Glasröhrchen gegen Wassergeister
Der Himmel vor hundert JahrenDer Himmel vor hundert Jahren – Yulia Marfutova
Longlist Deutscher Buchpreis 2021
Die Autorin entführt in diesem recht kurzen Roman in eine vollkommen eigene Welt. Es ist ein kleines russisches Dorf, ...
Der Himmel vor hundert Jahren – Yulia Marfutova
Longlist Deutscher Buchpreis 2021
Die Autorin entführt in diesem recht kurzen Roman in eine vollkommen eigene Welt. Es ist ein kleines russisches Dorf, etwa um 1918, das völlig abgeschieden liegt. Schon seit längerem, mutmaßt man, sollte doch wohl der letzte Krieg zu Ende sein. Doch bisher ist noch keiner der Männer wieder zurückgekehrt. Sowieso verlässt man sich hier lieber auf die Weissagungen eines Glasröhrchens, den Aberglauben und alte Ikonen.
Die Figuren könnten schrulliger kaum sein. Der alte Ilja, der ganz auf sein Glasröhrchen vertraut. Der ebenfalls alte Pjotr, der sich lieber am Fluss aufhält und mit den Wassergeistern spricht. Iljas Frau Inna, der ein Messer runterfällt – ganz klar, das heißt, ein Fremder kommt ins Dorf. Tatsächlich kommen Fremde von der anderen Seite des Flusses – was die wohl wollen?
Unterstützt werden diese Sonderlichkeiten des Personals von der recht speziellen Sprache. Stakkatoartig, beinahe abgehakt erzählt die Autorin in einem Ton, der direkt von diesen weltfremden, einfachen Leuten kommen könnte. Es ist schon eine Art Kunst, Sprache derart zu vereinfachen und sich quasi so sehr in die Figuren hineinzuversetzen. Dabei nimmt die Erzählstimme eine gefühlte Position oberhalb des Dorfes ein. Abwechselnd beleuchtet sie einzelne Protagonisten und scheint allwissend zu sein – mit einem liebevoll zwinkernden Auge.
Allzuviel passiert eigentlich gar nicht in dieser Geschichte. Es ist die Beschreibung dieses irgendwie aus der Welt gefallenen Dorfes und seiner Bewohner. Man nimmt das Leben hin, wie es kommt und interessiert sich eigentlich gar nicht weiter dafür, was außerhalb alles an Weltgeschichte passiert. Trotzdem ist es ein wichtiger Moment im Leben dieses Ortes. Denn etwas drängt von außen herein. Man ist gezwungen über den Tellerrand zu schauen, etwas verändert sich. Plötzlich ist es nicht mehr möglich, die Augen zu verschließen. Mit einer unglaublichen Naivität und guten Portion Aberglaube sind die Figuren dieses Romans ausgestattet. Wie könnten sie auch anders sein in ihrer Abgeschiedenheit?
Kurze Kapitel, wortkarge Charaktere. Ein ahnungsloses Dorf inmitten eines Sturms der Weltgeschichte – dem Untergang des Zarenreiches. Es ist ein kurzweiliges Lesevergnügen. Es sind auch nur knapp 200 Seiten. Am Ende muss ich aber auch sagen, dass das genug ist von diesem doch recht anstrengenden Schreibstil. Auf interessante Art und Weise anstrengend. Deshalb von mir 4 Sterne.