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Veröffentlicht am 08.10.2021

Nostalgisch, ohne zu verklären

Die Kinder hören Pink Floyd
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„Die Schwester sagt: ‚Wenn du konzentriert hochschaust an den Himmel, erscheint dort die Pyramide von Dark Side Of The Moon.‘“ (Pos. 550)

Samstags wird das Auto gewaschen und abends die „ZDF-Hitparade“ ...

„Die Schwester sagt: ‚Wenn du konzentriert hochschaust an den Himmel, erscheint dort die Pyramide von Dark Side Of The Moon.‘“ (Pos. 550)

Samstags wird das Auto gewaschen und abends die „ZDF-Hitparade“ geschaut. Wenn man essen geht, dann in den Balkan-Grill, ansonsten erfreut man sich an der effizienten Einbauküche. Gelegentlich fährt man nach Düsseldorf, geht zu Feinkost Münstermann und kauft Brot bei Hinkel – und manchmal, ja, manchmal auch „Vanilletee aus dem indisch-afghanischen Laden auf der Ratinger Straße“: Es sind die Siebziger Jahre in einer Düsseldorfer Vorstadt, der Ort und die Zeit, in der der 10-jährige Protagonist und Ich-Erzähler seine Kindheit verbringt.
Wer nun je
doch einen nostalgisch-seichten Ausflug in eine vermeintlich gute, alte Zeit befürchtet, darf seine Bedenken getrost vergessen. Ja, ein Hauch von Nostalgie lässt sich nicht abstreiten – insbesondere, wenn man selbst in etwa jener Zeit in einem Düsseldorfer Vorort aufgewachsen ist –, doch von Seichtheit kann dankenswerterweise keine Rede sein. Denn Alexander Gorkows Siebziger sind, durch die Augen seines Protagonisten betrachtet, eben nicht nur der Ort gepflegter Vorgartenidylle und die Zeit, da die Philipshalle noch Philipshalle hieß und die Mata-Hari-Passage mehr war als eine Erinnerung. Es ist zugleich die Ära unverhohlener Altnazis, Ohrfeigen verteilender Pfarrer, schikanierender Mitschüler und Contergan-geschädigter Kinder. Es ist ein von Monstern bevölkerter Ort, und die sind überall: unterm Bett, im Keller, einige von ihnen sind auch im Dorf unterwegs. Doch Gott sei Dank gibt es gute Freunde, eine großartige große Schwester – und die Alben von Pink Floyd.

„Die Kinder hören Pink Floyd“ ist eine sensible und melancholische, bisweilen heitere, aber nie idealisierende Hommage an eine vergangene Epoche. Eine große Leseempfehlung an alle, eine besondere Leseempfehlung an jene, die selbst Kinder der Siebziger sind – und ein Mustread für alle, die diese Zeit in und um Düsseldorf erlebt haben.

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Veröffentlicht am 09.09.2021

Atmosphärisch, spannend, horizonterweiternd

Eis. Kalt. Tot.
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Also, so hat Jesper sich seinen Start in Kopenhagen nicht vorgestellt, wahrlich nicht. Es ist arschkalt, die Großstadt unübersichtlich, die neu bezogene Wohnung karg und der Warmwasserboiler kaputt. Seine ...

Also, so hat Jesper sich seinen Start in Kopenhagen nicht vorgestellt, wahrlich nicht. Es ist arschkalt, die Großstadt unübersichtlich, die neu bezogene Wohnung karg und der Warmwasserboiler kaputt. Seine Kolleginnen und Kollegen bei der Kopenhagener Mordkommission reagieren gelinde gesagt verhalten auf den Neuen aus der Provinz, und dann wird er zu einem Mordfall hinzugezogen, der so rätselhaft wie bestialisch ist: Der verstümmelte Leichnam ist einem sogenannten Tupilak nachempfunden, einer chimärenartigen Sagengestalt der grönländischen Mythologie. Gemeinsam mit der faszinierenden Super-Recognizerin Marit und der kratzbürstigen Ermittlungsleiterin Kirsten versucht Jesper, den Mord aufzuklären, der indes nicht der einzige seiner Art bleiben soll. Und der schier ungeahnte Dimensionen erahnen lässt – Dimensionen, die sich als geradezu lebensgefährlich erweisen.

Anne Nørdbys Thriller „Eis. Kalt. Tot“ bietet nicht nur beste und vor allem spannende Unterhaltung, sondern überdies einen echten Erkenntnisgewinn. Wer – wie ich – bislang nicht den Hauch einer Ahnung von der faszinierenden Mythologie der Inuit hatte, wird – ebenfalls wie ich – am Ende der Lektüre seinen Wissenshorizont erweitert haben. Was mir ebenso gut gefallen hat, sind die Atmosphäre sowie die Figurenzeichnung: Das eisig kalte Kopenhagen dringt durch jede Zeile und lässt unabhängig von der tatsächlichen Temperatur bibbern und frösteln. Die Figuren sind auf angenehme Art sperrig und facettenreich. Sie wollen nicht „gefallen“, sie sind nicht eindimensional. Und sie sind – auch das ist hervorzuheben – im Erzählkontext quasi gleichwertig: Es gibt nicht „die eine“ Hauptfigur, die von Nebenfiguren flankiert wird. Vielmehr gibt Anne Nørdby jedem und jeder Einzelnen Raum, lässt sie gleichsam auf der Bühne mal in den Vorder-, dann wieder in den Hintergrund treten.

Ein gelungener Thriller, den ich sehr gern weiterempfehle! (Wobei ich anregen möchte, mit der Lektüre vielleicht bis zum Winter zu warten. Dann dürfte der atmosphärische Effekt noch deutlicher zutage treten.)

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Veröffentlicht am 09.09.2021

Zart und berührend, poetisch und komisch

I get a bird
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Er ist Busfahrer. Sie ist Zukunftsforscherin und Fahrradkurierin.

Eines Tages findet Johan in der Telefonzelle in seiner Wendeschleife, von der aus er jeden Tag zu einer bestimmten Uhrzeit eine gewisse ...

Er ist Busfahrer. Sie ist Zukunftsforscherin und Fahrradkurierin.

Eines Tages findet Johan in der Telefonzelle in seiner Wendeschleife, von der aus er jeden Tag zu einer bestimmten Uhrzeit eine gewisse siebelstellige Nummer anruft, Janas Agenda. Wie kann jemand seine Agenda, dieses „Sammelbuch aller Nachlässigkeiten und Ideen“, in einer Telefonzelle vergessen?! Aufgrund eines unvorhergesehenen Vorkommnisses schickt er Jana die Agenda erst Monate später – für Jana indes zu spät – zu.
Aus diesem gewissenhaften Akt eines ehrlichen Finders entspinnt sich eine Korrespondenz, ja: Brieffreundschaft zwischen den beiden Fremden, die schon nach kurzer Zeit gar nicht mehr so fremd sind. Die Distanz und das Medium erlauben Jana und Johan einen Raum, in dem beide – jede/r auf seine Art versehrt – sich auf ungeahnte Weise öffnen und ihre Geschichte erzählen können.

„Wir sind die Geschichten, die wir von uns erzählen! Jede Familie wird von ihren Geschichten, Legenden zusammengehalten, wie ein Mauerwerk vom Efeu, auch wenn es im Innern völlig marode ist […].“ (Pos. 454)

Zwei Jahre lang schrieben sich Anne von Canal und Heikko Deutschmann in den Rollen der Jana und des Johan. Die einzige initiale Absprache war der Anfang: Er findet etwas, was sie verloren hat. Dabei herausgekommen ist ein zarter und berührender, poetischer und bisweilen auch komischer Briefroman zweier Menschen, die ihre Verletzungen teils sichtbar, teils unsichtbar tragen und ertragen, die sich irgendwie am Leben abschinden und strampeln, ohne die Hoffnung zu verlieren oder gar unterzugehen. Eine Art „Gut gegen Nordwind“ für Erwachsene. Große Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 13.07.2021

"Die Kinder aus Bullerbü" - ohne romantische Verklärung

Vom Ende eines Sommers
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„Einsamkeit war etwas, das alte Leute befiel, aber ich war jung und hatte meine Familie um mich, und so konnte es sie für mich nicht geben.“ (Pos. 159)

Die vierzehnjährige Edie, Farmerstochter im Suffolk ...

„Einsamkeit war etwas, das alte Leute befiel, aber ich war jung und hatte meine Familie um mich, und so konnte es sie für mich nicht geben.“ (Pos. 159)

Die vierzehnjährige Edie, Farmerstochter im Suffolk der 1930er Jahre, blickt einem typischen Sommer entgegen, einem Sommer, der in erster Linie bestimmt ist von Feldarbeit und körperlicher Anstrengung, vom Wetter und dem diesjährigen Getreidepreis – und von ihren Träumen. Eigentlich ist ihr weiterer Lebensweg vorgezeichnet, es ist der Weg aller Mädchen des ländlichen Milieus: heiraten, Kinder kriegen, auf der Farm ihres zukünftigen Mannes ein Leben führen wie ihre Mutter auf dem elterlichen Hof, ein ewiger Kreislauf von Aussaat und Ernte, Gedeih und Verderb. Doch Edie ist anders als die anderen Mädchen ihres Alters. Die Avancen, um nicht zu sagen Zudringlichkeiten des Nachbarsjungen sind ihr äußerst unangenehm, die Interessen ihrer Altersgenossinnen sind nicht die ihren, und überhaupt zieht sie die Gesellschaft von Büchern jederzeit der anderer Menschen vor.

Als unvermutet die Londoner Journalistin Constance FitzAllen in ihrem Dorf auftaucht, um über das Landleben zu schreiben, ist Edie sofort von der weltläufigen, eleganten jungen Frau, die so ganz anders ist als alle Frauen ihres Umfelds, angetan. Sie sieht in Constance ein Vorbild, dem sie nacheifern kann, einen Ersatz für ihre große Schwester, die sie seit deren Hochzeit kaum noch sieht, eine Freundin. Nach und nach gewinnt Constance nicht nur Edies Vertrauen, sondern auch das (fast) aller anderen Bewohner des Hofes, ja, des gesamten Dorfes. Sie mag vielleicht eine etwas zu romantische, realitätsverzerrte Vorstellung vom Leben auf dem Land haben, aber das ist ja nicht weiter schlimm – oder? Tatsächlich liegt Constance nicht nur die Dokumentation des Landlebens am Herzen, die Bewahrung althergebrachter Traditionen, der Schutz und die Lobpreisung regionaler Erzeugnisse. Vielmehr hat sie fatale politische Ideen im Gepäck, die sie um jeden Preis unters Volk bringen will – und die bei der von Weltwirtschaftskrise und Erstem Weltkrieg gebeutelten Landbevölkerung auf einen fruchtbaren Boden fallen.

„Vom Ende eines Sommers“ (aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence) ist ein inhaltlich und sprachlich fesselndes Porträt einer gesellschaftsumwälzenden Epoche und gleichzeitig eine zarte, sensible Zeichnung des Erwachsenwerdens. Es ist geradezu betörend, wie es Melissa Harrison gelingt, das atmosphärische Bild einer vergangenen, aus heutiger Sicht vielleicht sogar seraphischen Zeit heraufzubeschwören und sie mit dem Alltag und dem Seelenleben eines heranwachsenden Mädchens zu verquicken. Als hätte jemand bei den „Kindern von Bullerbü“ den romantisch-verklärten Schleier beiseite gezogen, präsentiert sich ein ebenso ungeschönter wie liebevoller Blick auf das entbehrungsreiche, harte Farmerleben und die sommerstrotzende, üppige Natur, eingebettet in eine spannungsreiche Zeit. Sehr, sehr lesenswert!

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Veröffentlicht am 16.02.2021

Ein perfekter Schmöker

Was der Fluss erzählt
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Es wird etwas passieren.
Diese Ahnung, nein, diese Erkenntnis beschlich sie schon einen Tag vor dem rätselhaften Ereignis, das sie für ein ganzes Jahr in Atem halten sollte. „Sie“ – das sind beispielsweise ...

Es wird etwas passieren.
Diese Ahnung, nein, diese Erkenntnis beschlich sie schon einen Tag vor dem rätselhaften Ereignis, das sie für ein ganzes Jahr in Atem halten sollte. „Sie“ – das sind beispielsweise Joe, der lungenschwache Wirt aus dem Swan, oder Robert Armstrong, der sich große Sorgen um seinen Ältesten macht, desgleichen die von vielen Ängsten geplagte, etwas schrullige Lily White sowie die um ihre verschwundene Tochter trauernde Helena Vaughn. Sie alle – und noch viele Personen mehr – werden von einem mysteriösen Besuch im Swan erschüttert: Da steht doch eines Winternachts Ende des 19. Jahrhunderts ein fremder Mann auf der Schwelle des Gasthauses, blutüberströmt und ein lebloses Kind in den Armen. Die eilig herbeigerufene patente Krankenschwester kann zwar seine Wunden versorgen, für das kleine Mädchen scheint indes jede Hilfe zu spät zu kommen. Kein Puls. Kein Atem. Das Kind ist tot … zumindest denken das alle Anwesenden, bis – ja, bis die Kleine sich plötzlich zu regen beginnt. Sie ist scheu, sie spricht nicht, aber sie ist zweifellos lebendig! Doch wer ist das mysteriöse Mädchen? Robert Armstrong ist sich sicher: seine ihm bis dato unbekannte Enkelin, die kurz zuvor am Fluss zum letzten Mal gesehen wurde. Helena Vaughn ist sich sicher: ihre vor zwei Jahren verschwundene Tochter, die aus ihrem herrschaftlichen Haus am Fluss entführt worden ist. Lily White ist sich sicher: ihre kleine Schwester, die vor fast vierzig Jahren ebenfalls am Fluss verschwand … wer auch immer die Kleine ist, eines scheint festzustehen: „Der Fluss holte wieder Luft und beim nächsten Mal atmete er ein Kind aus.“ (S. 129)

Eine zugleich betörende und beängstigende Flusslandschaft, ein rätselhaftes Kind, viele teils undurchsichtige Interessen und noch mehr Gefühle: „Was der Fluss erzählt“ (aus dem Englischen von Anke und Eberhard Kreutzer) ist ein rundum gelungener Schmöker – ja, ich bemühe ganz bewusst dieses etwas angestaubte Wort für eine fesselnde, unterhaltsame, lebendige Lektüre, die ihren Leserinnen nicht zu viel abverlangt und sie gleichzeitig gekonnt in eine andere Welt, eine andere Wirklichkeit entführt. Die Erzählung fließt dahin wie der titelgebende Fluss, windet sich in Biegungen, hält kleine, tückische Strudel bereit und trägt ihre Leserinnen sanft schaukelnd mit sich, einer ungewissen Mündung entgegen.

Wer der derzeit vielfach doch recht deprimierenden Realität für eine Romanlänge entfliehen will, ist mit diesem Buch bestens bedient – es ist der perfekte Begleiter für ein Wochenende, an dem man den Alltag vergessen will und sich mit Wolldecke und Tee wohlig auf der Couch einmummelt!

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