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Veröffentlicht am 27.08.2021

Spannend, aber zu viele Themen

Ein erhabenes Königreich
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Yaa Gyasi „Ein erhabenes Königreich“, übersetzt von Anette Grube
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Dieser Roman erscheint mir wie ein unvollendeter Wandteppich, auf dessen Stramin ...

Yaa Gyasi „Ein erhabenes Königreich“, übersetzt von Anette Grube
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Dieser Roman erscheint mir wie ein unvollendeter Wandteppich, auf dessen Stramin eine erkennbar komplexe Mustervorlage gedruckt ist, aus dem aber viele lose Fäden hängen.
Besonders das doch recht abrupte, unverbundene Ende ließ mich etwas enttäuscht zurück...

Gifty wächst als Kind einer aus Ghana eingewanderten Familie im weißen Alabama auf. Zu ihrem früh abwesenden Vater, den sie nur den Chin-Chin-Mann nennt, hat sie eine sporadische Telefonbeziehung. Die Mutter schuftet sich im Haushalt anderer krumm und hat wenig Zeit für ihre Kinder. Als Giftys Bruder Nana mit 16 nach einer Sportverletzung medikamenten- und später heroinabhängig wird und an einer Überdosis stirbt, wird zwischen der Zwölfjährigen und ihrer tief religiösen Mutter "aus Sachlichkeit (...) Grausamkeit". Die Depressionen der Mutter lassen das Mädchen allzu schnell erwachsen werden.
Als die Romanhandlung einsetzt, erforscht die Ich-Erzählerin Gifty als Wissenschaftlerin in New York neuronale Prozesse, die im Zusammenhang mit Belohnungsstreben bei Depression und Suchtverhalten stehen. Sie ist auf der Suche nach Heilung, als ein Anruf des Pfarrers ihrer Heimatstadt sie dazu bringt, die erneut in schwere Depression versunkene Mutter zu sich zu holen. Die Arbeit im Labor, eine sich anbahnende Beziehung zu ihrem Kollegen und die Sorge um die schweigende Mutter bilden den Haupterzählstrang. Rückblenden bringen Stück für Stück die ganze tragische Familiengeschichte und mit ihr viele Themen aufs Tapet, aber leider die Handlung nicht voran.
Alles liest sich wunderbar interessant, spannend und leicht, was sicher auch an der geschmeidigen Übersetzung liegt, aber eben wie gut geschriebene Erinnerungen, die lediglich erklären, was Gifty längst für sich entschieden hat: Religion ist keine Lösung.
„Früher sah ich die Welt durch eine christliche Linse, und als diese Linse beschlug, wandte ich mich der Wissenschaft zu. Beide wurden für mich zu wertvollen Sichtweisen, aber letztlich versagten beide dabei, das gesetzte Ziel voll zu erreichen: deutlich zu machen, Sinn zu stiften.“

Wir folgen ihr durch die evangelikale Erziehung zur Angst vor der eigenen Weiblichkeit, Religion als Drohung, Strafe und Begrenzung auch des eigenen Verstandes. Dann die Phase der "Errettung" und des herablassenden Mitleids gegenüber all den nicht geretteten Seelen bis hin zur Enttarnung der Scheinheiligkeit der Kirchgemeinde, die Nana liebt, solange er Basketballsiege einspielt, aber angesichts seiner Drogenprobleme ihr wahres, rassistisches Gesicht zeigt.
"Sie sahen uns nur neugierig zu. Wir waren drei Schwarze in Not. Nichts zu sehen."

Um einen Konflikt zwischen Glaube und Wissenschaft geht es hier also meines Erachtens nicht. Um ethische Bedenken bei Tierversuchen? Um die Verantwortung von Ärzten und Pharmaindustrie, was die leichtfertige Verschreibung von Oxycodon angeht? Ankommen im Exil? Identität? Alltäglicher und institutionalisierter Rassismus? Um einen Mutter-Tochter-Konflikt, um die Fähigkeit zu lieben und die Suche nach Heilung? Von allem etwas und von letzterem am meisten. Gifty ringt trotz aller Abweisung bewunderswert um ihre Mutter, deren Perspektive leider völlig fehlt, was ich als großes Manko des Romans empfinde. Und dann kommt ein plötzliches Ende, auf das lange hinerzählt wurde, aber letztlich von uns nur Akzeptanz verlangt, ohne Erklärung, wie es zustande kam.

Dennoch besteht kein Zweifel daran, dass die Autorin wunderbar schreiben kann und viel zu sagen hat. Da die Kritik Yaa Gyasis Erstlingsroman hochgelobt hat, freue ich mich auf die Lektüre.




















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Veröffentlicht am 05.11.2022

Gemütlicher Krimi der alten Schule

Das Geheimnis von Greenshore Garden
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Zur Auswahl bei der #readchristie2021 challenge steht in diesem Monat ein Titel, in dem ein Garten eine Rolle spielt.
Was lag da näher als jene Novelle, die durch Agatha Christies Landsitz Greenway inspiriert ...

Zur Auswahl bei der #readchristie2021 challenge steht in diesem Monat ein Titel, in dem ein Garten eine Rolle spielt.
Was lag da näher als jene Novelle, die durch Agatha Christies Landsitz Greenway inspiriert und schließlich auch dort verfilmt wurde : Das Geheimnis von Greenshore Garden. Erst 2013 in Großbritannien wiederentdeckt und neu aufgelegt, ist diese Geschichte zwar eine der kürzesten Romanveröffentlichungen Christies, doch dafür umso dichter und in der Auflösung überraschender.
🕵🏻‍♂️🌳🌹
Die Kriminalschriftstellerin Ariadne Oliver soll anlässlich des Sommerfestes auf Greenshore eine Mörderjagd inszenieren. Bei den Vorbereitungen beschleicht sie das ungute Gefühl, manipuliert zu werden und wendet sich hilfesuchend an ihren alten Freund Hercule Poirot, der sofort an den Ort des Geschehens reist. Obwohl er weises Verständnis für die nervösen Ahnungen seiner Bekannten an den Tag legt, befürchtet er zunächst, den Weg umsonst gemacht zu haben. Doch dann liegt im Bootshaus des Anwesens tatsächlich eine Leiche, und die Dame des Hauses ist spurlos verschwunden…
🕵🏻‍♂️🌳🌼
Wie so oft glaubt der Lesende recht schnell zu wissen, wo es langgeht. Denn dass mit diesem merkwürdigen Tempelbau im Wald etwas nicht stimmt, ist allzu offensichtlich. Doch dann tappt man wie immer in die Falle der Queen of Crime, verirrt sich auf den geschickt verschlungenen Pfaden. Die Novelle besticht durch einen äußerst raffinierten Plot, ein wie üblich illustres Figurenensemble, sorgsam gestreute Hinweise, die sich erst im Nachhinein erschließen, aber wie bei ihrer Heldin ein unterbewusstes Ahnen erzeugen, und natürlich durch den sympathischen Herrn und Meister der grauen Zellen.
🕵🏻‍♂️🌳🌸
Als „einladend“ bezeichnet Agatha Christies Enkel Matthew Pritchard in seinem berührenden Vorwort die Erzählungen seiner Großmutter, und genauso empfinde ich sie auch. Von der ersten Zeile kann man sich dem wohligen Schauder einer nicht allzu gruseligen Handlung hingeben und nebenbei auch die eigene Kombinationsgabe trainieren.
Das Bändchen ist eine besondere Cosy Crime Praline und schnell vernascht. Als Zugabe haben wir uns deshalb die Verfilmung „Wiedersehen mit Mrs. Oliver“ mit dem unnachahmlichen David Suchet angesehen. Symbolischerweise auf Christies Landsitz gedreht, wo auch die allerletzte Klappe für die Serie überhaupt fiel. Die dafür ausgewählte Szene trieb allen die Tränen in die Augen, wie Matthew Pritchard schreibt - Poirot, in seinem typischen Ornat, klopft an die Tür von Greenway - als käme er nach Hause.





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Veröffentlicht am 04.09.2022

Unerwartet gut

Die versteckte Apotheke
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London 1791 - In der Back Alley Nummer 3 gibt es eine Apotheke, die sich ausschließlich auf Frauenleiden spezialisiert hat. Dort, so raunt man, könne frau neben Tinkturen und Salben gegen Menstruationsbeschwerden ...

London 1791 - In der Back Alley Nummer 3 gibt es eine Apotheke, die sich ausschließlich auf Frauenleiden spezialisiert hat. Dort, so raunt man, könne frau neben Tinkturen und Salben gegen Menstruationsbeschwerden oder Kindbettfieber auch äußerst wirksame Mittel gegen ein anderes Leiden bekommen: besonders gewalttätige (Ehe)-Männer.
Nella hatte die Apotheke einst von ihrer Mutter übernommen. Doch statt Schafgarbe, Frauenmantel und andere Heilkräuter mischt sie Eisenhut, Spanische Fliege, Stechapfelsaft oder Schierlingssirup in die hellblauen Glasphiolen mit dem eingravierten Bären. Sorgfältig führt sie Buch über ihre heimlichen Auftraggeberinnen und deren Opfer. Dann tritt eines Tages die 12jährige Eliza zwischen die Tiegel und Töpfe, die Ereignisse überschlagen sich, und die Tage der Gift-Apotheke scheinen gezählt...
200 Jahre später stößt die amerikanische Historikerin Caroline Parcewell beim Mudlarking, dem Schätzesuchen im Uferschlamm der Themse, auf eine der hellblauen Phiolen. Nach einer privaten Enttäuschung für jede Ablenkung dankbar, folgt sie den Spuren des eingeritzten Bären, der auch ihr Leben unvorhersehbar wenden wird...
Normalerweise stehe ich Titeln und Covern wie diesen skeptisch gegenüber. Zumal auch dieser Roman dem gegenwärtigen Trend folgt, starke Frauen um jeden Preis aufs Tapet zu heben. Doch Sarah Penner tut dies auf äußerst unterhaltsame, spannende und gehobenere Weise. Der Plot ihres Romandebuts ist originell und schlüssig, die Charaktere sind gut gezeichnet, deren Gedankengänge und Dialoge überlegt und prägnant formuliert, ihre Handlungen und Entwicklungen folgerichtig. Besonders gelungen fand ich die Selbstwahrnehmung der drei Protagonistinnen Nella, Eliza und Caroline, die im Wechsel (der Zeiten) als Ich-Erzählerinnen auftreten und ihr eigenes Handeln ausgesprochen kritisch reflektieren. Nella mag sich als Rächerin fühlen, als positive Heldin betrachtet sie sich keineswegs. Sie ist eine Mörderin, das gesteht sie gleich in den ersten Zeilen ein. Und daran ist nichts Gutes, trotz aller Gründe, die nach und nach enthüllt werden und nicht nur im Privaten liegen. Das Frauennetzwerk, das der Roman auf den geschickt verflochtenen Zeitebenen beschwört, steht für die Solidarität und Kraft echter Schwesternschaft als Gegenpart zum allgewaltigen Patriarchat. Sarah Penner hat dies nicht unbedingt literarisch tiefgründig, aber unterhaltsam und emotional nahbar verpackt. Man fiebert mit allen drei Heldinnen dem jeweiligen Ende ihrer Geschichte entgegen und bleibt lächelnd zurück.

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Veröffentlicht am 21.08.2022

Schauderhaft schön

Als das Böse kam
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Die 16jährige Ich-Erzählerin Juno lebt mit ihrem 12jährigen Bruder Boy und ihren Eltern auf einer Insel irgendwo im Norden. Sonntags weht der Duft von Blaubeerkuchen durch das gemütliche Blockhaus, ...

Die 16jährige Ich-Erzählerin Juno lebt mit ihrem 12jährigen Bruder Boy und ihren Eltern auf einer Insel irgendwo im Norden. Sonntags weht der Duft von Blaubeerkuchen durch das gemütliche Blockhaus, es ist der familiäre Spieletag. Eine perfekte Idylle, wären da nicht die sieben Gebote, deren Nichtbeachtung streng bestraft wird, und die Sirene, die die Familie regelmäßig zu Probealarmen in den unterirdischen Schutzraum ruft. Denn nur dort sind Juno und die Ihren sicher vor den Fremden aus dem Südland, die sie töten wollen.
Doch in jedem noch so weltabgewandten Teenager regen sich irgendwann die Hormone und die Rebellion. Als Juno aus Leichtsinn das erste Gebot bricht, zeigt sich, dass das Böse viel näher ist, als sie je hätte ahnen können...
Wie auch in seinen Hörspielen versteht es Ivar Leon Menger, einen Schauder zu erzeugen, dem man sich nicht mehr entziehen kann. Einmal in die Geschichte hineingezogen, nimmt diese die Lesenden schlichtweg als Geisel. Man muss immer weiterlesen oder hören, da die Spannung sonst unerträglich wird. Auch ich habe das Buch in einem Zug gelesen, denn der Plot ist wirklich meisterhaft gefügt. Sorgsam gestreute Hinweise verdichten die Handlung und lassen auch den Druck im Gruselbarometer stetig steigen.
Ein ziemliches Kunststück, denn die Geschichte ist ausschließlich aus der Perspektive der aufgrund der Isolation sehr naiven 16-Jährigen erzählt. Doch gerade diese Gutgläubigkeit ist es, die den weltgewandten Lesenden die Dinge anders interpretieren lässt und zugleich Gänsehaut erzeugt.
Dennoch klingt der Roman mitunter wie ein Jugendbuch, sowohl die Sprache - vor allem die Dialoge - als auch die Figurenzeichnung betreffend. Denn ab einem bestimmten Punkt erweist sich Juno plötzlich als ungeheuer clever, wissend und selbstbestimmt. Und dann ist da noch eine weitere Figur, über die man nicht sprechen kann ohne zu spoilern, aber deren Auftreten recht unplausibel auf mich wirkte.
Das alles tut dem Lesevergnügen aber keinerlei Abbruch, der Unterhaltungswert ist so grandios wie immer, wenn Ivar Leon Menger draufsteht

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Veröffentlicht am 18.09.2021

Fesselnd und hochaktuell

Russische Botschaften
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Gerade als die junge Journalistin Merle Schwalb ins Investigativressort des „Globus“ wechselt, schlägt neben ihr ein junger Mann aufs Neuköllner Straßenpflaster. Balkonsturz, sofort tot. Laut Polizeibericht ...

Gerade als die junge Journalistin Merle Schwalb ins Investigativressort des „Globus“ wechselt, schlägt neben ihr ein junger Mann aufs Neuköllner Straßenpflaster. Balkonsturz, sofort tot. Laut Polizeibericht jedoch liegt er schwerverletzt im Krankenhaus, Merles Instinkte sind geweckt. Schnell findet sie heraus, dass es sich um den (sehr wohl toten) Russen Anatoli Nowikow handelt. Und ebenso schnell taucht in den Händen eines befreundeten Reporters der „Norddeutschen Zeitung“ eine dubiose Gehaltsliste des russischen Geheimdienstes (?) mit deutschen Zuträgern auf, darunter die Namen der beiden Chefredakteure. Journalisten beider Zeitungen bilden ein geheimes Rechercheteam und folgen den Spuren.
Yassin Musharbashs Hauptstadtthriller „Russische Botschaften“ @kiwi_verlag, mit dem er uns als Insider ins Milieu des Investigativjournalismus führt, lässt einem nicht unbedingt den Atem stocken. Doch er ist durchweg straff, spannend und kenntnisreich erzählt, hat einige überraschende Wendungen parat und besticht vor allem durch seine Authentizität. Dafür sorgen nicht nur die atmosphärischen Beschreibungen von Redaktionskonferenzen und kleinteiliger Recherchearbeit, sondern auch realistische und leicht nachzulesende Beispiele für das Romanthema:
Es geht um die vom russischen Präsidenten mehr oder weniger offen ausgeschriebene Zersetzung der westlichen Demokratien durch Geheimdienste wie auch (einfluss)reiche Privatpersonen und deren Seilschaften, die sich dadurch Ansehen im Kreml erhoffen. Die Methoden dieser Player sind mittlerweile kein Geheimnis mehr. Mit gezielter Desinformation und Propaganda durch gekaufte Journalisten, Blogger, Influencer, Politiker wie auch cyberkriminelle Machenschaften wie Trollfabriken, Kreml-Bots oder Fake-Accounts in den sozialen Medien werden Wahlen beeinflusst, Existenzen zerstört, Verbrechen vertuscht oder erfunden.
Das bekommt auch unser Journalistenteam zu spüren, das den Angriffen der Gegenseite bald schutzlos ausgeliefert ist, was sie selbst und ihr Ringen um ehrliche, belastbare Informationen in ernste Gefahr und vor allem in Zeitnot bringt…Apropos Figurenensemble - dieses ist recht groß geraten, so dass ihm die Feinzeichnung der Charaktere, zu denen man durchweg auf Distanz bleibt, letztlich zum Opfer fällt. Selbst die toughe Merle, die sich in der Männerdomäne Redaktion immer stärker durchzusetzen weiß, wirkt am Anfang genauso kühl wie am Ende. Dieses ist übrigens offen. Damit muss man leben oder auf eine Fortsetzung hoffen. Leseempfehlung!
(Unbezahlte Werbung - Rezensionsexemplar)

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