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Veröffentlicht am 16.11.2021

Die Wunderwelt seiner Geschichten

Am Ende bleiben die Zedern
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„Du kannst nach weiteren Straßen suchen, und ich bin sicher, du wirst sie finden. Du kannst diese Straßen sogar entlanggehen. Aber immer, wenn du an ihr Ende kommst, wirst du merken: Du stehst wieder an ...

„Du kannst nach weiteren Straßen suchen, und ich bin sicher, du wirst sie finden. Du kannst diese Straßen sogar entlanggehen. Aber immer, wenn du an ihr Ende kommst, wirst du merken: Du stehst wieder an derselben Kreuzung, von der aus du gestartet bist.“

Inhalt

Als Samir gerade einmal 8 Jahre alt ist, verschwindet sein Vater spurlos. Aber was treibt ihn von seiner Frau und den beiden gemeinsamen Kindern fort, wo ihm doch erfolgreich die Flucht aus dem Bürgerkrieg im Libanon gelungen ist? Samir ist der festen Überzeugung, dass sein Vater wiederkommt, auch wenn er aus freien Stücken gegangen ist und seither keinerlei Kontakt pflegt. Die Spurensuche nach seinem geliebten Geschichtenerzähler, mit dem ihm so viel verbunden hat, wird für Samir zur Passion, er kann einfach nicht loslassen und verpasst derweil sein Leben in der Gegenwart, wenn es ihm nicht endlich gelingt mit seiner Vergangenheit Frieden zu schließen. Mit fast 30 Jahren begibt er sich erstmals in den Libanon, mit der Hoffnung dort endlich Antworten auf seine drängendsten Fragen zu finden und vielleicht gelingt es ihm ja doch, jenen Entschwundenen aufzuspüren, den er schon so lange und intensiv sucht.

Meinung

Dieser Roman hat tatsächlich schon 6 lange Jahre in meinem Regal geschlummert, bevor ich es nun geschafft habe, ihn zu lesen. Damals habe ich ihn mir auf Grund zahlreicher positiver Leserstimmen zugelegt und ihn dann doch immer mehr aus den Augen verloren. Die Kombination aus einer berührenden Familiengeschichte und dem dramatischen Schicksal des Nahen Ostens, wie es der Klappentext verspricht, klangen sehr vielversprechend, weil ich es mag, literarisch den Spuren einer Geschichte zu folgen und mich mit Menschen zu identifizieren oder ihre Hintergründe kennenzulernen. Nur leider, war meine Erwartungshaltung an diese Story eindeutig zu hoch.

Sprachlich liest sich der Text angenehm, hegt aber keine besonderen Ansprüche, was auch daran liegen mag, dass im ersten Drittel des Buches ein Achtjähriger der Erzähler ist. Doch auch auf den folgenden Seiten bleibt der Anspruch, welchen ich hatte, auf der Strecke. Generell zwar eine interessante Geschichte, die hier aber mehr und mehr ihren Reiz verliert.

Meine Kritikpunkte beziehen sich im Wesentlichen auf den gewählten Fokus, der ganz tief in die Seele eines Betroffenen eindringt, um seine Handlungen deutlich zu machen und alle Beweggründe offenzulegen. Zunächst sind es nur grobe Pinselstriche, die geführt werden, doch dann bekommt der Leser die Scheuklappen aufgesetzt und muss sich fast zwanghaft in die Suche nach dem Vater ergeben, denn mehr Handlungsspielraum bleibt ihm nicht.

Ich habe eindeutig eine zweite Perspektive vermisst, gerade weil sich der Erzähler so zum Träumer mausert und fanatisch seinen verpassten Chancen nachtrauert – so wenig Entwicklungspotential für einen jungen Menschen, dass erscheint mir etwas weltfremd, zumal ich selbst in diesem Alter meinen Vater verloren habe, doch da war meine Gedankenwelt mit 30 Jahren eine ganz andere.

Der Text wird immer pathetischer und hat mich irgendwann verloren, da hilft es dann leider auch nicht, wenn man sehr gute Einblicke in die politische Situation der damaligen Zeit bekommt und gut nachvollziehen kann, welche Alternativen den betroffenen Familien eigentlich blieben.

Fazit

Leider werden es hier nur 3 Lesesterne für eine durchaus lesenswerte Geschichte, die aber um die Hälfte des Textes hätte gekürzt werden können, weil sich die Gedanken immer nur um ein und dieselbe Sache drehen.

Menschlich betrachtet konnte mich die dominante Erzählfigur nicht überzeugen und sie nimmt der Hintergrundgeschichte ihren Reiz, weil die Gegenwart in Anbetracht der traurigen Vergangenheit nur wenig Augenmerk erhält. Samir trauert seinem Vater hinterher, dessen einfühlsamen Geschichten, die wie er später herausfindet, nicht nur der Phantasie des Erzählers entspringen.

Er setzt sich intensiv mit den Begriffen Heimat und Identität auseinander und verfehlt doch eine konkrete Aussage. Irgendwie hatte ich immer das Gefühl, der Protagonist möchte Mitleid beim Leser erwecken, doch damit kann dieser Roman nicht wirklich bei mir punkten.

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Veröffentlicht am 24.08.2021

Im Visier der Ermittler

Die Verlorenen
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„Ich habe nie viel von Selbstgeißelung gehalten. Etwas akzeptieren ist nicht das Gleiche wie verdrängen. Oder vergessen.“

Inhalt

Innerhalb weniger Stunden zerbricht das ohnehin fragile Leben von Jonah ...

„Ich habe nie viel von Selbstgeißelung gehalten. Etwas akzeptieren ist nicht das Gleiche wie verdrängen. Oder vergessen.“

Inhalt

Innerhalb weniger Stunden zerbricht das ohnehin fragile Leben von Jonah Colley, der seinem Freund, mit dem er seit Jahren keinen Kontakt mehr pflegt, mitten in der Nacht zu Hilfe eilt, nachdem ihm dieser, besorgt und aufgeregt seinen Standort verraten hat.

In einem verlassenen Gebäude einer Schiffswerft, erwartet Jonah nicht nur ein grausiger Fund, mit drei in Plastik verpackten Leichen, sondern auch sein toter Freund Gavin und der vermeintliche Täter, der kurzentschlossen Jonahs Kniescheibe zertrümmert, um seine Spuren zu verwischen. Bald ist für Jonah, der selbst bei einer Spezialeinheit der Londoner Polizei arbeitet klar, dass sie jüngsten Ereignisse mit seiner persönlichen Vergangenheit in Verbindung stehen. Denn anscheinend hat Gavin zehn Jahre nach dem Verschwinden von Jonahs Sohn Theo eine heiße Spur aufgetan und ist dieser nun zum Opfer gefallen.

Trotz seines schlechten Gesundheitszustands macht sich Jonah auf die Suche nach der Wahrheit, selbst wenn er währenddessen immer mehr ins Visier der ermittelnden Polizeibeamten gerät und sein Auftauchen an diversen Tatorten bald nicht mehr erklären kann …

Meinung

Der englische Thrillerautor Simon Beckett gehört zu meinen Favoriten, habe ich doch die David-Hunter-Reihe mit vielen Spannungsmomenten sehr genossen und mich über komplexe Handlungen und schlüssige Aufklärungen gefreut. Umso interessierter war ich nun an der mit diesem Band beginnenden Reihe um Jonah Colley. Leider war meine Erwartungshaltung wohl etwas zu hoch.

Zwar gelingt es Beckett auch hier, durch einen ansprechenden Schreibstil, diverse Cliffhänger und eine hinreichend spannende Handlung den Leser bei der Stange zu halten, so dass man die Lektüre schnell und unkompliziert konsumieren kann, aber darüber hinaus bleibt wenig Nennenswertes bestehen.

Meine Kritikpunkte liegen im Wesentlichen an der stark konstruierten Story, die deshalb so gewollt und unrealistisch erscheint. Mir hat es weder gefallen, dass ein über zehn Jahre alter Vermisstenfall so dramatische Auswirkungen haben soll, noch wie der Protagonist sein Leben anpackt und mit den aktuellen Entwicklungen umgeht. Besonders die einseitige Erzählperspektive, des fast schon heldenhaften Jonah Colleys, hat mich zunehmend frustriert. Dadurch gerät der Leser schnell in ein Schwarz-Weiß-Denken und verliert die wichtigen Dinge aus den Augen. Außerdem wirkt es für mich absolut aufgesetzt, wie Jonah, die Ermittlungen seiner Polizeikollegen behindert, anstatt mit offenen Karten zu spielen.

Spätestens ab der Hälfte des Buches, war ich nicht mehr richtig in der Story drin und das Interesse für Jonah und sein wahrhaft deprimierendes Schicksal, hat merklich nachgelassen. Das konnte dann auch der Showdown nicht mehr retten, der mir wiederrum zu überfrachtet und fatal erschien, wenn man bedenkt, wie mühselig die Seiten davor waren. Aus dieser Geschichte hätte man viel mehr machen können, insbesondere durch mehr involvierte Erzählstimmen, denn ein paar hysterische Frauen, grüblerische, misstrauische Polizisten und ein Superheld sind für mich keine gelungene Kombination und bieten irgendwie nicht das gewünschte Unterhaltungsniveau.

Fazit

Hier vergebe ich jetzt leicht enttäuschte 3 Lesesterne und eine eingeschränkte Empfehlung. Denn als Fan des Autors kann man das durchaus verkraften, während ein Neuling besser zur David-Hunter-Reihe greifen sollte. Zu vieles erscheint hier konstruiert und wirkt nur mäßig inspirierend. Ich bin selbst noch unsicher, ob ich diese Reihe weiterverfolgen werde oder nicht, vielleicht gebe ich dem zweiten Band noch eine Chance und sehe dann weiter. Zum Glück kann Simon Beckett sehr gut schreiben, so dass selbst eine durchschnittliche Story mit Längen und Ungereimtheiten, zwar nicht sonderlich glänzt aber doch bis zum Ende gelesen wird.

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Veröffentlicht am 05.07.2021

Wir waren, die wir waren

Schicksal
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„Was bedeutet schon der Verzicht auf ein bisschen Bequemlichkeit gegenüber dem Streben nach etwas, das größer ist als du selbst, größer als deine Bedürfnisse.“

Inhalt

Ihr kleinster gemeinsamer Nenner ...

„Was bedeutet schon der Verzicht auf ein bisschen Bequemlichkeit gegenüber dem Streben nach etwas, das größer ist als du selbst, größer als deine Bedürfnisse.“

Inhalt

Ihr kleinster gemeinsamer Nenner ist ein Verstorbener Mann, der bei beiden Frauen zu Lebzeiten Spuren hinterlassen hat. Für Rachel war er ein Verbündeter im Kampf gegen die Obrigkeit und ihr erster Ehemann, auch wenn die Verbindung nur ein Jahr hielt. Für Atara war er der Vater, den sie zwar liebte, aber nie richtig durchschaute. Die Tochter setzt nun alles daran, jene alte Frau kennenzulernen, die ihren Vater in jungen Jahren liebte, doch mit dem es keine Zukunft gab. Noch während des ersten Treffens ist sie sich unsicher, was genau sie eigentlich wissen möchte, doch eine seltsame Nähe zwischen den beiden stellt sich dennoch ein. Rachel ist sogar bereit sie nochmals zu empfangen, um ihr mehr zu erzählen, doch Atara trifft dabei eine folgenschwere Entscheidung, die ihr im Nachhinein unverständlich erscheint. Warum nur schenkt sie der Vergangenheit so viel Aufmerksamkeit, während ihr gegenwärtiges Glück restlos zerbricht?

Meinung

Dies war mein erster Roman der Autorin, die bereits zahlreiche Bücher veröffentlicht hat und sich in der zeitgenössischen Belletristik einen Namen erarbeitet hat. Auch der Klappentext hat mich angesprochen, denn eine schicksalhafte Begegnung, die alles in Frage stellt und zahlreiche familiäre Verstrickungen empfinde ich als eine gute Basis für ein Buch über Schuld, Liebe und das Leben selbst. Doch so intensiv wie der Klappentext ist die folgende Geschichte eher nicht, was an allerlei Dingen liegt, die mich im Einzelnen gar nicht so gestört haben, in ihrer Gesamtheit jedoch das Lesevergnügen irgendwie trübten.

Bereits im ersten Drittel des Buches hat mich in erster Linie der zwischenmenschliche Kontext angesprochen, denn die Gefühlsebene der Protagonisten wird lebendig, sie formt aus bloßen Namen echte Charaktere, lässt das Leben authentisch erscheinen und macht Erinnerungen sichtbar, die Spuren hinterlassen haben. Die zahlreichen Sprünge zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit haben mich zwar etwas irritiert aber nicht weiter gestört, da der Text von zwei vollkommen verschiedenen Erzählerinnen wiedergegeben wird und diese haben auch einen ganz anderen Hintergrund und damit individuelle Schwerpunkte. Was mir aber zunehmend Bauchschmerzen bereitet hat, war die mäandernde Erzählweise, die einfach nicht auf den Punkt kommt. Mal geht es um zerbrochene Freundschaften, die durch politische Verfolgungen ausgelöst wurden, mal um die Mutterschaft, die anklagend hinterfragt wird und bei der es nicht um die Kinder geht (die noch dazu längst erwachsen sind), sondern um die Mütter und ihre angeblichen Verfehlungen. Alles blieb so seltsam blass und unbestimmt, dass es mir schwerfiel eine gewisse Aussagekraft zu extrahieren.

Im zweiten Teil des Buches verstärkt sich leider dieser Eindruck, mittlerweile geht es eher um den Verlust geliebter Personen und die damit reuevoll einhergehende Selbstzerstörung, die ständig um die Frage kreist: „Warum habe ich mich so entschieden? Hätte ich das Schicksal nicht aufhalten können? Wenn ich mich doch nur anders entschieden hätte, dann wäre alles anders gekommen? Dabei versinkt gerade die jüngere Protagonistin Atara immer mehr in dieser Spirale der Selbstanklage und fällt in eine ausgewachsene Depression, die leider mit der ursprünglich aufgenommenen Handlung nur noch wenig Berührungspunkte aufweist.

Eine Abwärtsspirale setzt ein, die mich als Leser immer mehr auf Distanz bleiben lässt, denn wie müßig und überflüssig sind doch diese Fragen und selbst Antworten würden den Verlust nicht mildern – das ist zu wenig Stoff für ein Buch, welches mit dem Kampf einer Idealistin begonnen hat, die in der Untergrundmiliz gegen die Engländer und für einen israelischen Staat kämpfte. Gerade die fehlenden Berührungspunkte der zwei Frauen, die beide kein leichtes Schicksal hatten, waren mir zu dürftig und ihre Persönlichkeiten über die Länge des Buches doch sehr anstrengend.

Positiv bewerten möchte ich hingegen den Schreibstil, der nicht nur sehr treffende Attribute findet und tiefgreifende Gedankengänge impliziert, sondern sprachlich anspruchsvoll und stellenweise sehr literarisch wirkt. Ebenso treffsicher ist auch die Reflexion der Gedankenwelt gelungen, die mich zumindest in ihrer Ausführung überzeugen konnte, dass diese beiden Pluspunkte allein noch nicht die mäßig interessante Handlung wettmachen, steht auf der Gegenseite und lässt mich zu einer eher mittelmäßigen Bewertung tendieren.

Fazit

Ich vergebe 3 Lesesterne für einen zeitgenössischen Roman, der durch zwei Menschenleben führt und deutlich macht, wie dünn die Verkettung mancher Bindung sein kann, wie willkürlich das Schicksal zuschlägt und welch elementare Spuren es dennoch hinterlässt. Außerdem habe ich mir eine andere Art der Lektüre vorgestellt mit deutlichen Handlungsschwerpunkten und einer größeren Fokussierung.

Dem Text fehlt es an Durchschlagskraft, an Stärke und Bedeutung, dafür bietet er das Psychogramm der menschlichen Anklage gegen sich selbst und fehlerhafte Entscheidungen in Verbindung mit etwas anstrengenden Protagonisten – das muss man hier aushalten können, andernfalls sinkt die Leselust mit jeder weiteren Seite. Der Autorin werde ich aber noch eine zweite Chance geben, hier liegt meine Kritik in erster Linie bei der Handlung, die mich viel zu wenig angesprochen hat, da muss noch ein weiteres Buch mehr Klärung bringen.

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Veröffentlicht am 08.05.2021

Der bewegungslose Moment der Mitte

Alte Sorten
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„Sie sah, dass keiner verstand, warum man keine Fragen stellte, wenn man sah, dass man keine Antworten bekommen würde.“

Inhalt

Sally und Liss sind Einzelgängerinnen, sie fühlen sich von anderen Menschen ...

„Sie sah, dass keiner verstand, warum man keine Fragen stellte, wenn man sah, dass man keine Antworten bekommen würde.“

Inhalt

Sally und Liss sind Einzelgängerinnen, sie fühlen sich von anderen Menschen bevormundet, gegängelt oder schlicht und einfach missverstanden, deshalb lebt jede ihr Leben in einer Blase. Sie empfinden menschliche Nähe als Möglichkeit, ziehen aber die Einsamkeit vor, weil sie sich der zahlreichen Auseinandersetzungen nicht gewachsen fühlen, die Kommunikation mit sich zu bringen scheint. Doch während die 17-jährige Sally erst kürzlich ihre Zeit in einer Klinik für Essgestörte verbrachte, hat sich die 50-jährige Liss ein einfaches Leben auf dem elterlichen Bauernhof aufgebaut, den sie nun fast allein bewirtschaftet. Seltsamerweise fühlen sich die beiden Frauen auf Anhieb miteinander wohl, weil sie die gleiche Lebenseinstellung teilen und plötzlich merken, dass sie gar nicht allein dastehen, auch wenn man sie jahrelang so behandelt hat, als wäre es ihre eigene Schuld, dass sich keiner mit ihnen wahrhaftig beschäftigen möchte. Sally beschließt auf unbestimmte Zeit bei Liss zu bleiben und ihr bei den zahlreichen Arbeiten auf dem Hof zu helfen, Liss weiß, dass die gemeinsamen Stunden endlich sind, denn schließlich ist Sally weggelaufen und wird schon als vermisst gemeldet, dennoch gibt sie der jungen Frau ein Alibi und lässt sie bei sich wohnen. Denn auch sie merkt, wie schön es ist, einen Menschen bei sich zu haben, der so viele Erinnerungen weckt, der die Vergangenheit wieder lebendig werden lässt und dabei zwar in alten Wunden rührt, aber auch neue Hoffnung weckt …

Meinung

Nachdem ich vor kurzem den Roman „Der große Sommer“ des deutschen Autors Ewald Arenz gelesen habe und davon sehr begeistert war, habe ich mir kurzentschlossen dieses Buch geholt, um abermals in die Welt seiner erschaffenen Protagonisten einzutauchen. Dementsprechend hoch war auch meine Erwartungshaltung an die Lektüre, die von zahlreichen Lesern als positiv und empathisch bezeichnet wird. Doch leider kann ich mich dieser weitläufigen Meinung nur bedingt anschließen, weil dieses Buch für mich eher ein schön geschriebener Wohlfühlroman mit wenig Berührungspunkten war. Ich möchte ihn als klassische Unterhaltungsliteratur mit einprägsamen Naturbeschreibungen kennzeichnen, die mir aber gerade auf emotionaler Ebene sehr fremd und wenig aussagekräftig blieb.

Prinzipiell ordne ich meine Kritikpunkte aber den persönlichen Befindlichkeiten unter, denn dieses Buch trifft sicherlich den Nerv vieler Leser, weil es in einem einprägsamen, alltagstauglichen aber gleichermaßen schönen Schreibstil verfasst wurde, der sich flüssig lesen lässt, zum Verweilen einlädt und eine eigene kleine Welt heraufbeschwört. Mein Missfallen bezieht sich auch in erster Linie auf den Inhalt, weniger auf die Ausführung.

Diesen Roman kennzeichnet eine gewisse Handlungsarmut, denn das Augenmerk liegt oft im Bewältigen der zahlreichen Aufgaben, die ein Bauernhof mit sich bringt. Deshalb erfährt der Leser meines Erachtens zu detailliert, wie Brot gebacken, Kartoffeln geerntet, Trauben gelesen, Schnaps gebraut und Traktoren gefahren werden. Dadurch entsteht zwar ein gewisses Flair, welches das Landleben gekonnt heraufbeschwört, es ergibt sich aber auch eine Entschleunigung, die mir hier eher kontraproduktiv erschien.

Gerade der zwischenmenschliche Bereich kommt in der ersten Hälfte des Buches zu kurz, denn entweder gehen sich die Protagonisten aus dem Weg, oder sie schreien sich an oder sie versinken in ihrer eigenen Welt, zu der ich keinen Zugang gefunden habe. Besonders schade fand ich die Tatsache, dass gerade die Vergangenheit der beiden Frauen eher stiefmütterlich behandelt wird, denn das wäre genau der Punkt gewesen, der mich interessiert hätte – warum sind sie so geworden, was ist ihnen zugestoßen? Dieser Thematik widmet sich der Autor allerdings erst im letzten Drittel und dann nimmt der Text zwar an Fahrt auf, aber es bleibt einfach zu wenig Zeit, um die Hintergründe noch entsprechend zu würdigen, zumal sich die ein oder andere dramatische/ aufgesetzte Wende ergibt. Tatsächlich lädt der bildhafte Schreibstil zu einer Verfilmung ein, die ich hier wahrscheinlich sogar besser finden würde, als das Buch.

Fazit

Ich vergebe leicht enttäuschte 3 Lesesterne für diesen etwas glatten, für mich unbedeutenden Wohlfühlroman, der zwar einprägsame Bilder heraufbeschwört und eine nette Geschichte erzählt aber längst nicht mit meinen Erwartungen Schritt halten konnte. Ich habe mich stellenweise etwas gelangweilt und vergeblich versucht, den beiden Protagonistinnen etwas abzugewinnen oder wenigstens ihr Wesen besser zu verstehen. Beides ist mir nicht gelungen. Die Prämissen, die mir bei der Bewertung einer Lektüre wichtig sind, wurden hier vernachlässigt und ich werde den Inhalt deshalb nicht in Erinnerung behalten. Das Buch ist mir zu seicht, zu unbedeutend und zu wenig mitreißend verfasst. Das sich alles in Wohlgefallen auflöst, passt zum Kontext, erscheint mir aber irgendwie irrelevant, weil mich die Geschichte davor einfach nicht richtig packen konnte.

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Veröffentlicht am 01.05.2021

Diener der idealen Gerechtigkeit

Das Haus des Windes
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„Und wie seltsam, wie merkwürdig, dass etwas so mächtig werden kann, wenn es am falschen Ort Wurzeln schlägt. Ideen auch, murmelte ich. Ideen.“

Inhalt

Joe Coutts steht an der Schwelle zur Pubertät und ...

„Und wie seltsam, wie merkwürdig, dass etwas so mächtig werden kann, wenn es am falschen Ort Wurzeln schlägt. Ideen auch, murmelte ich. Ideen.“

Inhalt

Joe Coutts steht an der Schwelle zur Pubertät und verbringt seine Nachmittage gerne draußen im Indianerreservat in Gesellschaft seiner Freunde, mit denen er alle Gedanken teilt, die sich ihm aufdrängen. Bis eines Tages seine Mutter Opfer einer Vergewaltigung wird und sich wie ein Häufchen Elend in ihr Zimmer verzieht und fortan weder für den Vater, noch den Sohn ansprechbar ist. Für Joe bricht eine Welt zusammen, nicht nur weil die Erwachsenen mehr zu wissen scheinen als er, sondern vor allem weil sein geordneter, friedvoller Familienalltag vollkommen auf den Kopf gestellt wurde. Langsam nähert sich der Heranwachsende einer Wahrheit, die er zwar eigentlich nicht kennen möchte, die ihm aber hoffentlich die Mutter zurückbringt, deren körperliche Hülle mittlerweile wieder durchs Haus eilt, die aber dennoch eine gebrochene Frau ist. Als der mutmaßliche Vergewaltiger wieder ganz in der Nähe auftaucht, reift in Joe ein mörderischer Plan, denn Gerechtigkeit, die nicht vollzogen wird, macht nichts ungeschehen und wenn kein anderer dazu fähig ist, Rache zu üben, dann wird er eben selbst die Dinge, die getan werden müssen, in die Hand nehmen …

Meinung

Der vorliegende Roman der amerikanischen Bestsellerautorin, die hiermit den National Book Award für den besten Roman des Jahres erhielt, thematisiert nicht nur die Vergewaltigung und Selbstjustiz, sondern zeigt ein buntes Leben zwischen der Tradition und der Moderne in den Indianerreservaten von North Dakota. Während die Handlung des Buches im Jahre 1988 angesiedelt ist, schildert der Erzähler die Dinge aus seiner Erinnerung, die durchsetzt ist mit zahlreichen Momentaufnahmen, zwischen dem ganz normalen Leben als Teenager, seiner Identität und Herkunft im Reservat und den Handlungen, denen er sich schuldig gemacht hat. Es sind also eine Menge Hintergründe und viele Jahre des Lebens, die sich hier auf eine relativ kurze Zeitspanne erstrecken und an deren Ende ein abgeschlossener Reifungsprozess steht, bei dem ein Junge zum Mann geworden ist.

Das Buch stand nun schon etliche Jahre ungelesen im Regal, da ich aber nach dem Werk „Der Gott am Ende der Straße“, welches ich im Erscheinungsjahr gelesen habe, unbedingt noch ein weiteres Buch der Autorin kennenlernen wollte, habe ich nun dieses hier in Angriff genommen und bin mit einer bestimmten Erwartungshaltung an die Lektüre herangegangen. Erhofft habe ich mir einen emotional-intensiven Roman über die Frage der Schuld und die Fallen der Entscheidungsgewalt in Verbindung mit dem Leben eines Jungen, der Rache üben möchte und dem es auch gelingt – jedoch mit der Ambivalenz widerstreitender Gefühle, die die Grenzen zwischen Recht und Gerechtigkeit verwischen lassen. Und dieser Sachverhalt wird im vorliegenden Text stiefmütterlich behandelt, weil er eigentlich nur der Aufhänger für die Story ist und das eigentliche Setting ganz andere Prioritäten setzt.

Viel intensiver und konkreter wird das alltägliche Leben im Reservat beleuchtet, ebenso wie die Gefühlswelt heranwachsender Jungen, die sich plötzlich fürs weibliche Geschlecht interessieren und heimlich Bier trinken. Es geht um Freundschaft und Zusammenhalt, um ein Leben in einem Grenzgebiet, wo es klare Richtlinien und unterschiedliche Gesetze gibt und die Menschen sehr genau darauf achten, wer mit wem Umgang pflegt. Tatsächlich hat mir dieser ausufernde, umfassende Stil, der so viele Aspekte aufgreift am allerwenigsten gefallen, denn der Text mäandert und kommt vom Hundertsten ins Tausendste, ohne eine klar erkennbare Linie, eine zielgerichtete Struktur. Die Inhalte, die der Klappentext verspricht, sind dabei eher Nebensächlichkeiten und gehen irgendwo zwischen der Stimmung und den Menschen der Geschichte verloren.

Sprachlich hingegen habe ich kaum etwas zu meckern. Louise Erdrich schreibt formschön, lässt Bilder lebendig werden und bündelt Gefühle an der richtigen Stelle, dass die Inhalte dabei schwanken, ist für die Geschichte rund um Joe Coutts nicht störend, wohl aber für die Gesamtausrichtung des Romans. Für mich war das Lesen ein ständiges Auf und Ab, ein Wechsel zwischen langatmigen, uninteressanten Passagen und dann wieder dem Aufblitzen genialer Gedankengänge, denen ich voller Eifer folgen konnte. Die Story ist also weder langweilig noch absolut spannend, sie entspricht nur nicht meinen persönlichen Ansprüchen.

Fazit

Ich vergebe 3 Lesesterne für diesen Roman über das Erwachsenwerden eines jungen Mannes, der von Rachegelüsten gequält wird und der in einer Welt aufwächst, die sehr genau zwischen Gut und Böse unterscheidet. Leider konzentriert sich das Buch vielmehr auf das Leben im Indianerreservat als auf die tatsächlichen Ereignisse zwischen Vergewaltigung, Rachegedanken und Mord und dadurch hat es mir diesbezüglich eindeutig zu wenig Input geliefert. Die fehlende Ausrichtung und die verschwimmenden Konturen sind Kritikpunkte, die mich ebenfalls sehr gestört haben, so dass ich ein im Kern gutes Buch eher als enttäuschend empfand und es nur bedingt weiterempfehlen kann.

Zunächst dachte ich, dass ich mit „Der Gott am Ende der Straße“ ein inhaltlich schwächeres Buch der Autorin erwischt hätte, doch nun merke ich, dass auch dieses hier nicht ganz meinen Geschmack trifft. Im Regal wartet nun noch „Ein Lied für die Geister“ auf mich, sollte auch dieses nur eine mittelmäßige Bewertung schaffen, dann werde ich die Autorin von meiner Liste streichen, nicht weil sie schlecht schreibt, sondern weil mir die Bücher zu wenig Gedankenfutter liefern und mich emotional nicht erreichen können.

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