Profilbild von Webervogel

Webervogel

Lesejury Star
offline

Webervogel ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit Webervogel über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 10.10.2021

Eiswüste im Polarlicht

Eis. Abenteuer. Einsamkeit
0

Jakutien war für mich ein weißer Fleck auf der Landkarte und bleibt es auch, nachdem ich diesen Reisebereicht gelesen habe. Allerdings ist es jetzt ein extrem kalter, vereister weißer Fleck: Wer „Eis. ...

Jakutien war für mich ein weißer Fleck auf der Landkarte und bleibt es auch, nachdem ich diesen Reisebereicht gelesen habe. Allerdings ist es jetzt ein extrem kalter, vereister weißer Fleck: Wer „Eis. Abenteuer. Einsamkeit“ gelesen hat, wird die im nordöstlichen Teil des asiatischen Russlands gelegene Republik nicht mehr so schnell vergessen. Schon das Cover macht neugierig: Grandioses Polarlicht und ein vollbepacktes Fatbike im Schnee. Was bringt jemanden dazu, eine Radtour in die sibirische Arktis zu unternehmen? Und wie funktioniert so ein Unterfangen?

Richard Löwenherz erzählt in seinem ersten Buch von seiner 2017 unternommenen Nordjakutien-Reise, bei der er das Winterstraßennetz Richtung Norden befahren hat. Die sogenannten „Zimniks“ sind nur in der kältesten Jahreszeit nutzbar: Gefrorene Flüsse bilden die Straßen und sind bei hohen Minusgraden auch von Trucks befahrbar – genau wie die Laptewsee, ein Randmeer des Nordpolarmeers, auf dem Löwenherz die letzten Etappen seiner Tour zur Hafensiedlung Tiksi geradelt ist. Seine komplette Reise hat er ohne besondere High-Tech-Ausrüstung bestritten; Löwenherz‘ Equipment ist zum Teil zusammengeliehen, zweckentfremdet oder schon etwas in die Jahre gekommen. Statt auf das Neueste vom Neuesten setzt er auf Bewährtes und seine bei vielen früheren Radreisen gewonnenen Erfahrungen.

Was den Abenteurer antreibt, schildert er in seinem tagebuchähnlichen Bericht: die Herausforderung, die Faszination für die vereiste, karge und spärlich besiedelte Landschaft, die Erfahrung, völlig auf sich selbst zurückgeworfen zu sein. Doch auch die Begegnungen auf seiner über 40 Tage dauernden Reise sind spannend zu lesen. Bei den die Zimniks befahrenden Truckfahrern ist er bald bekannt, Zeit für einen Wodka oder einen heißen Tee findet sich bei fast jeder Begegnung. In besiedelten Dörfern wird ihm in der Regel schnell ein Schlafplatz für die Nacht angeboten. Löwenherz‘ Bekanntschaften sind nicht immer gesprächig, meist aber sehr gastfreundlich. Und so bekommen Leserinnen und Leser gleich noch einen kleinen Eindruck von dem Menschenschlag, der die meiste Zeit des Jahres in einer Eiswüste lebt – zumindest von den Männern; Frauen begegnet Löwenherz auf seiner Fahrt nur sehr selten.

Mir hat „Eis. Abenteuer. Einsamkeit“ sehr gefallen: Die Beschreibung einer Reise, von der ich nicht geglaubt hätte, dass sie so stattfinden kann, die vielen Fotos, die Schilderung vom Umgang mit Eis und Schnee, denen der Autor radelnd und campend komplett ausgesetzt war. Sein außergewöhnliches Abenteuer schildert Löwenherz packend und anschaulich und zeigt dabei, was alles möglich ist, wenn man für eine Sache brennt.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 21.09.2021

Letzte Nacht

Du hast mir gerade noch gefehlt
0

„Du hast mir gerade noch gefehlt“ scheint auf den ersten Blick ein typischer Mhairi-McFarlane-Roman zu sein. Schon das verspielt illustrierte Cover mit dem eher nichtssagenden Titel und dem leicht chaotischen ...

„Du hast mir gerade noch gefehlt“ scheint auf den ersten Blick ein typischer Mhairi-McFarlane-Roman zu sein. Schon das verspielt illustrierte Cover mit dem eher nichtssagenden Titel und dem leicht chaotischen Schriftzug fügt sich bestens in die Reihe der bisherigen sechs Romane ein. Eve Harris, die Hauptfigur, könnte auf den ersten Blick auch in jedem der anderen Bücher vorkommen: eine sympathische Single-Frau mit kleinen Unsicherheiten, die ihren Job nicht mag, ihren Kater liebt und alles für ihre Freunde tun würde. Ihre Clique besteht seit Schulzeiten aus Susie, Justin und Ed; der feste Treffpunkt der Mittdreißiger ist das Pub-Quiz, bei dem sie noch nie gewonnen haben. Und so beginnt der Roman mit einem ganz normalen Kneipenabend, bei dem dann allerdings Eds Freundin Hester die Bühne kapert und ihm einen Antrag macht. Eve, die seit Jahren heimlich in Ed verliebt ist, zieht es den Boden unter den Füßen weg – denkt sie. Doch die wahre Katastrophe steht ihr erst noch bevor.

Ich hätte Mhairi McFarlane nicht zugetraut, dass sie einem Schicksalsschlag so viel Raum gibt, wie es in diesem Roman geschieht. Sie schildert einfühlsam und authentisch, wie eine Tragödie Eves Leben und das ihrer Freunde durcheinanderwirbelt. Wer einen Liebesroman erwartet hat, wird vielleicht irritiert sein, doch mir hat sehr gefallen, dass die Geschichte so viel mehr bietet und sich in keine Schublade stecken lässt. McFarlane beweist, dass sie neben den lustigen und romantischen Tönen auch die traurigen und verzweifelten trifft – selbst auf der Langstrecke. Sie bringt Humor und Tiefgang stimmig zusammen, und so ist „Du hast mir gerade noch gefehlt“ eine runde Geschichte über Freundschaft, Liebe, Verlust und Weiterleben, die viele gute Gedanken enthält – und der ihr 08/15-Titel absolut nicht gerecht wird. Im Original heißt der Roman schmucklos „Last night“, was ich weitaus passender finde. Doch so oder so ist es der perfekte Roman, um es sich mit einer Tasse Tee (very British) auf dem Sofa gemütlich zu machen und einfach mal ein paar Stunden durchzuschmökern.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 11.09.2021

Raffinierter Pageturner

Wer das Feuer entfacht - Keine Tat ist je vergessen
0

Roman, Krimi, Thriller – „Wer das Feuer entfacht“ ist ein bisschen von allem, wobei der Pageturner ganz klassisch mit einer Leiche beginnt: Daniel Sutherland, Anfang bis Mitte 20, wurde auf seinem schmuddeligen ...

Roman, Krimi, Thriller – „Wer das Feuer entfacht“ ist ein bisschen von allem, wobei der Pageturner ganz klassisch mit einer Leiche beginnt: Daniel Sutherland, Anfang bis Mitte 20, wurde auf seinem schmuddeligen Hausboot brutal ermordet. Seine Nachbarin Miriam findet ihn, seine Tante Carla ist untröstlich und Laura, die er kurz vor seinem Tod noch abgeschleppt hatte, macht sich verdächtig. Die Polizei nimmt ihre Ermittlungen auf. Wer Daniel Sutherland auf dem Gewissen hat, blieb mir lange ein Rätsel, aber dieses Rätsel macht nicht den größten Reiz des Romans aus, sondern die Schicksale der anderen Charaktere. Miriam, Carla, Laura, aber auch weitere Nebenfiguren werden einfühlsam portraitiert. In dem Roman-Kosmos gibt es sehr unterschiedliche Menschen, die alle eint, dass sie auf irgendeine Weise beschädigt sind. Teils sieht man es ihnen an, teils können sie es kaschieren, doch alle haben ihr Päckchen zu tragen, bewältigen das jedoch nicht gleich gut.

Hawkins gelingt es durch häufige Perspektivwechsel, ihre Figuren nahbar werden zu lassen, ohne ihre Geheimnisse zu enthüllen. Gleichzeitig bleibt der Roman temporeich. Und dann schafft sie noch fast spielerisch, was für mich sowohl einen gelungenen Krimi als auch Thriller ausmacht: Viele kleine Details fügen sich unauffällig in den Lesefluss ein, haben am Ende aber eine ungeahnte Bedeutung für das Gesamtbild. Hinzu kommt ein überraschendes und dennoch stimmiges Finale, das den Roman raffiniert abrundet. Es ist schon ein paar Jahre her, dass ich „Girl on the train“ gelesen habe, aber ich würde behaupten, dass „Wer das Feuer entfacht“ bestens mit Hawkins Erfolgsroman mithalten kann.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 11.07.2021

Sommer unterm Brennglas

Der Brand
0

Auf dem Cover dieses Romans scheint die titelgebende Feuersbrunst abgebildet zu sein. Doch von dem Brand, der am Anfang dieser Geschichte steht, wird nur telefonisch berichtet. Die 49-jährige Hauptfigur ...

Auf dem Cover dieses Romans scheint die titelgebende Feuersbrunst abgebildet zu sein. Doch von dem Brand, der am Anfang dieser Geschichte steht, wird nur telefonisch berichtet. Die 49-jährige Hauptfigur Rahel erfährt kurz vor der Abreise, dass das seit Langem für den Sommerurlaub gebuchte Quartier abgebrannt ist. Und so fahren sie und ihr Mann Peter nicht in die Alpen, sondern in die Uckermark und hüten dort den Hof von Freunden, was mehr eine Pflichtübung als die ersehnte Auszeit ist. Dabei wollten sie doch Kraft tanken und einander wieder näherkommen – letzteres hatte sich zumindest Rahel erhofft. Als dann noch ihre Tochter mit den beiden Enkelkindern bei dem Paar einfällt, scheint jegliche Entspannung in weite Ferne gerückt.

„Der Brand“ handelt also von Familie, ist aber weit davon entfernt, eine amüsante Generationengeschichte zu sein. Und das liegt vor allem am sezierenden Stil von Autorin Daniela Krien, die unaufgeregt und schonungslos Gefühle und Situationen schildert. Dabei schafft sie es, ihre Figuren komplex zu charakterisieren, ohne sie zu bewerten oder die Sympathien klar zu verteilen. Krien ist eine dichte Erzählung gelungen, die sich aber auch durch eine überraschende Leichtigkeit auszeichnet, weil einige Themen nur angedeutet und längst nicht alle Krisen detailliert beschrieben oder gar gelöst werden. Dadurch wirkt der Roman sehr lebensnah. Sein großes Thema ist weniger die Geschichte einer Familie oder einer Ehe, sondern die Veränderung von Menschen und ihren Beziehungen im Laufe des Lebens. Die Autorin fängt beides auf eine leise, fast nebensächliche Art und Weise ein, aber ihre präzisen Beobachtungen haben mich das ein oder andere Mal kalt erwischt und einige Sätze hallen nach. Daniela Kriens Roman hinterlässt Spuren.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 27.06.2021

Kurioser Mix, wunderbar erzählt

Wie hat Ihnen das Anthropozän bis jetzt gefallen?
0

Dieser Titel hat mich gleich angesprochen – im wahrsten Sinne des Wortes. Und das auch noch sehr höflich: „Wie hat Ihnen das Anthropozän bisher gefallen?“ Tja, gute Frage. Laut Wikipedia (das wiederum ...

Dieser Titel hat mich gleich angesprochen – im wahrsten Sinne des Wortes. Und das auch noch sehr höflich: „Wie hat Ihnen das Anthropozän bisher gefallen?“ Tja, gute Frage. Laut Wikipedia (das wiederum einen Artikel aus der NZZ zitiert) ist das Anthropozän „[das Zeitalter,] in dem der Mensch zu einem der wichtigsten Einflussfaktoren auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse auf der Erde geworden ist“. Es gibt verschiedene Ansätze, die den Beginn des Anthropozäns unterschiedlich datieren. Fest steht, dass es das einzige Zeitalter ist, das wir kennen. Aber was macht es eigentlich aus?

John Green nähert sich dieser Frage in kurzen Kapiteln, in denen er über Dinge, Momente und Erfahrungen schreibt, die für ihn mit dem Anthropozän verbunden sind – z.B. Klimaanlagen, Diet Dr Pepper und Jerzy Dudeks sportliche Leistung am 25. Mai 2005. Ich habe Dr Pepper noch nie getrunken und Jerzy Dudek sagte mir nichts. Aber das ist völlig egal, gerade letztere Geschichte habe ich gleich zweimal gelesen, weil sie mir so gut gefallen hat (und vermutlich auch, weil gerade EM ist und es thematisch so schön passt). Viele der Kapitel beziehen sich auf die USA, da Green ein amerikanischer Autor ist – mehrere Überschriften sagten mir gar nichts. Doch das stört beim Lesen in keiner Weise, denn von diesem Autor lässt man sich einfach gerne lesend an die Hand nehmen und zu den verschiedensten Themen dieses bunten Mixes führen.

Allerdings erzählt John Green nicht nur – er bewertet auch, nach der bewährten 5-Sterne-Skala, die wir alle aus dem Internet kennen. Sogar sein eigenes Buch ist nicht vor ihm sicher; er lässt sich kritisch über Copyrightseite, Titelseite und die Buchwerbung am Schluss aus. Ansonsten bewertet er von Kanadagänsen (zwei Sterne) über unsere Fähigkeit zu staunen (dreieinhalb Sterne) bis hin zum Halleyschen Kometen (viereinhalb Sterne) jedes Thema, das er unter die Lupe nimmt – aber erst, nachdem er es sorgsam von mehreren Seiten beleuchtet hat. Green schreibt über seine persönliche Beziehung dazu, seine Gedanken, seine Erlebnisse und reichert das Ganze mit Fakten und (zum Teil wunderbar unnützem) Wissen an. Das liest sich mal faszinierend, mal skurril, mal anrührend, macht großen Spaß und bringt gleichzeitig zum Nachdenken. Die Art, in der John Green über Emotionen schreibt, hat mich dabei an Matt Haig erinnert und mir sehr gefallen.

Apropos: Wie hat mir das Anthropozän denn nun bis jetzt gefallen? Die Antwort auf diese Frage in eine 5-Sterne-Skala zu pressen, erscheint mir unmöglich. Aber John Greens Buch, dem gebe ich viereinhalb Sterne.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere