Lex
Girl AFür ihr literarisches Debüt hat Abigail Dean kein einfaches Thema gewählt. Aus den Massenmedien kennen wir die verstörenden Berichte über nach außen intakt scheinende Familien, die für die betroffenen ...
Für ihr literarisches Debüt hat Abigail Dean kein einfaches Thema gewählt. Aus den Massenmedien kennen wir die verstörenden Berichte über nach außen intakt scheinende Familien, die für die betroffenen Kinder die Hölle auf Erden verkörpern. Roman "Girl A" ist die Geschichte einer Überlebenden:
»Mein Name ist Alexandra Gracie, ich bin 15 Jahre alt. Bitte rufen Sie die Polizei.« Unzählige Male hat sich Lex Gracie vor ihrer Flucht aus dem Elternhaus diesen Satz vorgesprochen, angekettet an ihr Bett, vor Dreck starrend, bis auf die Knochen abgemagert. Mit ihrer Kindheit im Horrorhaus, wie die Presse das Elternhaus der sieben Geschwister bald nach Lex‘ Flucht getauft hat, muss sich die mittlerweile erwachsene Anwältin konfrontieren, als ihre Mutter im Gefängnis stirbt und ihr das Elternhaus vermacht. Alles, was sie jahrelang verdrängt hat, bricht sich nun Bahn: der Hunger, die Angst – und ihre Identität als Girl A, das Mädchen, das entkam.
Das Cover ist auf das Wesentliche reduziert und in düsteren Farben gehalten. Im Fokus steht der Großbuchstabe A, in leuchtenden gelben Buchstaben gehalten. Im Hintergrund ist die Hälfte eines weiblichen Gesichts zu erkennen, das genauso bewusst anonym bleibt wie der Titel "Girl A".
Das Geschehen spielt in Großbritannien, an verschiedenen Orten, auf mehreren zeitlichen Ebenen. Vergangenheit und Gegenwart gehen nahtlos ineinander über, die ständigen Sprünge erfordern die volle Konzentration des Lesers. Im Mittelpunkt steht Alexandra Gracie, das "Girl A", dem nach einem langen Martyrium die Flucht aus dem Horrorhaus gelungen ist. Sie erzählt von einem familiären Drama, das sich lautlos hinter geschlossenen Türen in einem verfallenen Haus mitten in England abspielt. Dort sind Alexandra und ihre Geschwister der sich stetig steigernden Willkür ihres von religiösem Wahn getriebenen Vaters und ihrer passiven Mutter ausgesetzt, die alle Handlungen ihres Mannes billigt und ihm nichts entgegenzusetzen hat. Ihr Leben ist geprägt von wachsender Vernachlässigung, Verwahrlosung, Hunger, psychischen und physischen Misshandlungen; der Tod der Kinder wird billigend in Kauf genommen; ein Entkommen aus dieser Hölle scheint unmöglich.
Die nüchternen Schilderungen der Protagonistin Alexandra, weitgehend frei von Emotionen, die teilweise in Kontrast zu der (subjektiv selektiven) Wahrnehmung ihrer überlebenden Geschwister stehen, halten den Leser auf Distanz; dennoch lassen sie ihn nicht ungerührt. Diese beklemmende, verstörende Geschichte wird allen Leser*innen den Atem rauben; für sensible Menschen ist sie kaum zu ertragen. Dieses Buch geht unter die Haut, man sollte es gelesen haben.