Profilbild von herrfabel

herrfabel

Lesejury Star
offline

herrfabel ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit herrfabel über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 17.09.2021

Kornkreise in England - "Der perfekte Kreis" und eine ungewöhnliche Freundschaft

Der perfekte Kreis
0

Nachdem Benjamin Myers mit "Offene See" den Liebling der deutschen Buchhändler:innen landete und beinahe jeden mit seiner unaufgeregten und sehr naturverbundenen Freundschaftsgeschichte begeistern konnte, ...

Nachdem Benjamin Myers mit "Offene See" den Liebling der deutschen Buchhändler:innen landete und beinahe jeden mit seiner unaufgeregten und sehr naturverbundenen Freundschaftsgeschichte begeistern konnte, hat er nun mit "Der perfekte Kreis" noch einmal nachgelegt. Auch dieses Buch widmet er einer ganz besonderen Freundschaft. Wir begeben uns mit ihm ins südliche England im Jahr 1989, als dort gehäuft seltsame, kreisrunde Muster auf den Feldern auftauchen. Eine Sensation, die für reichlich Spekulationen in den Medien, bei den Wissenschaftlern und Menschen vor Ort sorgt. Einige wollen kleine grüne Wesen gesehen haben, andere gehen von Jugendstreichen aus oder sehen dies einfach als eine lukrative Geldeinnahmequelle. Doch hinter all dem stecken eher zwei, die sich über einen ungewöhnlichen Weg gefunden haben und eine seltene Leidenschaft hegen. Calvert und Redbone haben sich viel vorgenommen, sie möchten in diesem Sommer die "Kleingeister" mit ihren Kornkreisen umhauen und damit die Aufmerksamkeit zurück auf die Natur lenken. Die Honigwabe-Doppelhelix soll dabei ihr größter Coup werden, aber bis dahin versuchen sich die beiden noch an ein paar anderen Kornkreisformationen. Sie ziehen nächtlich mit Seilen und Brettern bewaffnet los und setzen Redbones verrückte Pläne in die Tat um. Eine Tat und Freundschaft, die gerade für Calvert wichtiger ist, als alles andere. Doch eins schwingt immer mit... die Angst davor entdeckt zu werden.

"Ein perfekter Kreis kann prinzipiell nicht erschaffen werden, erst recht nicht von zwei Typen auf einem Feld mit ein paar Seilen und hochfliegenden Ideen. Sorry, mein Freund. Der perfekte Kreis kann nur als Idee existieren. Was gar nicht so schlecht ist, wenn du mal drüber nachdenkst, denn das heißt, dass jeder von uns einen in sich trägt."


Das ist es also, der berühmt, berüchtigte zweite Roman und ehrlich gesagt, hat mich "Der perfekte Kreis" schon sehr enttäuscht. Zwar gibt es einige Parallelen zu Myers Erstling, aber die Handlung ist dann doch etwas eintönig. Als Leser:in begleitet man die beiden Freunde insgesamt 10 Mal auf ihren Touren durch die Felder. Redbone und Calvert setzen sich dabei immer wieder neue, größere oder spektakulärere Ziele, werden hin und wieder von Anwohnern überrascht und in ihren Gesprächen werden hier und da weitreichende Themen wie Kolonialismus, Müll, Monokulturen, Regionalismus, der generelle Einfluss der Menschen auf die Umwelt, sowie die globale Erwärmung eingestreut, aber bis auf ein paar Grundzüge lernt man die beiden Protagonisten kaum kennen und in der Geschichte gibt es kaum begeisterungsfähige Aufs und Abs. Es plätschert so hin, lässt sich mal eben so fix lesen, aber im Großen und Ganzen gibt einem die Geschichte recht wenig und das ist schade. Auch ein Punkt, über den ich lange nachdachte und irgendwie fraglich finde, ist dass jedes Kapitel den jeweils von den beiden ausgedachten Namen für das Kornkreiskunstwerk, wie der Longbarrow-Wal, der White-Whattle-Schlüssel oder der High-Bassett-Butter-Barrel-Whirlpool trägt und dann in den teilweise am Ende des jeweiligen Kapitels angehängten 'Zeitungsberichten' eben auch jene Namen auftauchen. Dass sich die beiden Künstler und die Redakteure die gleichen Namen für etwas ausdenken... hmm.
Und so ist es dann eben nur ein nettes Buch über eine ungewöhnliche Freundschaft, sehr ruhig und sicherlich ein nettes Verlegenheitsgeschenk für Freunde, bei denen man nicht weiß, was sie gerne lesen, aber die auf der Rückseite versprochene "berührende Liebeserklärung an die englische Landschaft, die Natur und nicht zuletzt an die Freundschaft" ist dann eine vielleicht doch etwas zu hochgegriffene Beschreibung.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 19.04.2021

Mord oder Suizid? Der erste Fall für Katja Sand in "Trauma - kein Entkommen"

Trauma – Kein Entkommen
0

Ich habe mich auf Spurensuche nach etwas Nervenkitzel begeben und bin bei der als Trilogie angelegten Thrillerreihe Trauma von Christoph Wortberg gelandet. Und eigentlich sollte man nun meinen, dass ein ...

Ich habe mich auf Spurensuche nach etwas Nervenkitzel begeben und bin bei der als Trilogie angelegten Thrillerreihe Trauma von Christoph Wortberg gelandet. Und eigentlich sollte man nun meinen, dass ein ausgebildeter Schauspieler und jahrelanger Tatort-Drehbuchautor sicherlich einen großartigen dramaturgischen Aufbau, einen spannenden Fall und tolle Szenenwechsel, sowie eine Reihe geheimnisvoller Tatverdächtige parat hat, aber irgendwie war "Trauma - kein Entkommen", so der Titel des ersten Teils, dann mehr eine Art Traumatherapie der Ermittlerin, statt ein wirklich hochbrisanter, spannender Thriller.

"Das Kind starrte auf den Gürtel in der Hand des Vaters. Der Gürtel sagte: Was machst du hier, du kleines Stück Scheiße? Warum bist du nicht im Bett? Und was soll dieser verdammte Fleck zwischen deinen Beinen? Kannst du deine Pisse nicht zurückhalten, du verdammte Missgeburt?"

Alles beginnt zunächst mit einem, wie ich finde, sehr starken Prolog. Das Leiden eines kleinen Jungen wird in den Fokus gerückt. Sein gewalttätiger Vater, der nicht nur gegenüber seiner Frau handgreiflich wird, geht mit dem Gürtel auf seinen dreijährigen Sohn los, als dieser stumm, an der Treppe stehend, das Treiben zwischen beiden beobachtet. Der Junge flüchtet vor Angst, in der Hand sein geliebtes Stofftier, in den Schuppen und verkriecht sich unter dem Tisch. Natürlich viel zu offensichtlich, sodass der Vater sich an ihm vergehen kann. Allerdings nicht handgreiflich, wie man nun vermuten würde, sondern psychisch einschüchternd. Er zündet den Stoffhasen an und zwingt seinen Sohn zuzuschauen. Cut. Wir lernen nun die Ermittlerin Katja Sand kennen, die sich gerade in das Liebesleben ihrer Tochter einmischt und ihre Tochter vor dem neuen Freund, wenn nicht sogar vor der ganzen Welt schützen will. Kurze Zeit später wird sie mit ihrem Assistenten Rudi Dorfmüller an einen Baggersee gerufen. Ein Mann wurde tot aufgefunden, alles sieht nach Selbstmord aus, aber irgendwas lässt Katja Sand daran zweifeln. Und ihre Theorie scheint richtig zu sein, ihre Ermittlungen steuern sie in einen von der Bundesmarine vertuschten Skandal. Und als dann einige Tage später noch ein weiterer, ehemaliger Marineanwärter tot in einem Kühlschrank aufgefunden wird, scheint alles klar zu sein, doch eindeutige Hinweise fehlen... so lange, bis ihr eigenes Trauma ihre Beziehung zu ihrer Tochter gefährdet und sie selbst in das Visier des Täters gerät.

"Er lässt ein Feuerzeug aufflammen, hält es an die Motorhaube. Das vergossene Benzin fängt sofort Feuer. Die Hitze der Flammen schlägt Katja voller Wucht ins Gesicht. Ich werde verbrennen, denkt sie, ich werde mein Kind nicht mehr sehen und meine Mutter auch nicht."


Ich weiß nicht, hoffentlich habe ich jetzt nicht schon zu viel verraten, denn so wirklich viel passiert in diesem, ersten Band ja nicht gerade. Der Fokus liegt hier eindeutig mehr auf der Charakterentwicklung und das Leben der Ermittlerin Katja Sand. Und auch wenn ich diesen behind-the-scenes-Blick sehr mochte, er diesen Thriller sehr menschlich macht, war es mir insgesamt einfach zu viel. Der Plot bewegt sich recht weit entfernt von den eigentlichen Tatorten und irgendwie konnte bis auf den kurzen Rest, dieses Buch kaum mit Spannung punkten. Die stärkeren, bedrückenden Einschübe und die traumatischen Erlebnisse des Kindes waren die eigentlichen Höhepunkte dieses Thrillers, aber die Auflösung und ihren Bezug zu den Fällen dann doch recht lange vorhersehbar. Ich hätte mir auch mehr Abwechslung, wie weitere Einschübe aus den Leben der einzelnen Betroffenen gewünscht. Vielleicht hätte gerade das, diesen Fall deutlich spannender und nicht so durchschaubar gemacht. Auch das letzte Kapitel, das bereits auf den nächsten Teil anspielen soll, fand ich beinahe schon lieblos ran gesetzt und die eigentliche Auflösung ging kaum in die Tiefe, sondern wurde binnen einzelner Seiten abgearbeitet und fertig. Es ist ein interessantes Buch über die Auswirkungen von Traumata bzw. Erlebnissen in den verschiedenen Stadien des Lebens, aber es ist eben mehr eine persönliche Entwicklungsstudie mit zwei Mordfällen und kein Thriller bzw. das was man vom Titel "Trauma - kein Entkommen" und der Positionierung erwarten würde. So schwanke ich dann auch zwischen einer enttäuschten zwei-Sterne-Bewertung für den Plot und einer doch recht faszinierenden Sicht auf Mutter-Tochter-Konstellation. Und ob ich den bereits im August erscheinenden zweiten Teil lesen mag... ach, ich weiß nicht.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 21.03.2021

Und täglich grüßt das Patriarchat - Cho Nam-Joo über das frustrierende Leben einer Frau (in Korea)

Kim Jiyoung, geboren 1982
0

Ein Buch, das seit seinem Erscheinen für sehr viel Aufmerksamkeit gesorgt hat, zahlreich gelobt und als brisanter "Glücksfall", "feministisches Meisterwerk" und wichtiges "Buch über Frauenbilder" gefeiert ...

Ein Buch, das seit seinem Erscheinen für sehr viel Aufmerksamkeit gesorgt hat, zahlreich gelobt und als brisanter "Glücksfall", "feministisches Meisterwerk" und wichtiges "Buch über Frauenbilder" gefeiert wird, ist der koreanische Roman "Kim Jiyoung, geboren 1982" von Cho Nam-Joo. Und gerade aufgrund des gewaltigen Echos hat dieses Buch dann auch mein Interesse geweckt.

Cho Nam-Joo schildert in ihrem Roman exemplarisch das alltägliche Leben einer Frau in Korea bzw. berichtet eigentlich von den vorherrschenden Problemen zwischen den Geschlechtern auf der ganzen Welt. Ihre Protagonistin Kim Jiyoung ist 33 Jahre alt. Sie leidet an einer psychischen Störung, deren Ursache tief in ihrem Leben und der vorherrschenden Gesellschaftsstruktur verankert ist. Nüchtern und distanziert berichtet nun Jiyoungs Psychiater vom Leben seiner Patientin. Kim Jiyoung wurde am 1.April 1982 in einer Klinik in Soul geboren. Als Mädchen, in einem Land, in dem man sich lieber männliche Nachkommen wünscht und nur diesen eine Sonderbehandlung zukommen lässt, musste sie stets ihren Weg finden. Sie musste sich beugen, sich gerade von den männlichen Figuren in ihrem Leben vorschreiben lassen, wie man sich zu verhalten hat. Und so erzählt er dann auch von ihrem Leben, ihren Erinnerungen an die Schulzeit, von Grundschullehrern und den strengen Uniformen für Mädchen, von ihrem tagtäglichen Kampf um Anerkennung und Gleichbehandlung auf der Arbeit und der versteckten Kamera auf der Damentoilette, den Bildern im Internet, dem Unverständnis, ihrem Familienleben und den Auseinandersetzungen vor der Geburt ihres eigenen Kindes. Er berichtet von den allgemeinen Erwartungen, von dem Leben einer Frau voller Frustration, Wut und Ungerechtigkeit und das dann so real, dass jede Leser*in sehr schnell und schmerzhaft bewusst wird, dass er beinahe von jeder Frau auf der Welt sprechen könnte.

"Ich habe doch dein Geld nicht geklaut. Ich habe ein Kind geboren, unter Schmerzen, und wäre beinahe daran gestorben. Ich habe auf mein Leben, meine Träume, meine Zukunft, ja mein ganzes Selbst verzichtet, um das Kind zu erziehen. Und dann bin ich plötzlich Ungeziefer. Was soll ich denn jetzt machen?"

Auch wenn diese Geschichte sehr eindrücklich zeigt, unter welchen schwierigen Voraussetzungen Frauen in den östlichen Ländern, aber auch weltweit, aufwachsen, leben und mit welchen Problemen sie alltäglich zu kämpfen haben, hat dieser Roman nur sehr wenig in mir ausgelöst. Gerade die ersten Abschnitte über die Kindheit der Mädchen in Korea, die Bevorzugung der Brüder und dieser Druck, der auf den Frauen lastet, einen Sohn zur Welt zu bringen, fand ich noch sehr erstaunlich und bedrückend. Auch wenn es, sofern man sich schon Mal mit dem östlichen Raum und den ärmeren Großfamilien dort beschäftigt hat, nichts Neues ist, so haben die Bilder in dieser komprimierten Form eine gewisse Wucht. Im weiteren Verlauf werden die Geschehnisse und Ansichten weltlicher. Die Benachteiligung im Job, die Gedanken, die die Geburt eines Kindes mit sich bringen oder die herablassenden Bemerkungen und Absichten des männlichen Geschlechts, Sexismus sind auch hierzulande keine Seltenheit. Leider habe ich gerade in diesen Abschnitten das Interesse an der Geschichte etwas verloren - Vielleicht weil der Roman nicht mitreißend genug ist, die berichtende Erzählweise generell recht unemotional, kühl und distanziert daherkommt, sodass ich überhaupt keine Nähe zur Protagonistin aufbauen konnte, oder weil es dann eben doch 'nur diese Standardprobleme' sind. Und eigentlich ist es dann schon wieder erschreckend, dass man selbst durch die andauernden Berichterstattungen und Diskussionen, ohne dass endlich mal eine Verbesserung der Situation und eine Gleichstellung erreicht wird, die geschilderten Ereignisse schon mehr als alltäglich wahrnimmt und irgendwie, da man selbst davon weniger betroffen ist, teils auch ermüdet. Aber es fehlt mir in diesem Roman auch einfach die Perspektive, eine starke Frauenfigur, die sich gegen das vorherrschende System stellt und die Erwartungshaltung der männlichen Figuren durchbricht. Kim Jiyoungs Mutter versucht zwar zaghaft ihren beiden Töchtern auch etwas Geld zur Seite zu legen und ihnen ihr Studium bzw. ein anständiges Leben zu ermöglichen und ihre Schwester bringt zumindest hier und da auch andere Vorstellungen mit ein, aber sonst? Kim Jiyoung beugt sich ständig, hält sich zurück, leidet und bleibt von Anfang bis zum Ende hin eine Betroffene.

"Hat ein Gesetz oder ein System Einfluss auf die Wertvorstellungen eines Menschen? Oder richten sich die Gesetze und Institutionen nach den Werten der Menschen?" sind zwei der wenigen Fragen, die ich für mich am Ende aus diesem Buch mitnehme. Irgendwie hätte ich mir mehr Lösungsansätze gewünscht. In meinen Augen sollten Romane per se viel mehr Vorbilder liefern, zeigen, dass es anders geht und die Frau eben nicht ständig zum Opfer degradieren. Und gerade mit dem letzten Absatz, in dem es dann auch nochmal heißt "Selbst die fähigste Mitarbeiterin kann der Praxis in vielerlei Hinsicht zur Last fallen, wenn sie das Problem der Kinderbetreuung nicht zufriedenstellend lösen kann. Ich werde also darauf achten müssen, eine unverheiratete Frau einzustellen." nimmt der Psychiater bzw. die Autorin noch einmal jegliche Perspektive und schubst ihre Protagonistin zurück in dieses elende Patriarchat. Und das soll es dann gewesen sein? Für Korea mag bereits das ein sehr krasses Buch sein und Cho Nam-Joo endlich mal eine Autorin, die die vorherrschenden Probleme und den Frust, die Wut, die Aufgabe und Unterordnung der Frau öffentlich anspricht, aber für unsere Breiten? Ich weiß nicht, aber unter einen "klugen und wichtigen" Weltbestseller hatte ich mir dann einfach viel mehr und vor allem wesentlich wegweisendere Bilder vorgestellt.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 29.04.2020

Bist du Opfer oder Beute? Die grausame Geschichte und "Das wirkliche Leben"

Das wirkliche Leben
0

Bist du Opfer oder Beute? Die grausame Geschichte und "Das wirkliche Leben"

Das wirkliche Leben von Adeline Dieudonné ist ein Buch, auf das ich mich schon lange gefreut habe. In Frankreich wurde dieser ...

Bist du Opfer oder Beute? Die grausame Geschichte und "Das wirkliche Leben"

Das wirkliche Leben von Adeline Dieudonné ist ein Buch, auf das ich mich schon lange gefreut habe. In Frankreich wurde dieser Roman zum Liebling der Buchhändler*innen und mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet. Nun erscheint diese bedrückende Coming-of-Age-Geschichte auch auf deutsch und was soll ich sagen? Ich habe das Buch eher mit gemischten Gefühlen beendet, aber eins nach dem anderen.

“Bei uns zu Hause gab es vier Schlafzimmer. Meines. Das meines Bruders Gilles. Das meiner Eltern. Und das der Kadaver.”

Doch das ist nicht alles, was dieses kleine Haus am Waldrand einer Reihenhaussiedlung so anders macht. Man erahnt vielleicht… der Vater hat eine blutrünstige Leidenschaft. Er ist begeisterter Jäger und so tummeln sich die kuriosesten Tierpräparate in seinem Sammlungszimmer. Eine ausgestopfte Hyäne, ein Stoßzahn eines Elefanten, zahlreiche ausgestopfte Köpfe und ein Bärenfell auf dem Sofa, auf dem er allabendlich die Nachrichten über sich ergehen lässt und zu seinem Whisky greift. Zum Leidwesen der bereits verängstigten Mutter und der beiden Kinder hat er zuhause das Sagen. Und als wäre das nicht schon schlimm genug, so passiert dann eines Tages vor dem Haus eine Tragödie. Eine Explosion, die das elf Jahre alte Mädchen und ihren kleineren Bruder traumatisieren und in verschiedene Richtungen treibt. Während Gille sich in sich zurückzieht und Gefallen am Leiden der Tiere findet, möchte seine Schwester einfach alles tun, um sein Lächeln zu bewahren. Sie will eine Zeitmaschine erfinden, das Geschehene ungeschehen machen und ihren Bruder wieder zu dem aufgeweckten, liebenswürdigen Jungen zu machen, der er einmal war. Aus ihrem utopischen Plan wird schnell ein grausiges Spiel. Sie muss sich nicht nur um ihren Bruder bemühen, sondern sich auch den grausamen Ideen des Vaters unterziehen. Sie muss kämpfen, für sich, für ihren Bruder, für ihre Familie… doch was wird sie am Ende sein? Welche Rolle wird sie am Ende einnehmen? Opfer, Beute oder doch die Heldin des Romans?

“Mein Vater schlug meine Mutter zusammen – und den Vögeln war das egal. Ich fand das tröstlich. Ich fand es tröstlich, dass sie einfach weiter zwitscherten, dass die Bäume knarrten und der Wind in den Blättern der Kastanie rauschte. Ich war nur eine unbedeutende Zuschauerin bei dem Stück, das ununterbrochen aufgeführt wurde.”

Dieses Buch hat in Hinblick auf die erhaltenen Auszeichnungen sicherlich seine Berechtigung. Dennoch ist es für mich etwas fraglich, zumal ich es häufig mit den Romanen “Harz” von Ane Riel und “Was man sät” von Marieke Lucas Rijneveld verglichen habe und dieses Buch konnte den Vergleichen einfach nicht Stand halten. Die Geschichte zieht sich zu Anfang sehr in die Länge. Und ich habe mich so ein bisschen gelangweilt bzw. mir kam sehr vieles bekannt vor. Es passieren dann zwar hier und da etwas gewalttätige Schnitzer, aber so wirklich fordernd und überrumpelnd wird dieser Roman erst im letzten Viertel. Und das fand ich dann irgendwie schade. Ich hätte mir auch gewünscht, dass Dieudonné sich mehr auf diese angekündigte Tragödie fokussiert bzw. diese ausarbeitet und diese Hatz- und Waldszene und alles was in der Familie passiert und zu Grunde geht viel, viel umfassender darstellt. Diese Ausflüge in Richtung sexuelle Anziehungskraft oder Drang des Mädchens eine Zeitmaschine zu bauen, Physikstunden zu nehmen und und und waren für mich dann eher so Randgeschichten, die zum Ende hin irgendwie ihre Bedeutung verloren. Es ist eine faszinierende Geschichte, keine Frage, und für viele ist es bestimmt auch genau das richtige Maß an aufwühlenden Erlebnissen, Einblicken in das Gedankenleben der Protagonistin und Spannung, aber für mich war es insgesamt nicht ganz rund und ich fürchte dieser Roman hat durch die Übersetzung auch so einiges an der “funkelnden Sprache” eingebüßt. Die Geschichte ist gut, liest sich sehr schnell und man kann sicherlich tolle Szenen und Elemente finden, aber für große Begeisterungsstürme reicht es bei mir dann leider nicht.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 13.10.2019

Erkundungen zwischen Wahn und Wirklichkeit

Die Einsamkeit der Seevögel
0

In "Die Einsamkeit der Seevögel" von Gøhril Gabrielsen geht es um die Geschichte einer jungen Wissenschaftlerin, die sich für ein Forschungsprojekt in die nördlichste Region Norwegens begibt. Hier quartiert ...

In "Die Einsamkeit der Seevögel" von Gøhril Gabrielsen geht es um die Geschichte einer jungen Wissenschaftlerin, die sich für ein Forschungsprojekt in die nördlichste Region Norwegens begibt. Hier quartiert sie sich in einer abgelegenen Fischerhütte ein, um die Veränderungen einer nahegelegenen Seevögelpopulation bzgl. des klimatischen Wandels zu analysieren.



"Ich will untersuchen, zeigen und enthüllen, und ich wünsche mir, dass das, was ich herausfinde, von so großer Bedeutung ist, dass ich selbst dadurch sichtbarer werde; dass meine Arbeit nicht nur als Wendepunkt dafür betrachtet werden kann, was man über die physische Welt vorhersagen kann, sondern dass sie auch meinem Leben eine neue [...] unerwartete Richtung gibt"



Und gerade dafür lässt sie ihr altes Leben zurück und mit ihm ihre 3-jährige Tochter Lina und ihre neue Liebe Jo. Dieser sollte eigentlich binnen kürzester Zeit zu ihr stoßen, sie unterstützen, doch seine Ankunft scheint sich immer mehr zu verzögern. Und so verliert sie sich immer weiter in der Einsamkeit und die einstige Zuflucht wird immer mehr zur Bedrohung. Realität und Wahn verschwimmen und das einzige Ziel wird die Suche nach sich selbst...



"Ich mag nicht daran denken, mag nicht darüber reden, will es nicht wahrhaben. Eine Halluzination ist schließlich nicht besser als irgendein vages Gefühl, und ich will auf keinen Fall in die Statistik einsamer Forscher eingehen, die sich in ihrer eigenen Psyche verirrt haben."



"Die Einsamkeit der Seevögel" war für mich dann tatsächlich etwas vereinsamend. Gabrielsen hat einen eher ruhigen, leicht poetischen dafür aber oftmals sehr fraglichen Roman geschrieben. Eine Frau, die aufgrund der Wissenschaft alles hinter sich lässt, ihr Kind, ihr Leben, ihren gesellschaftlichen Bezug. Sie zieht sich zurück, scheint vor etwas zu fliehen. Die Hoffnung einer neuen Liebe und der Wunsch eines neuen, von ihrem Ex-Mann abgeschirmten Schutzraums treibt sie an. Doch die Frage bleibt, ob sie dies jemals schaffen wird. Die Wissenschaftlerin verstrickt sich immer mehr und man fragt sich: Ist es noch Wirklichkeit? Oder schon Wahn? Macht ihr die Einsamkeit zu schaffen? Braucht sie Hilfe? Was will sie eigentlich wirklich? Und das sind gerade jene Fragen, die mich dann beim Lesen sehr eingenommen haben. ich wollte unbedingt wissen was hinter dieser eher emotionslosen Frau steckt und bin eigentlich nur minimal fündig geworden. Sie blieb mir bis zum Ende hin sehr fern, sehr distanziert und so bin ich dann mit diesem Roman leider auch nicht warm geworden. Es ist und bleibt eine eher ruhigere Geschichte mit einigen kurzen Spannungsmomenten und selbst diese bleiben dann irgendwie unbeantwortet. Die Geschichte bietet sehr viel Potenzial, emotionale Ansätze, naturkundliche Beobachtungen, aber sie ist nicht 100 %ig ausgereift, zumindest hat mir dieser gewisse Aha-Moment und ein prägnantes, aussagekräftiges Ende gefehlt. Bereits nach einigen Tagen verblasst das Gelesene und lässt dadurch nur sehr, sehr wenig zurück.