In Geschichten verstrickt wie in einem Labyrinth
Als 'die Agatha Christie von Zürich' wird die Protagonistin Cressida Kandel im Klappentext des hier zu besprechenden Romans angekündigt. Genaugenommen ist sie eine der sechs Protagonisten, die allesamt ...
Als 'die Agatha Christie von Zürich' wird die Protagonistin Cressida Kandel im Klappentext des hier zu besprechenden Romans angekündigt. Genaugenommen ist sie eine der sechs Protagonisten, die allesamt als Mörder des verwahrlosten, reichlich unsympathischen Erpressers Josef Gruber in Frage kommen, der ausgerechnet im Lesesaal der Zürcher Museumsgesellschaft sein vorzeitiges, doch wohlverdientes Ende gefunden hat.
Cressida Kandel ist, so wissen wir, Krimi-Autorin, ihre Werke jedoch kennen wir nicht. Doch halt! Wir können durchaus auf die Art und Weise schließen, auf die die Dame mit den blauen Haaren (eine Perücke, wie man gegen Ende erfährt, ohne jedoch jemals dahinter zu kommen, warum sie beschlossen hat, blauhaarig durchs Leben zu gehen!) ihre Geschichten verfasst, denn jedem einzelnen der vielen, unterschiedlich langen Kapitel werden jeweils Zitate eines gewissen Wilhelm Schapp vorangestellt, offensichtlich alle aus dem Buch 'In Geschichten verstrickt' stammend. Und besagter Wilhelm Schapp ist, wie man beiläufig irgendwann erfährt, der Detektiv in den von Cressida geschriebenen Kriminalromanen. Nur – was der Mann so von sich gibt erscheint mir wirr und unverständlich, eben genau so, wie der gesamte Roman, der sich ohne rechte Spannung und reichlich sperrig dahinschleppt. 'In Geschichten verstrickt' eben, in solchen freilich, die bis zum Ende weitgehend rätselhaft, unerhellt bleiben! Ein Anklang an Agatha Christie? Beileibe nicht! Die 'Lady of Crime' verstand zu schreiben, Spannung aufzubauen, Charaktere zu entwickeln und in ihre Tiefen, oft genug Untiefen, blicken zu lassen, wie kein anderer. Unnachahmlich, wie jeder weiß, der auch nur die Hälfte ihrer über siebzig 'Whodunnits' gelesen hat.
Sowohl die in 'Mord im Lesesaal' niedergeschriebene Geschichte als auch die sich darin bewegenden Figuren sind weit von allem entfernt, was die englische Lady jemals zu Papier gebracht hat. Die Mördersuche, auf die sich die sechs Verdächtigen holpernd und stolpernd und ohne System begeben und die eigentlich der Polizei obliegt, wenn diese sich denn nach Meldung des Mordes zum Tatort bequemt hätte (Morde scheinen in Zürich keine Priorität zu haben), bringt zwar einige Seltsamkeiten zutage, ist aber in keiner Weise aufregend und schon gar nicht mitreißend geschrieben. Wirklich mehr erfährt man während der Lektüre von den Hobby-Detektiven ohne Begabung für dieses Metier nicht. Sie bleiben flach, konturenlos und an der Oberfläche. Bis zum Ende, das ich weder als überraschend noch als erhellend, der Geschichte eine interessante, schon überhaupt keine verblüffende Wendung gebend, bezeichnen kann.
Dennoch, einen gewissen Witz, eine gelegentliche Situationskomik kann ich dem Roman nicht absprechen. Dafür sorgen vor allem zwei Figuren am Rande: die eine nennt sich Frau Alkippe, unterhält am Limmatquai einen Stand, an dem sie für ihre Schule oder was auch immer wirbt, an der sie Frauen in der Kunst der Selbstverteidigung unterrichtet und von der sie eine Kostprobe – ohne zwingenden Grund – direkt an Ort und Stelle gibt, ohne freilich einen einzigen Treffer bei der unglückseligen Zielperson zu landen. Der andere ist Herr Ambesser, Anarchist vom Dienst, wie er sich selbst bezeichnet, ein Bewohner des Nicht-nur-Altenheims Felix und Regula – auch hier weiß man nicht, warum er sich dieses Domizil, das eine Brutstätte des Verbrechens zu sein scheint, ausgesucht hat. Er wirft mit Räuchermännchen um sich, ist vielleicht nicht ganz richtig im Kopf, vielleicht aber auch der Klügste von allen, der, der den wahren Durchblick hat, und er sorgt auf jeden Fall für den einen oder anderen weiteren unterhaltsamen, gar liebenswürdigen Moment. Ein einziger Sympathieträger? Zu wenig! Man hätte sich ihn als Hauptfigur gewünscht....
Fazit: 'Mord im Lesesaal' hat sicher seine Leser, diejenigen, die mit einem derartigen Krimi etwas anzufangen wissen. Ich hingegen bin dazu nicht in der Lage. Oder, wie die Autorin Cressidas Detektiv Wilhelm Schapp in der Einleitung zu einem der letzten Kapitel sagen lässt: 'Man kann nicht jede Geschichte jedem einträufeln wie eine Medizin. Die Geschichte kann nur eingebaut werden in vorhandene Horizonte.' Mit Betrübnis und beschämt muss ich mir demzufolge eingestehen, dass mein eigener Horizont wohl nicht vorhanden ist....