Brutal, emotional!
Ich persönlich lese Horror-, Kriminalromane und Psychothriller nicht nur zur Unterhaltung, sondern mich fasziniert auch auf eine perfide Weise, wozu der Mensch fähig ist. Nicht ohne Grund bleibe ich oft ...
Ich persönlich lese Horror-, Kriminalromane und Psychothriller nicht nur zur Unterhaltung, sondern mich fasziniert auch auf eine perfide Weise, wozu der Mensch fähig ist. Nicht ohne Grund bleibe ich oft beim Zappen hängen, wenn ich eine Dokumentation über Serienmörder erwische. Versteht mich nicht falsch: Ich bewundere weder Ted Bundy noch Charles Manson, aber ich möchte – warum auch immer - ihre Taten verstehen. Und nach dem Lesen von „Der Sommer als ich starb“ habe ich ein seltsames Bauchgefühl zurückbehalten. Das liegt nicht nur daran, dass Ryan C. Thomas jede Folterszene bis ins kleinste Detail schildert, sondern daran, dass dieser Roman betont, wir alle könnten Opfer (oder sogar Täter) werden. Und das hat mich getroffen.
„Ich wusste nicht, warum. Weil jeder eine Bestimmung hat, richtig? Weil wir alle Teil von Gottes großem Plan sind, […]. Oder vielleicht, weil Gott da oben einfach Würfel rollt und uns als Figuren auf einem allumfassenden Spielbrett benutzt. Oder vielleicht lag es bloß an Pech oder Glück oder vielleicht passierte Scheiße nun mal einfach und man musste damit klarkommen. […]“ Roger Huntington, Seite 208 von 215 (eBook)
Ryan C. Thomas Horrorthriller beginnt sehr ruhig. Der Autor nimmt sich viel Zeit, um seine Hauptfiguren, die beiden Schulfreunde Roger und Tooth, mit dem Leser bekannt zu machen. Er lässt Roger, der der Erzähler dieser Geschichte ist, von ihrem Leben davor und ihren Zukunftsplänen berichten. Ihr Ziele für den Sommer bestanden darin, Gras zu rauchen, Bier zu trinken, abzuhängen und falls es sich anbietet, Mädchen abzuschleppen. Er lässt die beiden auf eine wunderbar rotzige Weise alte Geschichten aufwärmen, über erlebte Abenteuer lachen und ich als Leserin saß grinsend und genauso naiv wie Roger und Tooth da, nichtsahnend was noch kommen wird. „Der Sommer als ich starb“ liest sich fast wie ein Coming-of-Age-Roman und ich habe mich atmosphärisch an „Die Leiche“ von Stephen King erinnert gefühlt. Tatsächlich war ich irgendwann leicht irritiert, dass noch nicht mehr passiert ist. Im Nachhinein betrachtet, war aber gerade dieses erste Drittel der Geschichte essentiell für meine emotionale Bindung zu den Figuren und für ihre Charakterentwicklung innerhalb ihrer Gefangenschaft, die noch folgen sollte.
Die Handlung des Buchs ist schnell zusammengefasst: Roger, der mittlerweile das College besucht, kommt in den Sommerferien zurück in seinen Heimatort. Dort wollen er und sein Schulfreund Tooth eine schöne Zeit miteinander verbringen. Als sie in die Wälder fahren, um dort ein paar Bier zu trinken und Schießübungen mit Tooths neuer Waffe zu machen, hören sie die verzweifelten Hilferufe einer Frau. Der Versuch sie zu retten, schlägt fehl und plötzlich befinden sie sich angekettet in der Hütte eines Psychopathen, der nicht müde wird, sich immer neue Foltermethoden für sie auszudenken.
„Hätte ich nur gewusst, was als Nächstes geschehen würde, ich hätte mir von Tooth die Pistole geschnappt und uns beiden Kugeln ins Hirn gejagt.“ Roger Huntington, Seite 68 von 215 (eBook)
Mein oben genannter „Stand by me“-Flair kippte dann also doch schneller als mir lieb war und plötzlich fand ich mich inmitten eines Horrorromans mit Folterszenen, die direkt aus der Hölle zu kommen schienen. Teilweise wurde die Erzählweise wirklich detaillierter als ich wollte! Wäre es ein Film gewesen, hätte ich mir die Augen zugehalten und zwischen den Fingern hindurch geprüft, ob abgeblendet wurde. Aber diesen Gefallen tut Thomas seinen Lesern nicht. Wo andere abblenden, fängt er erst richtig an. Indem er Roger seine Geschichte erzählen lässt, der die vierte Wand regelmäßig durchbricht, um den Leser direkt anzusprechen, hat er mich emotional immer tiefer in die Misere der beiden Freunde hineingezogen. Gleichermaßen furchtbar und genial! Das ist in meinen Augen die beste Beschreibung für den angewandten Schreibstil des Autors. Ich kam bei einigen Szenen an meine Ekelgrenze. Zum Verschnaufen blieb mir nie viel Zeit und ich weiß nicht genau, ob ich das gut oder schlecht fand. Eine morbide Art der Neugier hatte mich gepackt. Zwar erfährt man direkt im Prolog, der im Gegensatz zum restlichen Buch in der Gegenwart spielt, dass Roger überlebt hat, aber ich wollte unbedingt wissen, wie er sich rettet und was ihm genau widerfahren ist. Was hat er erlebt, dass ihn dermaßen kaputt gemacht hat? Wieso empfindet er seine Rettung nicht als Happy End? Wäre der Tod wirklich besser gewesen? All diese Themen werden von Roger immer wieder aufgegriffen und haben mich nachdenklich gestimmt. Es bleibt spannend bis zum bitteren Schluss. Da ich es auch bei Horrorromanen, den Schriftstellern übelnehme, wenn sie das Ende zu schnell herbeiführen oder unglaubwürdig gestalten, bin ich froh, dass Thomas die letzten Kapitel für mich glaubhaft geschildert hat. Ich persönlich fand das Ende wirklich gelungen, da es authentisch war – die Handlung ebenso wie die Gefühlswelt von Roger.
Trotz allem habe ich aber auch zwei kleine Kritikpunkte gefunden, die mich zwar nicht massiv gestört haben, aber mir dennoch beim Lesen aufgefallen sind. Zum einen gibt es Szenen im Buch, die sehr starke Gewalteinwirkungen auf die Figuren darstellen, von denen ich denke, dass sie ein „normaler“ Mensch, nicht überleben würde. Allerdings bin ich kein Mediziner und kenne zum Glück niemanden, mit derlei Erfahrungen, sodass ich diese Kritik nur als Vermutung aussprechen kann. 😉 Zum anderen hätte ich mir etwas mehr Hintergrund zum „Bösewicht“ der Geschichte gewünscht. Seine Taten werden zwar erklärt, hier hätte der Autor – für meinen Geschmack – etwas mehr Zeit auf die Psyche verwenden können. Das liegt aber vermutlich einfach an meiner Vorliebe, die Bösewichte näher „kennenlernen“ zu wollen.
„Der Sommer als ich starb“ ist ein brutales Buch, was Bilder in die tiefsten Windungen meines Hirns gemalt hat, wo ich sie vermutlich nie wieder löschen kann. Und doch war es keine plumpe Aneinanderreihung von brutalen Folterszenen. Ryan C. Thomas hat mich mit seinen Worten und seinen Figuren emotional Achterbahn fahren lassen. Für mich besticht das Buch genau dadurch! Es erzeugt nach dem sanften Einstieg eine durchweg düstere, traurige und emotional aufgeheizte Stimmung, die man nicht oft im Horrorgenre findet. „Psychopathisch und extrem brutal“ so lauten die ersten vier Worte des Klappentextes und ich kann euch versprechen, dass es sich hierbei nicht um übertriebenes Marketing handelt! Wenn ihr eure literarischen Grenzen austesten wollt, seid ihr hier also genau richtig.