Lesenswert, stark, wichtig
Die Hauptfigur dieses Romans ist Franzisk Lukitsch, auch Zisk genannt, der zu Beginn der Geschichte Schüler an einem Lyzeum für Musik ist. Zusammen mit seinen Freunden macht er sich an einem sonnigen Abend ...
Die Hauptfigur dieses Romans ist Franzisk Lukitsch, auch Zisk genannt, der zu Beginn der Geschichte Schüler an einem Lyzeum für Musik ist. Zusammen mit seinen Freunden macht er sich an einem sonnigen Abend zu einem Konzert auf. Als plötzlich ein Regenschauer über die Stadt hereinbricht, findet sich Zisk in einer U-Bahn Unterführung wieder. Da alle Konzertgänger in dieser den einzigen Unterschlupf erkennen, kommt es zu einem Massengedränge und dutzende Menschen werden zerquetscht, zertrampelt und sterben. Zisk kommt zwar mit seinem Leben davon, fällt aber in ein Koma, das die nächsten zehn Jahre andauern wird. Als er dann erwacht, scheint alles wie zuvor, als läge nicht ein ganzes Jahrzehnt zwischen dem Unfall und seinem Erwachen.
Dieselbe Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit prägt auch nach einem Jahrzehnt noch das Leben der Menschen. Und obwohl die Mehrheit des Volkes den Präsidenten nicht unterstützt und unzufrieden ist, schaffen sie es nicht, etwas gegen das Regime zu tun. Denn durch Angst und Gewalt wird die Macht erfolgreich aufrecht erhalten. Filipenko zerlegt das politische System in seine einzelnen Bestandteile und stellt dar, durch welche Mechanismen und Strukturen es aufrecht erhalten wird. Diese überraschen nicht, weil sie in jeder Diktatur zu finden sind: Das Einsperren von Oppositionellen und von allen kritischen Stimmen (denn “gesunde Menschen stellen keine Fragen”), die Ermordung von Journalisten, das gewalttätige Vorgehen gegen Demonstranten, das Festhalten an einer bestimmten Version der Geschichte, die Kontrolle und Gleichschaltung der Medien, die Zensur der Kunst, die politische Isolation, usw. Diese Strukturen führen dazu, dass es überhaupt keine Veränderungen und keine Entwicklung gibt. Einer der Ärzte fasst das sehr treffend zusammen: “Wir leben im besten Land für erwachende Komapatienten. Hier ändert sich absolut nichts. Egal, wie lang sie im Koma liegen. Monatelang, jahrelang, ewig...”
Filipenko erschafft durch seinen Erzählstil eine greifbare und dichte Atmosphäre und erweckt ein Land und seine Menschen zum Leben. Der Ton ändert sich immer wieder, manchmal mutet er poetisch an, dann kritisch und ernst und er kann auch durchaus humorvoll sein. Das Besondere an dem Roman ist meiner Meinung nach jedoch, dass seine Figuren selbst sehr häufig zu Wort kommen, wodurch ein Gefühl von Nähe und Authentizität entsteht. Die Charaktere wirken vielschichtig und greifbar. An Zisks Krankenbett beispielsweise werden zahlreiche Monologe von unterschiedlichen Figuren gehalten und es sind diese Monologe, die so viel über die Entwicklung und den Zustand im Land verraten. Außerdem wird der Roman durch sie zu einer Bühne, auf der die Figuren ihre Meinungen, Gedanken, Sorgen, Nöte und ihre Wut äußern können.
Fazit: Ein lesenswerter, wichtiger und starker Roman, der die Stimmen eines Landes einfängt und den Horizont des Lesers erweitert.