Ein absolut lesenwertes, starkes Buch!
"Das faszinierende Doppelporträt zweier höchst unterschiedlicher Frauen", schreibt die Schriftstellerin Julia Franck über den Roman "Wellenflug" von Constanze Neumann, einen Roman, der auf historischen ...
"Das faszinierende Doppelporträt zweier höchst unterschiedlicher Frauen", schreibt die Schriftstellerin Julia Franck über den Roman "Wellenflug" von Constanze Neumann, einen Roman, der auf historischen Begebenheiten beruht.
Treffender könnte man es nicht auf den Punkt bringen, dabei haben die beiden Frauen aber doch mehr gemein, als ihnen beiden bewusst und der einen lieb ist. Beide, Anna und Marie, kommen aus einfacheren Verhältnissen, beide erleben den Aufstieg in die Welt der gehobenen Gesellschaft, die eine fühlt sich dazu eher berechtigt, der anderen will Anna dies nicht vergönnen. Beide erleben das Auf und Ab des Lebens: von den äußeren Umständen her könnten beide ein glückliches Leben führen, aber beide haben mit den Widrigkeiten des Schicksals zu kämpfen. Anna, die Tochter eines aufsteigenden jüdischen Stoffhändlers, der seinen Weg über Leipzig nach Berlin macht und seine Töchter dort als gute Partien verheiratet, heiratet in die Familie Reichenheim ein, ebenfalls Juden und Tuchhändler, die das Leben der Berliner Oberschicht bestimmen. Anna lebt in einem prachtvollen Haus, besucht Bälle und Theater, lernt reiten und muss doch immer wieder herbe Schicksalsschläge hinnehmen. Auch ihr Sohn macht ihr das Leben nicht leicht, ist er doch der einzige ihrer zahlreichen Kinder, der sich nicht ihrem Willen fügt, sondern seinen Neigungen folgt, die ihn in das Berliner Nacht- und Lotterleben führen und für die Arbeitswelt eher untauglich erscheinen lassen. Er verprasst ein Vermögen bei Glücksspielen und bringt den Ruf der Familie in Gefahr.
Die andere, Marie, lernt eben diesen Heinrich kennen als Gardobrière in einem Varieté. Das kleine Mädchen vom Lande, aus Burg bei Magdeburg, das mehr vom Leben wollte und sich auf in die Großstadt Berlin machte, um dort ihr Glück zu suchen, wird zu Heinrichs rettendem Anker. Ihm, dem von der Familie wegen seiner Spielsucht und Betrügereien, aber vor allem wegen seiner Liebe zu einer unstandesgemäßen Frau nach Amerika Verbanntem, folgt sie, lebt mit ihm dort sein unstetes Leben, duldet seine Affären, seine Sprunghaftigkeit, wenn er von Job zu Job und Stadt zu Stadt zieht, reist im wieder nach Berlin hinterher, als die Pflicht, für das Vaterland im Ersten Weltkrieg zu dienen, ihn ruft. Immer in der Hoffnung, Gnade vor den Augen der Familienmatriachin Anna, Heinrichs Mutter, zu finden, aufgenommen zu werden in den Familienkreis.
Im zweiten Teil des Romans rückt die Figur der Marie immer stärker in den Mittelpunkt, Anna wird zu einem Schatten, der allerdings Maries Leben stets dunkel überzieht und auch Heinrichs Leben bestimmt. Diese Marie, die die Missachtung der Familie ihres Mannes ertragen muss, meistert ihr Leben an der Seite ihres sprunghaften Ehemannes mit Bravour. Immer wieder in völlig neue Lebensumstände geworfen, immer wieder vor neue Herausforderungen gestellt, richtet sie sich in diesem Leben immer wieder und immer wieder ein, macht das Beste daraus, findet ihre Inseln des Glücks. Marie benötigt keine aufgetürmten Frisuren und überbordenden Hüte, die für sie die Machtstellung Annas in der Familie demonstrieren, als Ausruck von Größe. Sie ist eine stille, aber starke Helden und, wenn sie auch schon nicht die Anerkennung ihrer Schwiegermutter erlangen kann, so doch die des Lesers für ihren Lebenswillen, ihren Pragmatismus, ihren Einsatz für ihre kleine Familie, ihre kleine Welt, die zunehmend mit der größeren Welt um sie herum auf Kollisionskurs gerät, als der Nationalsozialismus ihre jüdische Familie bedroht.
Die verschiedenen Schauplätze des Geschehens - die jüdischen Viertel der Tuchhändler in Schlesien, das jüdische Leben im aufsteigenden Berlin um die Jahrhundertwende, die Ozeanüberquerung auf einem Schiffsdampfer 1. Klasse, die mondäne Großstadt New York und das beschauliche Erie in Pennsylvania, die Sommerreise Heinrichs und Maries ins Mittelmeer und nach Italien sowie die Rückkehr in ein von Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit bedrohtes Deutschland sowie das Aufkommen der "braunen Rotte" und deren Untergang in Dresden - schildert die Autorin so atmosphärisch dicht und greifbar, dass der Leser mit auf die Reise geht und die unterschiedlichen Stimmungen der unterschiedlichen Stationen auf der Lebensreise - insbesondere Maries - hautnah miterlebt und sich einfühlen kann in ihr Leben. Er spürt das brodelnde Berlin der Jahrhundertwende, die Größe und Lebendigkeit und Enge New Yorks, die kalten Winter und lauen Sommer in dem ruhigen, weiten Erie und den rauchigen, nebligen Herbst in Dresden.
Der Roman rührt an, nicht durch große Gefühle und Dramatik, nicht durch viele emotionale Worte, sondern gerade durch die ruhige, klare, kraftvolle Darstellung. Die Zeiten in Deutschland werden finster - wie sollten sie auch anders werden für einen Juden aus wohlhabender Familie, auch wenn er seine vaterländische Pflicht geleistet und diese mit dem Eisernen Kreuz vergolten bekommen hat. Aber gerade weil die Autorin darauf verzichtet, die Grausamkeiten und Greultaten zu beschreiben, die Parolen der Braunen herausschreien zu lassen und die zunehmende Zuspitzung der Lage für die Juden in Deutschland immer nur in Nebensätzen andeutet, wird diese Finsternis für den Leser um so bedrohlicher greifbar. Er muss die Schrecknisse nicht noch einmal in aller Deutlichkeit hören, er benötigt nur die Andeutung, den kurzen Verweis und die Bangigkeit und Schwere der Protagonisten legt sich auch auf sein Herz.
Genauso still und stark wie seine Heldin Marie klingt der Roman zum Ende aus - und hinterlässt doch großen Nachhall im Leser.
Ein absolut lesenwertes, starkes Buch!