Vorneweg muss gesagt werden, dass die Themen in Der Koffer für den einen oder anderen Leser auch Trigger darstellen könnten, da manche Szenen gewisse Emotionen sehr bildlich und intensiv an den Leser herantragen. Das Buch ist nicht ohne. Es behandelt so einige Themen, die nicht unproblematisch und nicht weniger traumatisch sein könnten. Nicht umsonst ist es erst ab 16 Jahren empfohlen. Bei jemand jüngeren würde ich auch nicht wollen, dass man es „einfach so“ liest.
Und verdammt ja, das macht das Buch zu dem, was es ist. Nämlich eines der besten und bewegendsten Bücher, die ich seit langem gelesen habe. Allein wenn ich an das Buch und einzelne Szenen denke, kommen mir die Tränen oder ich bekomme einen dicken Kloß im Hals. Der Koffer ist ein Buch, was dich als Leser nicht loslässt. Das fängt mit dem Lesen an. Selten lese ich ein Buch mit etwas mehr als 400 Seiten an einem Wochenende durch. Aber hier fiel es mir so leicht. Weil es wirklich gut war. Und ich permanent meine Finger nach dem Buch ausgestreckt habe und es kaum erwarten konnte endlich weiterzulesen.
Klar, das kann man ganz nüchtern und objektiv betrachtet dem sehr flüssigen, wortgewandten und doch klaren Schreibstil der Autorin verdanken. Dass sie es schafft, Worte zu Bildern umzuwandeln, jedem Charakter eine eigene Stimme, eine unverwechselbare Aura zu geben. Dass durch die Perspektivwechsel zwischen Julian und Adam eine dynamische Tiefe in der Geschichte erzielt wird. Man kann auch den Lektoren und den Übersetzern ein Dankeschön zukommen lassen, die diese Geschichte im Feintuning abgerundet haben.
Aber dann ist da noch der nackte Plot. Und der ist jetzt nicht auf Nervenkitzel gepolt oder überraschend. Denn nach den ersten Seiten, nach dem ersten Auftauchen aller Figuren im Buch, weiß man, wo das wohl alles endet. Dass da ein dicker Knall kommt. Und der kommt. Und der pustet deine Emotionen ordentlich durch. Es geht vielmehr darum, dass dieser Plot, diese Geschichte eine bedeutende Geschichte erzählt. Eine Geschichte, die tiefschürfend ist, die grausam ist, die aber auch Hoffnung in den hintersten Winkel deiner Vorstellungskraft aufkeimen lässt.
Der Koffer macht dich fertig. Die Emotionen wechseln zwischen Bedrückung, Trauer, Hoffnung, Witz und Glück und unzähmbare Wut. Oh, diese Wut.
Es ist ganz grausam diese Geschichte zu lesen und nichts tun zu können. Den Figuren dabei zuzusehen, wie sie kleine und große Entscheidungen treffen, die Konsequenzen haben, die ich gar nicht erwähnen mag. Und das absurde ist, dass dich diese Geschichte eben auch so glücklich macht. Mir kullerten nicht selten dicke Tränen das Gesicht runter, während ich stumm lächelte. Es ist eine Achterbahn der Gefühle. So fürchterlich klischeehaft das auch klingt. Das Buch ist es nicht.
Die Charaktere
Julian ist vierzehn und von Seite eins an merkt man ihm einfach an, dass er es nicht leicht hat. Es wäre gemein zu sagen, dass ich ihn bedauere, allerdings war es eben so. Ich konnte mich in ihn zu 100 % hineinversetzen. Julian ist in sich gekehrt, wird von seinen Mitschülern gemobbt und hat eigentlich keinen Platz an dem er sich wirklich zuhause fühlt. Er ist allein. Er ist einsam. Und als wäre das nicht schon genug, hat er eine richtig dicke Niete gezogen, was seinen Vormund angeht. Onkel Russell ist nämlich nach außen hin der erfolgreiche, sehr disziplinierte Kerl, der es ja nur gut mit Julian meint. Ehm. Nein. Dem ist nicht so.
Doch der Zufall, das Schicksal, was auch immer da mitgespielt hat, meint es nach langer Zeit auch endlich mal gut mit Julian. Er begegnet seinem ehemaligen Pflegebruder Adam. Adam ist ein mega Kerl. Und das meine ich zu 1000 %. Er ist all das was Julian braucht. Was jeder in so einer Situation, in der Julian ist, braucht. Adam ist der Balsam, die Seele dieses Buches, die Stimme des Lesers. Er ist für seine 17 Jahre unglaublich gelassen. Wenn ich in seinem Alter so in mir geruht hätte, hätte ich heute wohl die Gelassenheit einer 50-jährigen. Adam lockert die ganze Geschichte mit seinem Wesen auf.
Besonders die Begegnungen zwischen Adam und Julian sind kleine Sonnenscheininseln im Buch. In diesen Situationen erfährt Julian Akzeptanz und Respekt, die er nicht oft erfährt. Adam mag man einfach. Jeder tut das. Alle im Buch. Trotz seiner Hummeln im Popo (er leidet an ADHS). Und im späteren Verlauf spürt man als Leser wie gut Adam die Rolle des großen Bruders steht. Und obwohl die beiden nicht blutsverwandt sind, würde Adam wirklich alles für Julian tun, damit es ihm besser geht (ich bekomme gerade wieder Tränen – es ist irre).
Wie ich schon erwähnt habe, ist Der Koffer eher ruhig. Aber das ist absolut nicht negativ. Denn diese Ruhe ist wohl willkommen. Denn dazwischen liegen ganz viele düstere und bedrückende Szenen und gegen Ende zieht Robin Roe auch spannungstechnisch nochmal an. Was ich persönlich nicht gebraucht hätte. Denn die vielen sehr nahegehenden Szenen sind aufreibend genug für den Leser. Allein das Echo des Buches. Ich hab es jetzt vor fast zwei Wochen ausgelesen und es ist noch alles da. Jede Gefühlsregung.
Ohne groß künftigen Lesern alles vorweg zu nehmen, lässt sich die Geschichte insoweit zusammenfassen, dass es eben um Julian und Adam geht. Beide unterschiedlich in ihren Persönlichkeiten wie Tag und Nacht. Es geht um die unterschiedlichen Facetten ihres Lebens und eine sehr schöne und rührende Verbindung, dieser beiden Leben. Und eben sehr viel Dunkelheit. Entschuldigt, wenn dieser Abschnitt sehr kurz ist, aber jeder sollte seine eigene Erfahrung mit der Geschichte und der Autorin machen. Und ich hoffe, wir bekommen als Leser die Gelegenheit mehr Bücher von der Autorin zu lesen. Denn auch wenn das hier starker Tobak ist, ist das eben die Art von Buch, die mich bis ins Mark erschüttert und die eine unvergleichliche Leseerfahrung mit sich zieht.
FAZIT
Der Koffer von Robin Roe hat mich tief berührt, auf eine ganz besondere Art mitgenommen und wird mir noch lange im Kopf bleiben. Definitiv ein Jahreshighlight. Und so grausam und wunderschön zugleich das Buch auch ist, ich kann es nur jedem empfehlen. Lest es, fühlt es, liebt es.