Eine kleine Anstrenung
Das Buch beginnt mit einem der vielen Schicksalsschläge, mit denen Marco Carrera, Augenarzt in Rom aber gebürtig aus Florenz, in seinem Leben zurechtkommen muss. Seine Frau erwartet ein Kind von einem ...
Das Buch beginnt mit einem der vielen Schicksalsschläge, mit denen Marco Carrera, Augenarzt in Rom aber gebürtig aus Florenz, in seinem Leben zurechtkommen muss. Seine Frau erwartet ein Kind von einem anderen Mann und wird ihn verlassen. Es ist das Jahr 1999 und von diesem Ereignis ausgehend, wird das Leben des Marco Carrera erzählt, der von seiner Mutter den Spitznamen Kolibri erhielt, weil er mit 15 Jahren aufgehört hatte zu wachsen.
"Im Übrigen hatte sie, sobald dieses Defizit offenbar geworden war, für ihren Jungen den beruhigendsten aller Spitznamen geprägt, Kolibri, um zu betonen, dass Marco mit diesem anmutigen Vögelchen neben der Kleinheit eben auch die Schönheit und der Schnelligkeit gemeinsam hatte: die körperliche – in der Tat bemerkenswerte -, die ihm beim Sport zugutekam, und die – vor allem behauptete – geistige in der Schule und im gesellschaftlichen Leben."
Es sind die Frauen, die sein Leben zeichnen. Seine Schwester Irene, die den Freitod wählt, Adele, seine Tochter, die mit 22 Jahren stirbt und Miraijin, seine Enkeltochter, die ihn bis zu seinem Tod begleitet. Und dann gibt es noch Luisa, seine große Liebe.
"Ich habe Dich so sehr geliebt, wirklich, vierzig Jahre lang bist Du das Erste und das Letzte gewesen, woran ich jeden einzelnen Tag meines Lebens gedacht habe."
Meine persönlichen Leseeindrücke
Der Roman ist ein Puzzle, wie es Sandro Veronesi selber schreibt. Er hätte die Handlung auch in chronologische Reihenfolge setzen können, das wollte er aber nicht, denn er könne von seinen Lesern auch eine kleine Anstrengung verlangen. Und so zieht sich dieser Anspruch durch das gesamte Buch, das ich mit Begeisterung ab der ersten Seite gelesen habe. Gäbe es nicht diese Tragödien, ich könnte der Geschichte etwas Amüsantes abgewinnen.
Der Roman ist eine berührende Erzählung über Marco Carrera und sein Leben. Marco verkörpert einen Durchschnittsitaliener der Mittelschicht, mit all seinen Schrullen und Ansichten, seinen Schwächen, seinen Freunden und seinen Familien. Sein Leben verläuft nach einem gleichbleibenden Muster: jahrelang verharrt er im Stillstand, während die anderen sich vorwärtsbewegen. Dann bricht ein unerwartetes, außergewöhnliches Erlebnis aus, stets begleitet von großem Schmerz, das ihn in ein neues, unbekanntes Anderswo schleudert. Stets ist er begleitet und beeinflusst von Frauen, die ohne Psychoanalysten nicht lebensfähig scheinen. Am Ende grenzt es an ein Wunder, dass er ein normales Leben führt. Die Tragödien, denen er schutzlos und machtlos ausgesetzt ist, gipfeln mit jenem Schicksalsschlag, der für Eltern das Schlimmste ist: ein Kind zu verlieren. Veronesi findet dafür gar kein Wort in unserer Sprache sondern weicht auf das Hebräische „shakul“ oder auch in das Arabische „thaakil“ oder auf das Sanskirt „vilomah“ aus, was ich sehr treffend beschrieben, diese Ohnmacht dem Schmerz gegenüber. Nur die Sorge um und die Liebe zu seiner Enkeltochter gibt ihm die Kraft zum Weitermachen.
"... weil mein erster Gedanke jetzt ihr gilt, und auch mein letzter Gedanke gilt ihr, und dazwischen gibt es weitere Gedanken für sie. Nur so ist es mir jetzt möglich zu leben."
Die Anstrengung des Lesers liegt darin, die Ereignisse der verschiedenen Kapitel in ein Ganzes zusammenzufügen. Eigentlich ist das gar nicht so schwer, aber man ist verwöhnt und möchte sich nicht über die Maßen verausgaben. Damit ist erklärt, warum so viele mit dem Roman nicht so zurechtkommen.
Noch ein Wort zur Übersetzung. Michael von Killisch-Horn hat diesen Roman in außerordentlicher Feinarbeit und hoher Sensibilität übersetzt. Ich bewundere diese Fähigkeit.
Fazit
„Der Kolibri“ von Sandro Veronesi ist eines der schönsten Bücher, die ich dieses Jahr lesen durfte. Ein literarisches Puzzle, das die Handlung absichtlich in zeitlich wirr verschachtelten Abschnitten zwischen Jahren und Jahrzehnten hin und her schwirren lässt. Und dennoch fügt sich jedes Teil perfekt in die Geschichte ein, die eine tief berührte Geschichte erzählt.
Wer eine leichte, unbekümmerte Lektüre sucht, sollte allerdings die Hände davonlassen.