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Veröffentlicht am 15.09.2016

Zwischen Verachtung, Groll und Fügsamkeit

Was das Meer ihnen vorschlug
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Die beiden Brüder Javier und Mario sind nicht nur Zwillinge sondern auch zwei sehr verschiedene Menschen, der eine sensibel, belesen und phlegmatisch, der andere depressiv, gewalttätig und aktiv. Ihre ...

Die beiden Brüder Javier und Mario sind nicht nur Zwillinge sondern auch zwei sehr verschiedene Menschen, der eine sensibel, belesen und phlegmatisch, der andere depressiv, gewalttätig und aktiv. Ihre größte Bürde ist das gemeinsame Leben und die räumliche Nähe zu ihrem Vater, mit dem sie eine Hotelanlage führen. Ihr Vater ist Sinnbild für einen eigenbrötlerischen, pessimistischen Menschen, der für seine Söhne nichts als Verachtung empfindet. Als die drei auf hoher See in ein Unwetter geraten, ergibt sich die Möglichkeit, den gehassten Vater auf ewig loszuwerden, denn ohne Zeugen wäre ein Verbrechen nur ein Unfall ...

Dieser kleine, feine Roman lebt und atmet regelrecht durch seine ansprechende Sprache. Literatur auf hohem Niveau, ein wunderschöner Satzbau und viele künstlerische Feinheiten, machen das Lesen zum reinsten Vergnügen. Egal ob es sich dabei um Natur- oder Personenbeschreibungen handelt, alles wirkt intensiv, schillernd und besonders. Auch die Handlung an sich birgt ein hohes Unterhaltungspotential, beschäftigt sie sich doch mit der Frage der Schuld, der Verkettung unglücklicher Umstände und der Möglichkeit aus Menschlichkeit zu handeln oder es zu unterlassen. Ein sehr vielschichtiger Plot, der die Unvermeidlichkeit auf eine harte Probe stellt und die Frage aufwirft, an welcher Stelle der Mensch das Schicksal aktiv beeinflussen kann.Mein Hauptkritikpunkt liegt an der Entwicklung des Romans, während im ersten Drittel kontinuierlich eine düstere, endgültige Stimmung erzeugt wird, flacht die Spannung viel zu plötzlich und umfassend ab. Der Leser befindet sich auf der Spitze einer Welle und dann bricht sämtliche Erwartungshaltung in sich zusammen und eine seltsame Leere und Unzufriedenheit bleibt zurück. Beim Leser ganz genauso wie bei den handelnden Personen. Das Ende ist definitiv Geschmacksache, weil es polarisiert und mich nicht wirklich begeistern konnte.

Fazit: Ich vergebe 3,5 Sterne für ein polarisierendes, unterhaltsames literarisches Werk, über das man ausgesprochen gut debattieren kann, weil es viele Empfindungen hervorruft, ohne sie zu werten. Dramatik, Stimmung und Sprache bekommen von mir die volle Punktzahl, schon allein weil sich dieser Roman sehr positiv von der Masse abhebt und eine simple Notsituation zur Prüfung menschlicher Entscheidungen stilisiert.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Sklaverei mitten in Deutschland

Götter
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Mitten in Deutschland gibt es vier Reservate, die ganz unscheinbar als militärisches Sperrgebiet ausgewiesen sind, so dass an ihren Rändern die Übungstruppen der Bundeswehr ihren Dienst verrichten, ansonsten ...

Mitten in Deutschland gibt es vier Reservate, die ganz unscheinbar als militärisches Sperrgebiet ausgewiesen sind, so dass an ihren Rändern die Übungstruppen der Bundeswehr ihren Dienst verrichten, ansonsten aber niemand das Gebiet betritt.

Dort verbirgt sich das Herrschaftsgebiet einer ominösen Sekte, die bereits seit Jahrzehnten Menschen zur modernen Sklaverei verdammt. Mit ihren Helikoptern kommen sie als "Götter" getarnt zu ihren Vasallen und versorgen sie mit den nötigsten Gütern, um im Gegenzug die handwerklichen Erzeugnisse der Reservatsbewohner abzuholen, um diese gewinnbringend zu verkaufen. Doch es kommt noch schlimmer. Männer und Frauen werden getrennt gehalten und sexuell ausgebeutet. Die Frauen werden unter dem Deckmantel der "Göttlichkeit" zu Gebärmaschinen verdammt. Sie erhalten eine Betäubung und werden vergewaltigt - die Kinder verbleiben im jeweils geschlechtsspezifischen Arreal.

Eines Tages gelingt es zwei Reservatsbewohnern unabhängig voneinander ihre Gruppe zu verlassen und sich ein Leben in der Wildnis aufzubauen. Als sie sich durch Zufall kennenlernen, entlarven sie nach und nach die Lügen ihres bisherigen Lebens und schwören ihren Peinigern Rache ...

Dieser Roman wartet mit einer ungeahnt interessanten Thematik auf, vor allem weil er in der Gegenwart spielt und damit an die Vorstellungskraft der Leser appelliert. Könnte derartiges heute noch geschehen? Wie gut kennen wir das Land, in dem wir leben? Und decken die Medien nicht jeden Tag ein weiteres dunkles Kapitel auf, von dem wir bisher nicht glaubten, dass so etwas überhaupt existieren könnte? Deshalb regt die Geschichte auch zum Nachdenken an und zeigt gleichzeitig wie schmal der Grat zwischen Unvorstellbarkeit und Realität sein kann.

Die Protagonisten des Buches agieren stellenweise wie Kinder, weil sie sich alles selbst aneignen müssen und jede Entdeckung grenzt für sie an ein Wunder. Ihr Überleben in der Wildnis hängt weitestgehend von ihrer Fähigkeit ab, sich auf unbekanntes Terrain zu begeben und die momentane Situation bestmöglich zu bewältigen. Reduziert auf ihre Lebensbedürfnisse dauert es mehrere Jahre, bis sie den Schritt in die Unabhängigkeit wagen und sich den "normalen" Menschen zu erkennen geben.

Die Ausarbeitung dieser hochexplosiven Thematik konnte mich dennoch nicht restlos überzeugen, zum einen weil das Leben in der Wildnis und die Eroberung unseres Wissenstandes für jene Unwissenden im Zentrum der Geschichte steht. Zum anderen, weil es keine klare Struktur gibt, die agierenden Personen abrupt wechseln und neue auftauchen, die erst viel später wieder von Bedeutung sind. Der Lesefluss wurde dadurch stellenweise getrübt.
Die Längen im Mittelteil werden dann wieder durch ein spannendes Ende wettgemacht, welches alle Handlungsstränge aufnimmt und folgerichtig zusammenführt. So manche Überraschung findet sich auf den letzten Seiten ...

Fazit: Ich vergebe 3 Lesesterne für diesen genreübergreifenden Roman, mit spektakulären Handlungsansätzen und menschlichen Unglaublichkeiten. Mir hat vor allem die Idee hinter der Geschichte gefallen, während mich die Erzählung zwar unterhalten, aber nicht ganz fesseln konnte.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Die schmerzhaften Fesseln der Liebe

Kreuzfahrt
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Zwei Männer, zwei Frauen und zwei Beziehungen, die emotional schon längst in die Brüche gegangen sind. Wie es der Zufall so will begegnen sich Meret und Jan im Sommerurlaub, den beide mit ihrer jeweiligen ...

Zwei Männer, zwei Frauen und zwei Beziehungen, die emotional schon längst in die Brüche gegangen sind. Wie es der Zufall so will begegnen sich Meret und Jan im Sommerurlaub, den beide mit ihrer jeweiligen Familie im sonnigen Süden verbringen. Schon dort sprühen heftig die Funken und die körperliche Anziehungskraft bringt sie fast um den Verstand. Doch zurück in der Heimat ergeben sich noch ganz andere Perspektiven, plötzlich werden Jan und seine Frau Romy direkte Nachbarn von Meret und Dres. Die Kinder spielen gemeinsam und aus Fremden werden Freunde. Nur mit dem Unterschied, dass es hier keine Freundschaft, sondern in erster Linie Verlangen gibt. Die intensive Affäre, die beide beginnen ist aber nur von kurzer Dauer, denn manchmal löscht das Leben die Erinnerung an einen Menschen restlos aus und hinterlässt nur eine kaum greifbare Traurigkeit…
Dieser zeitgenössische Roman über ein altbekanntes, immer wieder neu besprochenes Thema, den Seitensprung und seine Folgen, hat mich bereits im Vorfeld sehr neugierig gemacht. Dementsprechend hoch war auch meine Erwartungshaltung, da ich viele sehr gute und intensive Romane mit dieser Thematik bereits gelesen habe.
Das Buch und die Geschichte um Meret und Jan lassen mich allerdings etwas zwiegespalten zurück, was in erster Linie an den sehr unsympathischen Protagonisten liegt. Die nicht nur ein einsames, absolut egoistisches Leben führen, sondern darüber hinaus auch keinerlei Interesse an wirklich tiefen Gefühlen haben. Für mich stellte sich hier immer wieder die Frage, warum verharren Menschen in einer Beziehung, die ihnen längst nichts mehr bedeutet, die sie innerlich immer weiter vereinsamen lässt und der niemand eine positive Bilanz bescheinigen wird?! Noch dramatischer finde ich die Einstellung zu den eigenen Kindern, die irgendwie immer stören, die abgeschoben und fremdbetreut werden und denen man ebenfalls keinerlei körperliche und seelische Wärme zukommen lässt, obwohl sie noch klein sind und sich gewiss danach sehnen.
Was mir gefallen hat war die intensive Auseinandersetzung der Hauptprotagonistin Meret, die ihre Gefühle und Gedanken in einer Art Brief an ihren Geliebten formuliert, um sich ihres Handelns bewusst zu werden. Der Autorin gelingt es, die psychologische Komponente des Seitensprungs von allerlei Perspektiven zu beleuchten. Sie verliert sich dabei oft in philosophischen Betrachtungen, weil auch das geschriebene Wort hier nur ein Gedankenkonstrukt ist aber sie erkennt ganz deutlich die Grenzen, die Chancen auf einen Neubeginn, überhaupt der Wille zur Veränderung und damit schlägt sie einen großen Bogen, der mich in seiner Kernaussage zwar nicht befriedigt aber in sich selbst geschlossen ist.
Fazit: Ich vergebe 3 Sterne für diesen komplexen, doch etwas verwirrenden Roman, der sich recht wenig mit der Liebe auseinandersetzt, dafür umso mehr mit Fehlentscheidungen, persönlicher Unzufriedenheit, innerer Abschiede und trauriger Wahrheiten. Wer sich gerne mit den Gedankengängen anderer, ihrer Lebensweise und Erfahrung auseinandersetzt, der wird hier vielleicht finden, was er sucht. Wer allerdings ein warmherziges, vertrauensvolles Bild von der Liebe und seinen Mitmenschen hat, der geht wohl eher etwas enttäuscht aus der Lektüre.

Veröffentlicht am 27.07.2024

Der Tod könnte schön sein, wenn man gelebt hat

Reise nach Laredo
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"Bei diesem Gedanken verspürte Karl keine Anspannung mehr, sondern eine Gelassenheit wie von einem, der ganz unten angekommen ist, der nach langer Zeit wieder festen Boden unter den Füßen hat. Dieser feste ...

"Bei diesem Gedanken verspürte Karl keine Anspannung mehr, sondern eine Gelassenheit wie von einem, der ganz unten angekommen ist, der nach langer Zeit wieder festen Boden unter den Füßen hat. Dieser feste Boden, die Wahrheit, bestand im Geständnis des Scheiterns."

Inhalt

Für den ehemaligen König Karl, der es im Jahre 1558 auf ein hochbetragtes Alter von 58 Jahren geschafft hat, stellt sich schon seit zwei Jahren die Frage, auf die er eine Antwort sucht: "Was macht das Leben aus? Welchen Sinn soll es erfüllen?" Er hat sich zu diesem Zweck in das Kloster Yuste begeben, um dort vielleicht Gott näher zu kommen oder eine Antwort zu finden, doch vergebens, er betet nur halbherzig, blickt zurück auf seine Amtszeit, die Kriege und Entscheidungen, die Menschen an seiner Seite und deren Fehlen und bekommt den Gedanken einfach nicht zu fassen. Er spürt, dass seine Zeit auf Erden bald abgelaufen sein wird und erliegt dem Drang ein letztes, verzweifeltes Abenteuer zu unternehmen. Viel schlechter, als es ohnehin schon ist, kann es wohl nicht werden. Zusammen mit seinem jüngsten, unehelichem Sohn Geronimo, der gerade einmal 11 Jahre alt ist, beschließt er in einer Nacht und Nebelaktion das Kloster zu verlassen und nach Laredo zu ziehen. Für ihn wird es die letzte Reise sein, für seinen Sohn das erste große Abenteuer, vielleicht kann ihm der Junge den Weg weisen und Antworten liefern, auf seine drängendsten Fragen.

Meinung

Auf diesen Roman war ich sehr neugierig, weil er eine mitreißende Geschichte verspricht und sich mit Sinnfragen beschäftigt. Die philosophische Komponente der Story spricht mich unmittelbar an: Was bleibt, in den letzten Tagen des Lebens, was war wichtig, was völlig belanglos und wie kann man sich mit den Fehlern und Problemen des diesseitigen Lebens versöhnen, um zufrieden die Augen zuschließen?

Doch leider ist das meines Erachtens nur die unterschwellige Stimmungslage des Buches und keine emotionale, ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema. Vorrangig wird die Geschichte einer kleinen Reisegruppe erzählt, die gemeinsam den Weg nach Laredo beschreitet - jeder mit seinen eigenen Sorgen belastet und mit vollkommen unterschiedlichen Zielen. Dabei dümpelt die Spannungskurve vor sich hin, stellenweise nimmt die Geschichte Fahrt auf, verliert sich dann aber wieder in Nichtigkeiten. Armut, Krankheit, Sorge und fehlende Zugehörigkeit sind die Wegbegleiter, die hier ausgeschlachtet werden. Eine echte Beziehung zu den Personen konnte ich nicht aufbauen, obwohl ich das Gefühl hatte, das liegt eher an der Zeit, in der das Buch spielt, als an den Menschen selbst. Ich konnte mir bis auf Karl die Personen nicht richtig vorstellen - alles Fremde. mit willkürlichen Befindlichkeiten und wenigen Ansprüchen.

Nur das Versprechen, was der Umschlagtext gibt, erfüllt sich tatsächlich: Karl lernt kennen, was er bisher nicht hatte: Freundschaft, Liebe, und die Freiheit nur im Moment zu leben. Der Weg dorthin ist jedoch mühsam, für Karl ebenso wie für den Leser. Dieses Buch hat mich nicht dazu animiert es am Stück durchzulesen, sondern eher Passagen auszuwählen. Doch wenn ich es einmal aus der Hand gelegt hatte, fehlte oft die Energie es erneut aufzuschlagen. Erst nach ein paar Seiten, wurde es angenehmer, nur um mir dann wieder zu entgleiten ...

Fazit

Ich vergebe 2,5 Lesesterne, die ich zu 3 aufrunden möchte. Ich bin vor allem traurig, weil ich mit der Thematik Tiefgang und philosophisches Gespür verbinde, weil die Komponenten des Buches sorgfältig gewählt und nett arrangiert wurden. Sowohl der sprachliche Anspruch erfüllt sich als auch die Geschichte selbst, nur das Ergebis lässt mich eher enttäuscht zurück. Ähnlich wie bei einem Gericht, bei dem man alle Zutaten mag, es liebevoll angerichtet bekommt und den allerbesten Geschmack erwartet und dann doch nur ein mittelmäßiges Geschmackserlebnis erlebt. Mein Prädikat: ein fantastischer, magischer Ausflug nach Laredo auf gut 200 Seiten ist denkbar, wenn man ihn nicht unternimmt, wird es wohl auch nicht schmerzen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 31.08.2021

Aufstehen und der Welt entgegen treten

Shuggie Bain
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„In diesem Moment wusste er, dass er sein Versprechen nicht halten konnte. Er hatte Agnes angelogen, genauso wie sie ihn angelogen hatte, als sie sagte, sie würde mit dem Trinken aufhören. Sie würde nie ...

„In diesem Moment wusste er, dass er sein Versprechen nicht halten konnte. Er hatte Agnes angelogen, genauso wie sie ihn angelogen hatte, als sie sagte, sie würde mit dem Trinken aufhören. Sie würde nie trocken werden, und er wusste, dass er nie so sein würde wie normale Jungen.“

Inhalt

Shuggie Bain wächst in einem ärmlichen, von häuslicher Gewalt und labilen Beziehungen geprägten Elternhaus in den 80er Jahren in einer Arbeitersiedlung in Glasgow auf. Die Eltern trennen sich schon, da ist er noch klein und während seine Mutter als Alleinerziehende mit drei Kindern auf Sozialhilfe angewiesen ist, und keiner Beschäftigung nachgeht, kümmert sich der Vater längst nicht mehr, hat er doch schon neue Kinder und eine andere Frau. Shuggies Mutter Agnes, die er bewundert und abgöttisch liebt, verlangt ihren Kindern immer mehr Verantwortung ab, denn bis auf ihr hübsches Äußeres bleibt nicht viel und sie gibt sich immer exzessiver dem Alkohol hin. Die täglichen Belastungsproben dieser Familie stehen hier im Zentrum der Erzählung, sie bieten kaum Hoffnungsschimmer und zeigen detailliert, wie zerrüttet das Leben in Armut, Missgunst und Einsamkeit aussieht. Und während die beiden älteren Geschwister emotionalen Abstand halten oder gar physische Distanz suchen, um der häuslichen Umgebung zu entkommen, ist Shuggie dafür zu jung und emotional, möchte er doch so gerne daran glauben, dass seine Mutter endlich dem Alkohol abschwört und ein halbwegs normales Leben mit ihm führt, doch er kämpft auf verlorenem Posten, denn jeder kleine Lichtblick scheint nur von kurzer Dauer …

Meinung

Auf dieses Buch war ich sehr gespannt, nicht nur weil die Story ganz gut in mein Beuteschema passt, sondern natürlich auch wegen der Auszeichnung mit dem Booker Preis 2020 und einer Erzählung, die stellenweise biografische Züge aufweist und dadurch bestenfalls an Wert gewinnt. Selbst die Leseprobe mochte ich noch ganz gerne, trotz der derben Sprache und dem damit erwarteten Fortgang einer traurigen, vielleicht auch zermürbenden Geschichte.

Doch irgendwie haben sich beim Lesen all meine Ansprüche verflüchtigt und schon nach dem ersten Drittel war mir klar, dass dieses Buch keins meiner persönlichen Kriterien an eine derartige Geschichte erfüllen wird. Meine Kritikpunkte sind vielfältig und lassen sich nur schwer auf einen gemeinsamen Nenner bringen, denn prinzipiell hat die Thematik ein absolut tolles Potential, welches hier meines Erachtens überhaupt nicht ausgeschöpft wird. Ganz genau kann ich hingegen sagen, was an dieser Story anders hätte sein müssen, damit sie irgendwie in die Nähe eines Lieblingsbuches gerückt wäre.

Mein erster Kritikpunkt: Warum vermischt der Autor eine Familiengeschichte so knäuelartig mit einer Milieustudie? Selbst, wenn die Familie Bain dadurch nachhaltig geprägt wird, so ist es doch eine persönliche Sicht, bei der ich dann nicht wissen muss, dass es der Nachbarin mit ähnlichen sozialen Hintergründen auch nicht besser geht. Und wenn ich zeigen möchte, wie es damals zuging, für die Menschen, die dort unter diesen Umständen lebten, dann muss der Fokus anders gesetzt werden und nicht in die Hände eines Jungen gelegt werden, der um seine Mutter bangt.

Mein zweiter Kritikpunkt: Warum wählt der Autor diese unpersönliche Erzählperspektive? Denn dieses Buch hätte aus meiner Sicht entweder von der Mutter selbst oder dem Sohn erzählt werden müssen, aber ganz unbedingt aus der Ich-Perspektive, damit man als Leser irgendwie Zugang findet, wenn man weder die Umstände noch die Personen kennt. Letztlich hätte das eine x-beliebige Geschichte über eine alkoholkranke Frau und ihre armen Kinder sein können, da bleibt dann vielleicht noch ein Körnchen Mitleid beim Leser übrig, mehr aber auch nicht. Von Betroffenheit und emotionaler Nähe war ich jedenfalls ganz weit entfernt.

Mein dritter Kritikpunkt: Wieso gestaltet der Autor den Text so langatmig und detailliert auf der Handlungsebene, während die Emotionen so außen vor bleiben? Tatsächlich interessiert es mich wenig, wie genau der Absturz von Agnes Bain nach dem sechsten Bier und der zweiten Flasche Wodka aussieht, dass sie sich im Suff mit anderen Männer einlässt und mehr Hure als Mutter ist, nur um danach immer wieder zu bereuen und erneut der Welt entgegen zu treten, ebenfalls nur mit mäßigem Erfolg.

Kurzum, für mich war dieses Buch ein Flop, vor allem, weil diese triste Geschichte mit ihren labilen Charakteren und den doch dramatischen Auswirkungen auf die Individuen selbst, so wenig Spuren hinterlässt. Die meiste Zeit habe ich mich gelangweilt und die wenigen Spannungsmomente gipfeln dann auch nur in einer schier endlosen Verzweiflung. Gerne hätte dieser Roman eine Biografie sein dürfen oder lieber noch eine ganz fiktive Erzählung. Auch als Gesellschaftroman mit dem Augenmerk auf den Umständen und dem Leben in Armut und Arbeitslosigkeit hätte dieses Buch für mich funktionieren können. So wie es aber ist, trifft es einfach nicht meinen Geschmack.

Fazit

Ich vergebe hier leider nur 2,5 Sterne, die ich tendenziell abrunden würde. Dieser Roman bietet für mich keinen Mehrwert, er ist mir stets fremd geblieben und erzählt eine Story, die mich weder schockieren noch packen konnte. Traurigkeit fließt hier aus jedem Satz, aber sie ist zu allumfassend, um tatsächlich greifbar zu sein. Skizziert wird hier das Leben verschiedener Menschen, die sich irgendwie durchs Leben hangeln, immer nah am Abgrund, immer bemüht das Gleichgewicht zu halten und doch unheimlich schwach auf Grund der Umstände und ihrer eigenen Herkunft. Die immer gleiche, zermürbende Erzählung, gefangen zwischen Gewalt, Häme, Momenten des kleinen Glücks und dann wieder den Sorgen des ganz normalen Alltags, der sich nicht ändern wird, weil es sich um eine Endlosschleife handelt.

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