Unbedingt lesen!
September 1953, North Dakota, Reservat des Turtle Mountain Band of Chippewa. Stammesratsvorsitzender Thomas Wazhashk - benannt nach der tapferen Bisamratte - bewirtschaftet tagsüber sein Farmland und arbeitet ...
September 1953, North Dakota, Reservat des Turtle Mountain Band of Chippewa. Stammesratsvorsitzender Thomas Wazhashk - benannt nach der tapferen Bisamratte - bewirtschaftet tagsüber sein Farmland und arbeitet nachts als Wächter der Lagersteinfabrik, deren Ansiedlung am Rande des Reservats den Bewohnern ein bescheidenes, aber stetes Einkommen ermöglicht. Zwischen den Kontrollgängen erledigt er die Post; Briefe an die Verwandten und die Politik, geschrieben in vollendet schönen Schwüngen und gewähltem Ausdruck. Thomas war einst Schüler in Fort Totten, einem jener Internate, in die viele Kinder der Ureinwohner zum Zwecke der Zivilisierung verschleppt wurden. Unsägliches ist ihnen dort widerfahren. Doch was er lernte, vermag sie jetzt vielleicht zu retten, denn den indianischen Nationen droht die Terminierung.
Der Kongress in Washington hat mit der sogenannten House Concurrent Resolution 108 beschlossen, sie zu "emanzipieren", allen US-Bürgern gleichzustellen. Die Reservate sollen aufgelöst, die Ländereien verkauft, die Bewohner - von der Autorin schlicht Indianer genannt - in die Städte umgesiedelt und damit ausgelöscht werden, als hätte es sie nie gegeben.
"Das ist es dann also, dachte Thomas, als er die nüchternen Satzgirlanden der Gesetzesvorlage vor sich sah. Wir haben die Pocken überlebt, die Winchester-Repetierbüchse, die Hotchkiss-Kanone, die Tuberkulose. Wir haben die Grippeepidemie von 1918 überlebt und in vier oder fünf Kriegen für die USA gekämpft. Und jetzt vernichtet uns diese Ansammlung knochentrockener Wörter. Die Veräußerung, das Einstellen, die Terminierung, Obiges, Folgendes, besagte."
Doch der Legende zufolge war es die tapfere Bisamratte, die ihr Leben gab, um die Welt entstehen zu lassen, auf der sie immer noch lebten. Die Bisamratte, die Thomas Wazhashk seinen Namen gab...
Mit dem vorliegenden Roman hat Louise Erdrich ihrem Großvater, der Ende 1953 den Protest der Ureinwohner mit einer kleinen Delegation von North Dakota bis in den Kongress nach Washington trug und dabei seine Gesundheit ruinierte, ein literarisches Denkmal gesetzt.
Wie sie das tut, hat zu Recht den Pulitzer Preis verdient. Ihre bild- und detailreichen Schilderungen der indianischen Lebenswelt zeugen von intimer Milieukenntnis, tiefer Liebe und Verwurzelung. Der Roman ist mit vielen wunderschönen poetischen Details - etwa der Geschichte von Thomas' Flickendecke - und zarten lyrischen Bildern ausgestattet, die Gesine Schröder ebenso sanft ins Deutsche übertragen hat. Mir fallen jetzt zur Nachtzeit nicht mehr nur die Augen zu, sondern ich "treibe auf den Flusslauf des Schlafes hinaus".
Obwohl ihre Charaktere, Lebende wie Geister, alle auffallend empathisch sind, zeichnet die Autorin sie keineswegs als idealisierte Heroen, sondern auch als Menschen in Zweifel und Zwiespalt. Sie irren, treffen fragwürdige, aber selten eigennützige Entscheidungen. Die Gemeinschaft, so die Botschaft, ist das einzige, was sie letztlich retten wird. Ein feiner untergründiger Humor durchdringt dabei fast den gesamten Text und lässt vor allem die Dialoge sehr lebendig wirken.
"Es heißt, dass er uns beibringen will, auf eigenen Füßen zu stehen.« Die beiden schauten auf ihre Füße hinunter. »Ich glaub, das sind meine«, sagte Louis. »Tja, ich weiß nicht«, sagte Thomas. »Du weißt was nicht?« »Ob einer von denen jemals sagen wird:Mensch, diese Indianer, die hatten schon was drauf. Die hätten wir nicht ausrotten sollen. Da haben wir was verpasst.« Louis lachte. Thomas lachte. Diese Vorstellung fanden sie beide sehr komisch."
Louise Erdrich hat die historisch verbürgte Handlung mit einer fiktiven Story rund um die starken Frauenfiguren Patrice 'Pixie' Paranteau und ihre Mutter Zhaanat verknüpft. Deren (auch übersinnliche) Suche nach Pixies verschollener Schwester Vera (TW: sexuelle Gewalt) verleiht der Geschichte einen zusätzlichen Spannungsbogen und macht sie auch zu einem Familien- und Entwicklungsroman.
Ich habe das Buch fast atemlos und in einem Rutsch gelesen und wollte am Ende gleich wieder von vorn beginnen, um die Menschen nicht verlassen zu müssen, die einem wie Freunde ans Herz wachsen.
Unbedingte Leseempfehlung!