm dieses Geheimnis eröffnete. Ich erkannte, dass er recht hatte: Ich war zwar die Bogenschützin, aber der wahre Jäger war er."


Neben der mitreißenden Atmosphäre und dem Spannungsfeld zwischen schön und schrecklich ist die Handlung aber leider recht dürftig. Außer der Tatsache, dass Hunter und Sailor zusammenleben, er im Familienunternehmen Royal Pipelines arbeitet und sie neben ihrem Training ab und zu mit ihren Freundinnen ausgeht, passiert nicht besonders viel, was zu vielen sehr kurzen Szenen mit unregelmäßigen Zeitsprüngen dazwischen führt. Einige Vorrezensenten haben kritisiert, dass ihnen hier ein roter Faden fehlen würde. Das würde ich nicht unbedingt so sagen, da durch einige offene Fragen und zusätzliche Rätsel durchaus so etwas wie ein größerer Rahmen neben dem Hauptkonflikt zwischen Hunter und Sailor aufgespannt wurde. Die beiden Hauptfragen - was genau für das schlechte Verhältnis von Hunter zu seiner Familie gesorgt hat und was es mit Sailors verbissener Rivalität mit der Bogenschützin Lana auf sich hat - werden jedoch leider viel zu lange vor der Geschichte hergeschoben, künstlich in die Länge gezogen und am Ende nicht wirklich zufriedenstellen (sprich realistisch) aufgelöst. Auch die geheimnisvollen Intrigen von Hunters Arbeitskollege Syllie soll wohl zusätzlich den Spannungsbogen aufpeppen, verläuft sich dann aber leider etwas in der Bedeutungslosigkeit. Ich würde also nicht das Fehlen, sondern eher die mangelhafte Umsetzung des roten Fadens kritisieren.


Sailor: "Du kannst es überleben", flüsterte er in meinen Mund. "Es?", fragte ich mürrisch. "Uns. Ich habe eine Seele aus Glas, Baby. Schön anzusehen, aber sie zerbricht leicht. Sie bringt dich zum Bluten und niemand kann sie festhalten."


Leider sind mir noch andere Dinge eher negativ aufgefallen. Die beiden Figuren waren mal wieder sehr jung, was zu gleich ihr manchmal etwas unreifes Verhalten erklärt, aber in Diskrepanz mit manch anderen Teilen der Handlung steht. Als Beispiel würde ich den dreistelligen Frauenverschleiß Hunters anführen, welcher mir bei seinen neunzehn Jahren reichlich übertrieben erschien. Auch einige Entwicklungen der Figuren waren nicht wie sonst sorgfältig vorbereitet, sondern kamen gegen Ende recht flott. Dazu kommen dann noch ein paar Schlaglöcher in der Übersetzung, die leider über ein, zwei Tippfehler hinausgehen. Neben der Tatsache, dass Hunter wohl im Original so deftig im Fernsehen flucht, dass ihn die Moderatorin zur Ordnung verweist, mir in der Übersetzung aber keine Formulierung aufgefallen ist, an der sie hätte Anstoß nehmen können, sind mir auch mehrere "Fitzgeralds" ins Auge gefallen, die angesichts der Tatsache, dass die Familie FITZPATRICK heißt, dort nichts zu suchen hatten.


Hunter: "Wir redeten nicht darüber, was wir waren. Oder was wir nicht waren. Wir existierten nur: ein Schmetterling und ein Mann, der schöne Dinge zu schätzen wusste. Nebeneinander im Auge eines Sturms, in den man uns geworden hatte."


Dennoch: jetzt bin ich sehr gespannt auf die Geschichte von Hunters großen Bruder Cillian, der wohl in "Boston Belles - Villian" auf Persephone, eine von Sailors besten Freundinnen trifft. Im dritten Teil wird es dann um Hunters süße, kleine Schwester Aisling gehen, die sich wider Erwarten von Sailors Bruder Sam, der ein übler Gangster... - nein, natürlich ein "ehrlicher Geschäftsmann, solange niemand das Gegenteil beweist" - ist. Dann bleibt im vierten Band nur noch die Geschichte von Sailors anderer besten Freundin Belle zu erzählen, die bestimmt auch noch einen (mir bislang noch unbekannten) Love Interest erhält, der es ganz schön in sich hat. Ich bin gespannt!



Fazit:


"Boston Belles - Hunter" hat die typische mitreißende Atmosphäre eines L.J. Shen Romans und spannt mit Figuren, Schreibstil und Handlung mal wieder ein Spannungsfeld zwischen schön und schrecklich auf. Leider konnten mich das Ende, einige Entwicklungen und Nebenhandlungsstränge nicht wie gehofft überzeugen.

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Veröffentlicht am 15.08.2021

"Dasselbe Herz, verschiedene Arten der Liebe"

Redwood Love – Es beginnt mit einer Nacht
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Handlung: Nachdem ich vom ersten Band der Redwood-Reihe aufgrund vieler Wiederholungen, einer sehr vorhersehbaren Handlung und einem plätschernden Beginn eher enttäuscht war, bin ich mit geringen Erwartungen ...

Handlung: Nachdem ich vom ersten Band der Redwood-Reihe aufgrund vieler Wiederholungen, einer sehr vorhersehbaren Handlung und einem plätschernden Beginn eher enttäuscht war, bin ich mit geringen Erwartungen an Drakes und Zoes Geschichte herangegangen. Zwar ist auch "Redwood Love - Es beginnt mit einer Nacht" weitgehend vorhersehbar, ohne große Überraschungen und nennenswerten Tiefgang - die Atmosphäre ist aber weitaus packender, sodass man die Geschichte ohne Längen in einem Rutsch durchlesen kann. Der Friends-to-Lovers Trope wird hier zusätzlich durch die Tatsache erschwert, dass Zoe die beste Freundin von Drakes verstorbener Ehefrau Heather war und beide auch nach den vergangenen Jahren noch mit ihrem Verlust zu kämpfen haben. Neben diesem Konflikt spielen außerdem die frühe Demenzerkrankung von Zoes Mutter und die daraus resultierenden Ängste eine Rolle und verleihen dem ansonsten idyllischen locker-leichten Wohlfühlbuch mehr Ernsthaftigkeit und Intensität, als das bei Cade und Avery der Fall war. Wie Band 1 liefert also auch der Abschluss der "Redwood Love"-Reihe was es verspricht: große Gefühle in einer kleinen Stadt - nur eben ohne den nervigen Augenroll-Faktor.

Figuren:
Der Hauptgrund, weshalb mich "Redwood Love - Es beginnt mit einer Nacht" viel mehr überzeugen konnte, als der Vorgänger sind jedoch die beiden Hauptfiguren. Zoe und Drake fand ich schon in Band 1 sehr spannende Charaktere. Die lebensfrohe Hundefriseuse und der grummelige, verwitwete Chirurg - die beiden haben im Gegensatz zu Cade und Avery von Anfang an eine prickelnde Chemie und sind auch mit ihren Problemen, Gefühlen und Wünschen viel greifbarer als ihre Vorgänger. Leicht überzeichnet und mit unrealistisch großen Traummann/Traumfrau-Vibes sind die beiden trotzdem, aber nach dem gefloppten Teil 1 will ich mal nicht so sein...

Schreibstil:
Mit Kelly Morans Schreibstil bin ich aber auch hier nicht ganz warm geworden. Schon bei Band 1 habe ich angemerkt, dass viele Formulierungen für meinen Geschmack viel zu plump waren und die teilweise sehr wörtlichen Übersetzungen den Lesefluss stören. Auch hier sind mir wieder viele gleiche Redewendungen und Beschreibungen ins Auge gestochen, die man aus vorherigen Szenen oder einem ihrer anderen Bücher schon kannte, sodass manchmal ganze Dialoge oder auch Teile der Sexszenen sehr formelhaft wirken. Ebenfalls irritiert hat mich die wechselnde personale Er-Erzählperspektive, die aufgrund der sehr hohen Dichte an Gefühlsbeschreibungen, Empfindungen und Gedanken nicht wirklich als das Mittel der Wahl erscheint. Angesiedelt ist die Geschichte natürlich wieder im beschaulichen Redwood, in dem jeder jeden kennt und jeder Dorfklatsch nach 5 Minuten über Twitter verbreitet wird. Kelly Moran hat echt ihr Bestes gegeben, um durch Blockhütten, Dorfbälle und wöchentliche Softball-Matches eine schnucklige Kleinstadt-Atmosphäre zu verbreiten, an einigen Stellen war mir aber auch das genau wie das Verhalten gewisser Nebenfiguren etwas over the top, sodass ich mittlerweile daran zweifle, ob Cozy Romance das richtige Genre für mich ist. Da mich jetzt aber schon noch interessiert, wie Gabby und Flynn zusammengefunden haben, werde ich dem zweiten Teil der Reihe auch noch eine Chance geben (don´t judge meine verschickte Reihenfolge 😂)


Die Zitate:

"Solange ich mich zurückerinnern kann, warst du da. Egal, ob du mich verrückter machst als einen Hutmacher oder mich dazu bringst, vor Lachen fast zusammenzubrechen, du bist da."

"Sie hatte die Hoffnung verloren. Sie hatte ihre Träume aufgegeben. Zoe, die sich mit ihrer Moral und ihrer wilden Loyalität allem stellen konnte. Zoe, die mehr Leben und Entschlossenheit in ihrem kleinen Finger hatte als der gesamte Rest der Menschheit. Zoe, die ihrer Mutter alles gab, was sie geben konnte, obwohl diese Mutter sie nicht einmal mehr erkannte. Zoe, die so viele Nächste durchwacht hatte, nachdem Heather gestorben war, damit er nicht allein im Dunkeln zurückbleiben musste. Zoe, die der Welt nur Feuer und Schwefel zeigte, um ihren sanften, süßen Kern darunter zu verbergen, als wäre er eine Schwäche. Lieber Himmel. Sie war perfekt gewesen. Wo war sie hin? Und konnte er sie zurückholen?"

"Zoe bestand nicht nur aus brennender Energie und Leidenschaft. Sie war auch herzzerreißend zärtlich. Ließ Risse sich schließen. Heilte Wunden. Sie war das unregelmäßige Schlagen eines verletzten Herzens. Sie behütete seine Seele. Und all das in diesem zierlichen Bündel unterdrückten Kummers, versteckt unter aufgesetzter Zufriedenheit."

"Dasselbe Herz, verschiedene Arten der Liebe."




Das Urteil:

Greifbarere Figuren mit prickelnder Chemie tragen durch die recht vorhersehbare Handlung und täuschen darüber hinweg, dass sowohl die Geschehnisse als auch der Schreibstil gegenüber dem ersten Teil nicht viel Neues liefern kann.

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