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Veröffentlicht am 27.09.2021

Wichtiges Thema

Wut und Böse
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Wut ist seit je her für die Geschlechter unterschiedlich besetzt; das beginnt schon als Kind. Während Jungs auch mal laut und aggressiv werden dürfen („Es sind eben Jungs“), sollen Mädchen „brav“ sein ...

Wut ist seit je her für die Geschlechter unterschiedlich besetzt; das beginnt schon als Kind. Während Jungs auch mal laut und aggressiv werden dürfen („Es sind eben Jungs“), sollen Mädchen „brav“ sein und ihre Wut unterdrücken. Diese von einander abweichende Bewertung setzt sich bis ins Erwachsenenalter fort: Wütende Männer sind stark und durchsetzungsfähig, wütende Frauen sind Zicken und hysterisch. Dabei haben Frauen auch heutzutage noch jede Menge Gründe, um eigentlich dauerhaft wütend zu sein – warum sind wir es nicht?

Diesem spannenden Thema widmet die Journalistin Ciani-Sophia Hoeder ihr erstes Sachbuch. Dabei verbindet sie auf gelungene Weise gesellschaftliche Betrachtungen mit historischen Rückblicken, faktischen Studien und persönlichen Erfahrungen. Zunächst klärt die Autorin den Begriff der Wut und seine Geschichte, schlägt dann den Bogen speziell zu weiblicher Wut und wagt am Ende den Ausblick, inwiefern Wut Veränderung schaffen kann und was eigentlich nach ihr kommt. Es fällt positiv auf, dass Hoeder dabei auch aktuelle Diskussionen und Entwicklungen einfließen lässt und einen intersektionalen Ansatz verfolgt.

Schon früh im Text wird deutlich: Männer sind nicht wütender als Frauen, sie bewerten Wut nur anders. Frauen geben oft an, sich eher traurig oder enttäuscht zu fühlen, einfach weil das gesellschaftlich viel akzeptierter ist. Dabei ist es die männliche Wut, die als Ursache zu Aggression wird und zu riskanten Verhalten und Gewalt (vor allem gegen Frauen!) führt. In einer heterosexuellen Ehe werden Männer älter, weil sie ein besseres, sicheres Leben führen, Frau hingegen sterben früher – ist das nicht bezeichnend?

Was können Frauen also tun? Die Wut für sich zurückfordern, sie „reclaimen“, sagt die Autorin; sie nicht länger unterdrücken, denn letztendlich macht genau das uns krank. Daher sollten wir stolz auf uns sein, wenn wir in einer Situation Wut empfinden und für uns selbst einstehen, um Gerechtigkeit zu erfahren. Wer bereits die einschlägige Literatur zur Ungleichbehandlung von Frauen kennt, für den ist vieles nicht neu, dennoch ist „Wut und Böse“ eine gelungene Zusammenfassung zu einem wichtigen Thema.

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Veröffentlicht am 22.09.2021

Die Abgründe Europas

Blaue Frau
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Eine junge Frau in einer Wohnung in Helsinki. Am Anfang wissen wir nur, dass sie auf der Flucht ist und unbedingt eine Aussage vor Gericht machen will. Wir wissen auch, dass sie nicht nur eine Namen hat: ...

Eine junge Frau in einer Wohnung in Helsinki. Am Anfang wissen wir nur, dass sie auf der Flucht ist und unbedingt eine Aussage vor Gericht machen will. Wir wissen auch, dass sie nicht nur eine Namen hat: Nina. Sala. Adina. Der letzte Mohikaner – hinter jedem davon scheint ein völlig anderes Leben zu liegen.

Aufgewachsen ist die Protagonistin Adina in einem Dorf an der tschechisch-polnischen Grenze, das vom Skitourismus lebt. Dort ist sie der einzige Teenager und nennt sich im Internet daher „Der letzte Mohikaner“. Nina nennt sie ihr Chef bei einem Praktikum in der Uckermark, weil er sich ihren richtigen Namen nicht merken kann und will. Sala hingegen ist sie nur mit Leonides, einem estnischen Professor und EU-Abgeordneten, den sie hier in Finnland kennengelernt hat und der sich für Menschenrechte einsetzt. Doch wer wird sich nun für Adina einsetzen?

Antje Rávik Strubel erschafft mit „Blaue Frau“ einen ungemein vielschichtigen Roman, der sich erst nach und nach in seiner ganzen erschütternden Wahrheit offenbart. Die sprachgewaltige, emotionale Geschichte folgt der Protagonistin durch die Gegenwart, in der sie um Gerechtigkeit für sich selbst kämpfen muss und macht dann Sprünge in die Vergangenheit. Eingeschoben in den Erzählstrang ist außerdem eine Metaebene, in der uns die Titel gebende blaue Frau begegnet. Was es mit ihr genau auf sich hat, muss wohl jede/r für sich entscheiden – für mich persönlich kommuniziert hier jedoch die Autorin mit ihrer Figur.

Vorrangig geht es im Roman sicherlich um sexuelle Gewalt (das ist kein Spoiler, sondern wird bereits sehr früh offenbart) und das Patriarchat, das eine solche Machtsituation von Männern über Frauen erst erschaffen hat. Darüber hinaus sind jedoch auch ungleiche Beziehungen (vom sozialen Status gesehen) und das damit verbundene Überlegenheitsgefühl West- gegenüber Osteuropas (vor allem gegenüber osteuropäischen Frauen und generell Arbeitskräften) ein Thema. Es sind die Abgründe Europas, die hier beschrieben werden und in denen wir unbedingt mehr für die Opfer tun müssen.

Fazit: Ein Buch, das für mich völlig zu Recht auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis steht

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Veröffentlicht am 16.09.2021

Vom Schweigen zwischen Vater und Tochter

Vater und ich
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Ipek verbringt ein verlängertes Wochenende bei ihrem Vater; die Mutter ist mit Freundinnen im Kurzurlaub in einem Wellness-Hotel. Zwischen Vater und Tochter scheint die Nähe abhanden gekommen und Schweigen ...

Ipek verbringt ein verlängertes Wochenende bei ihrem Vater; die Mutter ist mit Freundinnen im Kurzurlaub in einem Wellness-Hotel. Zwischen Vater und Tochter scheint die Nähe abhanden gekommen und Schweigen hat sich ausgebreitet. Wann hat es begonnen, fragt Ipek sich und wer ist für die fehlenden Worte verantwortlich?

Auf „Vater und ich“ der Autorin und Journalistin Dilek Güngör wurde ich durch die Longlist des Deutschen Buchpreises aufmerksam und es zog mich sofort an. Der gesamte Text ist eine direkte Ansprache an den Vater im Präsens und wirkt dadurch unmittelbar und sehr persönlich. Der Autorin gelingt es dabei perfekt, die Sprachlosigkeit zwischen Vater und Tochter einzufangen und obwohl die Prämisse hier eine völlig andere ist, fühlte es sich doch (unangenehm) bekannt an.

Ipeks Vater kam mit 21 Jahren als „Gastarbeiter“ nach Deutschland. Mit vierzehn war er von zuhause weggelaufen, lernte das Polsterhandwerk und musste schließlich zum Militärdienst. Ipek ist schon vor Jahren aus der schwäbischen Heimat nach Berlin gezogen – im Gegensatz zu ihren Freundinnen, die immer noch vor Ort leben und handfeste Berufe haben (Lehrerin, Physiotherapeutin, Bankangestellte). Ipek hingegen ist Journalistin und führt die interessantesten, komplexesten Interviews – nur mit dem eigenen Vater will das nicht mehr funktionieren:

„Überall fehlen mir die Worte, in deiner Sprache, in meiner Sprache und mit dir sowieso.“ (Ende Kapitel 7)

Früher machten sie Scherze miteinander, sahen gemeinsam Filme, aber heute gelingt ein ausführliches Gespräch nur noch, wenn andere dabei sind; die Mutter zum Beispiel, die gerne und viel redet oder Doktor Funke, der sich seine Möbel stets von Ipeks Vater aufbereiten lässt. Doch es gibt auch Lichtblicke. Beim gemeinsamen Kochen oder beim Polstern von Möbeln ist das Schweigen nicht mehr unangenehm, sondern wie ein stilles Ineinandergreifen von Zahnrädern. Und obwohl sie sonst immer ohne Ansprache miteinander reden, nennen sich die beiden am Ende kızım und baba, Tochter und Vater - und Ipek zieht ein wunderbares Fazit „Wir sind, wie wir sind.“ Einziges Manko des Romans? Viel zu kurz!

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Veröffentlicht am 15.09.2021

Eine besondere Freundschaft

Der perfekte Kreis
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England, 1989. In den Feldern im Süden des Landes tauchen regelmäßig Kornkreise auf, deren Muster nach und nach komplexer werden. Die Menschen sind in Aufruhr, Touristen strömen in Scharen herbei und die ...

England, 1989. In den Feldern im Süden des Landes tauchen regelmäßig Kornkreise auf, deren Muster nach und nach komplexer werden. Die Menschen sind in Aufruhr, Touristen strömen in Scharen herbei und die Bauern nehmen sogar Eintritt für die betroffenen Felder. Urheber all dieser Aufregung sind Redbone und Calvert, die schon seit langem eine tiefe Freundschaft verbindet. Gemeinsam schlagen sie sich die Nächte um die Ohren, um das perfekte Kunstwerk zu schaffen. Doch dieser Sommer könnte ihr letzter werden…

„Offene See“ gehörte im letzten Jahr zu meinen absoluten Highlights, weshalb auch „Der perfekte Kreis“ von mir mit Spannung erwartet wurde – und ich wurde nicht enttäuscht. Von der ersten Zeile an begeistert der poetische Schreibstil des Autors und erweckt die wogenden Felder und die Menschen um sie herum zum Leben. Der gesamte Roman ist eine Hommage an eine Landschaft und die Natur an sich. Sie ernährt uns und muss daher unbedingt geschützt werden; nicht umsonst schildert Benjamin Myers mehrfach in der Geschichte, wie der Mensch das Land auf die verschiedensten Arten schädigt.

Im Zentrum steht jedoch ohne Zweifel die Freundschaft zwischen Redbone und Calvert. Auf den ersten Blick sind beide recht unterschiedlich: Redbone, ein Lebemann, der zwischen zwei Frauen hin- und herpendelt und (gerne auch zugedröhnt) die Pläne für die kunstvollen Muster in den Feldern entwirft. Calvert hingegen, ein Veteran, den der Krieg traumatisiert zurückgelassen hat und der für den passenden Standort und die Ausführung der Kornkreise zuständig ist. Beide haben ihre Fehler, sind im Umgang nicht immer einfach, aber sie akzeptieren einander, so wie sie eben sind.

„Der perfekte Kreis“ ist kein Buch, in dem sich die Ereignisse überschlagen, denn hauptsächlich begleiten wir die beiden Protagonisten bei ihren nächtlichen Ausflügen. Dort erleben sie Lustiges und Trauriges und sprechen über die Themen ihres Lebens: die Liebe oder deren Abwesenheit, ihre Vergangenheit und Träume für die Zukunft, aber vor allem den Sinn und Zweck hinter den Kornkreisen und die Zerstörung der Natur durch den Menschen. Unbedingt lesen!

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Veröffentlicht am 16.08.2021

Grandiose Erzählungen

Ist es nicht schön hier
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Ein Bruder muss hilflos zusehen, wie seine Schwester sich im Netz mit der Regierung anlegt und dafür festgenommen wird. Eine Frau wandert mit großen Träumen nach Shanghai aus, landet dann aber als Verkäuferin ...

Ein Bruder muss hilflos zusehen, wie seine Schwester sich im Netz mit der Regierung anlegt und dafür festgenommen wird. Eine Frau wandert mit großen Träumen nach Shanghai aus, landet dann aber als Verkäuferin in einem Blumenladen. Eine andere will ihren Vater besuchen und verpasst gerade so die U-Bahn. „Na, dann warte ich eben auf die nächste“, denkt sie sich. Doch es kommt keine mehr, sie ist gestrandet.

Das sind nur drei Beispiele von insgesamt 10 Erzählungen, die Te-Ping Chen in ihrem Debütband „Ist es nicht schön hier“ versammelt. Jede einzelne von ihnen greift eine Facette des Lebens in China auf oder behandelt das Leben im „Exil“. Erzählt wird in einer einfachen und klaren Sprache, aber mit einem guten Blick für Details und das menschliche Verhalten. Es geht dabei sowohl um Alltägliches, als auch um außergewöhnliche Ereignisse, um Tradition auf der einen und modernes, hoch technisiertes Leben auf der anderen Seite. Manche Geschichten erscheinen typisch chinesisch, viele jedoch beschreiben universelle menschliche Erfahrungen.

Auch die Themen sind ganz unterschiedlicher Natur. Mal beleuchtet die Autorin Beziehungen – eine internationale Partnerschaft zum Beispiel oder eine Frau, die sich nach dem Tod ihres Mannes auf Spurensuche in dessen Heimat China begibt. Aber auch Politisches wird angesprochen, wie etwa die eingangs erwähnte Geschichte von Bruder und Schwester und der Bau einer Flugmaschine endet mit einer geradezu philosophischen Lehre.

Besonders beeindruckt haben mich zwei Erzählungen: Ein Mann sitzt im Gefängnis und berichtet im Rückblick von dem Verbrechen, das er begangen hat; hier beweist die Autorin, dass sie die unterschiedlichsten Genres beherrscht, denn im Prinzip haben wir hier einen Kurzkrimi. Skurril, aber umso beeindruckender ist schließlich die abschließende Geschichte über eine Gruppe Personen, die in einer U-Bahn-Station strandet und dort quasi eine kleine Stadt errichtet, herrlich! Von dieser Autorin möchte ich unbedingt mehr lesen!

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